# taz.de -- Ein Quarantäne-Tagebuch: Das Leben auf Corona Island II | |
> Helene Fischer, Göttinnen und Coronaterroristen suchen unseren Autor in | |
> der Quarantäne heim. Und die Ahnung, dass uns das Schlimmste noch | |
> bevorsteht. | |
Bild: Hoffentlich! Plakat an einem Berliner Balkon | |
Kranzik trägt das Coronavirus in sich, befindet sich in häuslicher | |
Quarantäne und führt darüber Tagebuch. Das Tagebuch ist real, Kranzik ein | |
selbst gewähltes Pseudonym. Heute: Tag 8 bis 14. | |
## Tag 8 | |
Heute bin ich mit Coronakater aufgewacht. Ich kann das Wort nicht mehr | |
hören. Es scheint gar nichts anderes mehr zu geben, Mitglieder | |
verschiedener Religionen beten, das Coronavirus möge nicht zu sehr wüten. | |
Ihr altes Dilemma bleibt: Wenn Gott allmächtig ist, kann er das Virus | |
augenblicklich stoppen. Wäre er auch barmherzig, würde er es tun, und | |
vielleicht sollte er ein paar besonders boshafte Sünder wie Trump, Johnson, | |
Salvini, Orbán und Bolsonaro mit dem Virus geißeln. | |
Stattdessen sterben ganz Unschuldige, wie der bewundernswerte | |
dreiunddreißigjährige chinesische Arzt Li Wenliang, der die Menschheit auf | |
dieses Virus aufmerksam gemacht hat und dafür von der chinesischen | |
Regierung drangsaliert wurde. Ob er wohl zur Strafe von denen, denen er auf | |
die Füße getreten ist, unauffällig ins Jenseits coroniert wurde? | |
Ich fürchte, das Schlimmste kommt noch. Wenn die Welle über die reicheren | |
Länder herübergerollt ist, wird es dort, von wo man heute kaum noch etwas | |
hört, so richtig losgehen. Jemen, Syrien, die Flüchtlingslager, Afrika, | |
Indien... | |
## Tag 9 | |
Mir geht es gut, viel zu gut. Kein Husten, kein Schnupfen, kein Fieber. | |
Meine Freunde rufen mich besorgt an, von weitem ist nicht immer leicht zu | |
beurteilen, wie es den Lieben am anderen Ende der Strippe geht. Ich beginne | |
am Ergebnis meines Tests zu zweifeln. Das Beste meiner Situation, die | |
Sicherheit, vor dem Virus nach ausgestandener Infektion gefeit zu sein, | |
schwimmt mir jetzt davon. Ich werde mich wohl leider weiter vorsehen | |
müssen. | |
Ärzte haben beobachtet, dass Corona oft den Geschmacks- und den Geruchssinn | |
verändert. Mir schmeckt weiter alles gut. Komisch verändert ist allerdings | |
mein Musikgeschmack. Normalerweise höre ich wenig Klassik. Jetzt ertrage | |
ich einen großen Teil der U-Musik nicht. Bei neun von zehn Songs geht es um | |
Liebe oder eher um Liebeskummer. Doch wer möchte schon einen Song hören | |
über ein Thema, das viel trauriger ist als Liebeskummer? Kein Schlager über | |
Gesundheit. | |
Bestenfalls: „Ein Herz ist kein Spielzeug“ oder in Frankreich „Je suis | |
malade!“. Die waren aber gar nicht krank. Helene hatte es geahnt: „Atemlos | |
durch die Nacht!“ Corona, wir hatten nicht nachgedacht, Corona, du hast uns | |
umgebracht. | |
Deshalb wird auch mein neuster Song, „Corona, du kannst mich mal, auch | |
andere Krankheiten sind nicht egal!“, vermutlich die Charts wieder nicht | |
erklimmen, oder etwa doch? Morgen würde ich gern aufwachen, ins Freie | |
treten und feststellen, dass das mit Corona nur ein blöder Alptraum war, | |
und singen: „What a difference a day makes“. | |
## Tag 10 | |
„Deka meron“, zehn Tage, während derer sich junge wohlhabende | |
florentinische Pestflüchtlinge verkrochen und sich Geschichten erzählten, | |
über die Giovanni Boccaccio schrieb. Weltliteratur! Stattdessen fangen | |
vormals geneigte Leserinnen und Leser sich bei der Lektüre meines Tagebuchs | |
wahrscheinlich zu langweilen an. | |
In der Isolationseinsamkeit verblöde ich langsam. Unnützes Wissen, Anagramm | |
von Corona: Anoroc. Klingt wie das Inuit-Wort „Anorak“, was bedeuten soll: | |
„etwas gegen den Wind“. Brauche ich gerade nicht. Ich träume lieber von | |
Bikini: In der Sprache der pazifischen Ureinwohner bedeutet Bikini: „das | |
Land der vielen Kokosnüsse“. Und viele pazifische Ureinwohner träumen, dass | |
coronafreie Touristen wiederkommen, damit sie ihren Lebensunterhalt wieder | |
verdienen können. | |
Ich träume von einem Dreihundertsechzig-Grad-Rundum-und-nach-oben-Blick mit | |
nur Himmel und drunter etwas Horizont. Das wäre mir erst mal schon genug. | |
## Tag 11 | |
Ich habe geträumt, ich sei ein Coronaterrorist. Ich suche jeden heim, den | |
ich nicht mag, und huste ihm direkt zwischen die Augen, in Nase und in den | |
vor Schreck geöffneten Mund! Das muss wegen der Musik sein, die ich seit | |
einer Weile höre, Penderecki hat für „Shining“ Musik geschrieben. Ich | |
sollte lieber wieder Schnulzen hören. | |
Alle reden von den schlimmen ökonomischen Folgen von Corona. Besonders wird | |
ein Börsencrash befürchtet. Ich als Nicht-Ökonom denke bei mir: Schließt | |
die Börse ganz, habt ihr doch bei Nine-Eleven auch gemacht! Schickt die | |
Börse nicht ins elektronische Homeoffice, schickt sie ganz in Quarantäne! | |
Das sind Gedanken eines Nicht-Ökonomen, ich gebe meine Unwissenheit zu, | |
aber wer versteht die denn noch heutzutage... | |
Manche Länder, und nicht einmal die ärmsten, wollen sich über | |
„Herdenimmunität“ durchjonglieren. Die Schulen bleiben offen, die alten | |
Menschen werden weggeschlossen. Die Bevölkerung traut dem Braten mehr oder | |
weniger. Bis sich bestätigt, was Chinesen und Italiener schon lange wissen: | |
Manchmal trifft Schnitter Corona auch junge Menschen. Und nicht wenige | |
jüngere Menschen müssen ebenfalls beatmet werden, auch wenn sie am Ende | |
überleben. Und dann müssen die armen Ärztinnen und Ärzte zusehen, wie die | |
Alten einsam ersticken, weil es für sie keinen Beatmungsplatz mehr gibt. | |
Die Wirtschaft gerettet, zu welchem Preis? Bisher gibt es kein richtiges | |
Rezept. Andererseits, die Menschheit hat viel schlimmere Katastrophen | |
überstanden. | |
Manchmal, wie aus der Wirtschaftskrise 1929, haben wir Menschen aus | |
Katastrophen später etwas noch Schlimmeres gebastelt, wie den | |
Nationalsozialismus. Das darf diesmal bitte nicht passieren! | |
## Tag 12 | |
Die Seuche war vorhersehbar. Die nächste Seuche kommt bestimmt. In den | |
Achtzigern Aids. Die Afrikaner gaben der damals neuen Krankheit einen | |
besonderen Namen: „Slim Disease“. Weil die erste Infektion, die von der | |
Immunschwäche bei Aids in Afrika profitiert, die Tuberkulose ist, hatte die | |
Medizin „Slim Disease“ in Afrika nicht von der „Schwindsucht“, deutsches | |
Wort für Tuberkulose, unterschieden. | |
„How to lie with statistics“, ein heute besonders lesenswertes Buch. Wer | |
weniger testet, hat weniger Fälle, so einfach. Weltweit sind wohl | |
hundertmal mehr Menschen infiziert als in der Statistik auftauchen. Die | |
Gefährlichkeit des Coronavirus erlaubt es einerseits nicht, wie bei der | |
Schweinegrippe, die Sache schleifen zu lassen, zumal es damals gegen | |
Letztere früh einen Impfstoff gab. | |
Andererseits war es leichter, die noch böseren Schwestern Sars und Mers | |
einzudämmen, weil bei Letzteren Infizierte immer auch sehr krank und daher | |
leicht zu erkennen sind. Nassim Nicholas Taleb erklärt, dass unsere | |
Gesellschaften vom Wahn der Voraussage mittels Statistik verblendet sei. | |
Statistik, fast schon eine Religion oder eher Wahrsagerei? Wenn wir immer | |
nur weiße Schwäne sehen, folgern wir: „Ein Schwan ist weiß.“ Alle Maßna… | |
werden aufgrund von Vorhersagen getroffen, die auf Statistik beruhen, | |
beispielsweise die Einführung des Anschnallgurts im Straßenverkehr, mit | |
Erfolg! Bis ein schwarzer Schwan vorbeikommt. | |
## Tag 13 | |
Tag dreizehn, Tag der Frau! Endspurt! Warum ist Freitag der dreizehnte | |
angeblich ein Unglückstag? Na, weil er der Tag der Frau ist! Warum Freitag | |
der dreizehnte? Nun, wie viele Menstruationen hat eine Frau normalerweise | |
im Jahr? Die Göttinnen waren meistens mit der Erde als fruchtbarem Acker | |
und Quell des Lebens, aber auch mit den Gezeiten und Mondphasen assoziiert. | |
Ackerbaugesellschaften mussten aber alle drei bis vier Jahre das Mondjahr | |
und das Sonnenjahr in Einklang bringen. Dazu diente die in Nebra gefundene | |
Himmelsscheibe. Für das arme Mannsbild,das von diabolischen weiblichen | |
Wesen, angefangen bei Eva, immer wieder zur Sünde angestachelt wurde, waren | |
dreizehn Mondphasen, daher der Name Monat und Monatsblutung, weiblich, also | |
teuflisch. Das strahlende, herrliche Sonnenjahr gegen das weibliche, | |
dämliche Mondjahr! Zwölf statt dreizehn Monate! Daher hieß die Zahl | |
dreizehn auch „Teufelsdutzend“. | |
Im Unterschied zu anderen Sprachen ist das Geschlecht im Deutschen | |
interessanterweise anders herum: die Sonne, der Mond. Schon der alte | |
römische Schriftsteller Tacitus bemerkte, die Germanen würden zu sehr auf | |
ihre Frauen hören... | |
Und Freitag hat man nicht frei, sondern es handelt sich um den Tag der | |
Venus (französisch „vendredi“). Als die pragmatischen alten Römer, die die | |
Götter anderer Völker Götter sein ließen, in Germanien den Kalender | |
einführten, suchten sie nach einer Entsprechung für ihre Venus am | |
germanischen Götterhimmel: Na klar, die schöne Göttin Freya! Daher Freitag, | |
Tag der Freya. Also Mädels, lasst uns Freitag den dreizehnten ordentlich | |
feiern! Fridays for Future! Virtuell natürlich... Und das perfide Virus hat | |
es natürlich vor allem auf die armen Männer abgesehen! „Quoad erat | |
demonstrandum!“, hätte mein alter Lateinlehrer ausgerufen (übersetzt: „War | |
ja klar!“). | |
## Tag 14 | |
Ich sehe ein Dämmerlicht am Ende meines Vierzehntagestunnels, kein | |
strahlendes Leuchten. Aber vielleicht will ich ja gar nicht mehr hier raus? | |
Hab mich so an die Entschleunigung gewöhnt. Morgens halb sieben früh | |
aufstehen und arbeiten? Eine aktuelle Statistik: Im Durchschnitt verkürzt | |
jede Stunde Arbeitszeit das Leben um sechzig Minuten! | |
Außenwelt, ich komme wieder! Die Sonne blendet mich. Die Beine wacklig wie | |
die eines Raumfahrers nach der Landung. Ihr bleibt so seltsam auf Abstand? | |
Habt ihr mich denn nicht mehr lieb? | |
Narben wird dieses Virus in unserer Welt hinterlassen, Menschen die | |
Lebensgrundlage entziehen und wahrscheinlich in veränderter Form irgendwann | |
wiederkommen. Vielleicht bringt es aber auch Chancen, mehr Nachdenken über | |
die wichtigen Dinge des Lebens. Die Pest hatte die Menschen aus der | |
jahrhundertelangen fatalistischen Grundhaltung in die Renaissance | |
befördert. | |
Corona wird uns vielleicht von dem „Wachstum auf Teufel komm raus“-Zwang | |
befreien. Der Umwelt hat es gut getan und vielleicht kann man die Welt auch | |
ohne Zwang, sondern aus freiem Willen entschleunigen und uns Menschen aus | |
dem ökonomischen Hamsterrad befreien, das uns in den letzten Jahrzehnten | |
als Allheilmittel gepredigt wurde. | |
[1][Hier] steht Teil I des Corona-Tagebuchs. | |
13 Apr 2020 | |
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