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# taz.de -- Dorf in Bayern: Wo Corona weit weg scheint
> Die Straße ist dicht. Im oberbayerischen Griesen kann man wieder das
> Rauschen der Wildflüsse hören. Das Virus ist weit weg – oder doch nicht?
Bild: Kein Zug kommt: Der Bahnhof von Griesen ist wegen der Corona-Krise außer…
GRIESEN taz | Neuerdings können die Bewohner von Griesen den Postboten
hören, bevor er um die Kurve am stillgelegten Bahnhof fährt. Kurz vor 12
Uhr rauscht das Geräusch der Reifen auf dem Asphalt heran, steht in der
Alpenluft über dem Tal, während der Briefträger auf der zwei Kilometer
langen Geraden vor dem Dorf heranbraust. Ab der Kurve tönt es lauter, und
dann ist der gelbe Transporter schon in Sicht. Trari, trara, die Post ist
da, doch in Griesen singt niemand.
Die 55 Einwohner bleiben in ihren Wohnungen, Häusern und in den Gärten.
Oder sind es 57 Menschen, die zwischen Bahnhof und Kapelle Mariä
Heimsuchung am Waldrand wohnen? Die Familie, die in der alpenländisch
anmutenden Villa am Dorfeingang wohnt, hat die nun fünf oder sieben Kinder?
Drei Mobilfunkantennen ragen auf dem Dach empor, so viel steht fest. Sie
verbinden den Ort mit dem Rest der Welt.
Die Welt und das Virus bleiben draußen, seitdem rot-weiß-gestreifte
Metallbarrieren auf der Bundesstraße die Staatsgrenze von Deutschland und
Österreich markieren und jeden Verkehr unmöglich machen. Ganz früher gab es
hier Zoll- und Passkontrollen, wie ein verblichenes Schild auf dem Hof
hinter dem zweistöckigen Grenzerhaus aus den 1920er Jahren zeigt.
In den Mietshäusern auf der anderen Straßenseite haben damals die
Forstarbeiter gelebt, immer sechs Familien in einem Haus, heute sind dort
beliebte und bezahlbare Wohnungen für Krankenschwestern, Handwerker und
andere Menschen entstanden, die sich in Garmisch nix mehr leisten können
und gern in der Natur wohnen.
Mitten durch den Ort läuft die Bundesstraße 23, die, versehen mit
Mittelstreifen, aber ohne eine Randbefestigung, in Kurven entlang der
Loisach und der eingleisigen Bahnstrecke durch das Tal von
Garmisch-Partenkirchen nach Ehrwald in Tirol führt. Der Wald reicht bis an
den Straßenrand, manchmal äst ein Rothirsch neben der Straße. Die Loisach
rauscht über Steine, Felsen und Stromschnellen durch das Tal und verhindert
bislang, dass die Straße ausgebaut wird.
„Hochwasser, Schneekatastrophe – wir haben hier schon so viel erlebt“, sa…
Gaby Hasenpflug und winkt ab. „Ich bin in dem Alter, da mache ich mir nicht
mehr viele Sorgen.“ Hasenpflug fährt nachts Taxi in Garmisch-Partenkirchen.
Seit 1997 lebt sie in Griesen, davor hat sie als Lastwagenfahrerin in
München gearbeitet. „Wenn man hier wohnt, ändert sich nicht viel“, sagt
sie, ob nun eine Ausgangsbeschränkung herrsche oder nicht. Sie hat ihr Buch
fertig geschrieben, einen Abenteuerroman, und macht nun, was sie auch an
anderen Tagen im Frühling macht. Die Raben beobachten, Gimpel, Meisen,
Amseln, Elstern füttern, die Sonne genießen. Und die Buchhaltung neu
sortieren. „Ich vermisse nichts, sonst dürfte ich hier nicht wohnen.“
Die Corona-Grenze mit den rot-weißen Schildern und Plastikbändern steht
einen Kilometer hinter Griesen. Links eine Weide, rechts der Wald, der
schon zu Österreich gehört. 90 Kilometer sind es von dort bis Ischgl, dem
Tiroler Ski-Ballermann, von dem aus Touristen das Virus in halb Europa
verbreitetet haben. Viele von denen, die mit ihnen Autos nach Deutschland
zurückfuhren, kamen vermutlich durch Griesen, damals, als es auf der Straße
noch Verkehr gab. „Sie kommen aus I, A, CH – Achtung bitte 2 Wochen zu
Hause bleiben“, blinkte ihnen ab Samstag, den 14. März auf einer
elektronischen Anzeigentafel am Straßenrand in Griesen entgegen. Die
Straßenwacht hatte die mobile Anlage über Nacht vor dem Kiosk
„Grenzstüberl“ aufgestellt, der nun geschlossen hat. Keine Speckknödel me…
für Reisende und Nachbarn.
Ein paar Tage lang kontrollierten Polizisten noch, wer hindurchwollte. Erst
standen sie auf der Staatsgrenze zwischen den Fichten, dann schlugen sie
ein Zelt auf der Brücke über die Neidernach am Ortsausgang auf, kurz bevor
der Fluss in die Loisach mündet. Minus neun Grad hatte es da in der Nacht.
Jetzt kommen die Polizisten manchmal morgens und abends um sechs, wenn die
Grenze jeweils für zwei Stunden für die Pendler und Lastwagen geöffnet ist.
Ansonsten ist das hier eine Sackgasse geworden. Ab und zu schlängelt sich
ein Transporter oder auch mal eine Limousine über den Radweg durch den
Wald. Der Zugverkehr ist eingestellt. Es herrscht Ruhe.
„Wir leben hier wie auf einer Insel“, sagt Andreas Cellbrot, früher 20
Jahre lang Rechtsanwalt in Frankfurt am Main, seit 2003 Künstler in Griesen
an der Neidernach. Er wohnt mit Sabina Cellbrot, deren Namen er bei der
Heirat angenommen hat, in dem alten Forsthaus. Wo früher die Amtsstube war,
haben die beiden die Küche eingerichtet, wo der Förster einen Garten hatte,
hat Andreas Cellbrot eine sibirische Schwitzhütte und einen hölzernen Raum
in Form einer Jurte gebaut.
Seine Frau gibt dort Seminare. In der ersten Woche seit der
Ausgangsbeschränkung am 22. März hatte er endlich die Zeit gefunden, um den
Totempfahl aus Lärchenholz fertig zu schnitzen und aufzustellen, erzählt
Cellbrot. In seiner Werkstatt baumelt ein geblümter Sessel an Seilen von
der Decke. „Mein Swingchair“, sagt er, setzt sich hinein, greift ein von
einem Deckenbalken baumelndes Seil und schaukelt. „Hier kann man denken,
abschalten, meditieren.“
„Kayruna Rainbow Village“ steht auf einem handgemalten Schild neben der
Eingangstür. Als „Heilerhaus“ ist das rot gestrichene Gebäude in der Gege…
bekannt. Sabina Cellbrot gibt Seminare, in denen sie die TeilnehmerInnen
zum Fasten in den Wald schickt. Oder sie gehen hinten aus dem alten
Förstergarten hinaus an die Neidernach und baden im eiskalten Wasser. Die
Seminare bis Mai hat Cellbrot abgesagt, aber die würden nachgeholt. Sie sei
ganz froh, dass ihr übervoller Kalender nun leer sei. Sie schreibt ein Buch
über Selbstheilungskräfte und ist dank der Seminarpause fast fertig. „Ich
empfinde Corona als Lehrer, aber nicht als Gefahr“, sagt Sabina Cellbrot.
„Es geht darum, umzudenken, so wie Greta das uns das ganze Jahr über gesagt
hat.“
## Jetzt sind die Flüsse hören
Kiesel, Steine und vom Wasser geschliffene Baumstämme liegen im 200, 300
Meter breiten Bett der Neidernach, durch das der Fluss mäandert. Regnet es
einen Tag lang, fließt das Wasser über die sonst trocken liegenden
Sandbänke. Nach drei Tagen Regen rauscht der Fluss durch das ganze Tal. Von
Tirol strömt die Loisach heran. Das Rauschen der beiden Wildflüsse dringt
in den Ort. Seitdem keine Autos mehr fahren, hören die Griesener die Flüsse
auch am Tag.
Auch im Landkreis Garmisch-Partenkirchen steigt die Zahl der mit dem
Coronavirus Infizierten. Am Donnerstag letzter Woche waren es erst 60, am
Sonntag dann 86 Menschen, an diesem Dienstag meldeten die Behörden schon
115 Infizierte. Im plötzlich so abgeschiedenen Griesen ist dagegen niemand
infiziert oder erkrankt, soweit bekannt.
Deshalb helfen sich die Menschen jetzt gegenseitig. Wenn jemand in das 14
Kilometer entfernte Garmisch-Partenkirchen fährt, fragt er oder sie die
Nachbarn, ob sie etwas benötigen, Ingwer, Toilettenpapier, einen Beutel
Bio-Karotten, ein Buch. Die alte Frau Wagner wird ohnehin von ihrer Tochter
im Haus gegenüber versorgt, um den alten Meier kümmert sich Katrin, aber
das macht sie schon immer. Aus dem Haus ging Herr Meier schon vor Corona
nicht. Ein Comic mit einem nackten Hintern hängt an seiner Wohnungstür und
zeigt jedem, was er von ihnen hält.
Die beiden Mädchen aus den Nachbarhäusern fahren auf rosa Fahrrädern jetzt
bis an den Fluss. Überhaupt schallt jetzt bei Sonnenschein das Rufen der
Kinder vom Fluss. Sie bauen Skulpturen aus Steinen, schichten Treibholz,
machen ihr Ding. Wer von den Älteren ein Mountainbike hat, saust die
Forstwege herab.
## Virus kommt doch in den Alltag
„Uns geht es hier deutlich besser als in Garmisch“, sagt Jutta Bauer (Name
geändert). „Hier hat man einen Freiraum.“ Der kleine Garten vor der
Küchentür, hinterm Haus der Wald. „Aber mir fehlt der persönliche Kontakt
mit Freunden“, sagt Bauer zwischen Grill und Gartentisch auf der Terrasse.
Seit zwei Jahren wohnen sie und ihr Mann in Griesen, vor sieben Monaten hat
Jutta Bauer ihren Sohn zur Welt gebracht. Sie ist Krankenschwester im
Krankenhaus von Garmisch, ihr Mann ist Handwerker und wurde in Kurzarbeit
geschickt. Bauer arbeitet in Teilzeit, weil sie ihre Elternzeit über zwei
Jahre ausdehnen möchte. „Ein paar Wochen bekommen wir das hin“, sagt Bauer
und meint das mit dem Geld.
Bauer sorgt sich vor allem, dass sie trotz aller Vorsicht das Virus nicht
mit ins Haus bringt. Desinfektion, Abstandhalten, Schutzkleidung, das
gehöre alles zum Beruf. Aber sie arbeite in der Geriatrie, da könne sie
keinen Abstand zu den Alten halten. Und sie bedauert, dass ihr Kind nun
ganz ohne Gleichaltrige aufwachsen muss. „Ich wollte mit meinem Sohn zum
Babyschwimmen gehen und mich mit den Müttern aus der Schwangerengruppe
treffen, damit die Kleinen miteinander tollen“, sagt Bauer, die Hände tief
in den Taschen ihres Mantels. „Das hatte man sich alles anders
vorgestellt.“
1 Apr 2020
## AUTOREN
Ulrike Fokken
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