| # taz.de -- Grenzkontrollen und die Coronakrise: Die Abgegrenzten | |
| > Scheibenhardt ist deutsch. Scheibenhard liegt in Frankreich. Von der | |
| > Grenze sprach kaum noch jemand – bis das Virus kam. | |
| Bild: Endlich wieder offen: die deutsch-französische Grenze in Scheibenhardt m… | |
| Die Kette, die wochenlang [1][Scheibenhardt] von [2][Scheibenhard] getrennt | |
| hat, ist irgendwann im Mai verschwunden. Rot-weiß und aus Plastik hing sie | |
| quer über der Lauterbrücke. Bald zierten Kinderzeichnungen und | |
| europafreundliche Botschaften dieses unfreundliche Zeichen der neuen | |
| Nationalstaaterei. In unbeobachteten Momenten duckten sich die | |
| Scheibenhard(t)er von beiden Seiten einfach drunter durch, so als wäre die | |
| Grenzschließung nur ein absurder Akt, der ihnen da von Politikern im fernen | |
| Paris und Berlin abverlangt wird. | |
| Dann war die Kette plötzlich weg. „Es hat sie jemand geklaut“, erzählt Ka… | |
| Heinz Benz. „Gut so“, entfährt es Francis Joerger und er grinst | |
| spitzbübisch. Benz ist Stadtrat im deutschen Scheibenhardt, Joerger war bis | |
| vor wenigen Wochen Bürgermeister im französischen Scheibenhard, hier am | |
| Südzipfel von Rheinland-Pfalz. Die beiden kennen sich aus ihren gemeinsamen | |
| Zeiten bei den französischen Sozialisten, sie wollten Europa immer leben, | |
| waren nie sehr zufrieden mit dem Zustand der deutsch-französischen | |
| Freundschaft. „Ein guter Europäer ist einer, der immer unzufrieden ist“, | |
| sagt Joerger. | |
| Unzufrieden ist ein viel zu schwacher Ausdruck für das, was sie in den | |
| letzten Monaten gefühlt haben. Benz und Joerger sind sich einig: Wenn die | |
| deutsch-französische Freundschaft am Rhein und in der Pfalz das | |
| Schaufenster Europas ist, dann muss dieses Fenster nach den Coronawochen | |
| gründlich renoviert werden. | |
| ## Ein bisschen Feiern zur Wiedervereinigung | |
| Jetzt am 15. Juni ist der Weg von Scheibenhardt nach Scheibenhard wieder | |
| ganz frei, der kleine [3][Grenzverkehr fließt] am Montagmorgen ungestört, | |
| auch wenn die Bäckerei direkt am Übergang noch ein schleppendes Geschäft | |
| verzeichnet. Das alte Leben ohne Grenze kommt nur langsam wieder zurück, am | |
| Abend wird ein bisschen gefeiert. Wenn es dunkel wird, flimmern dort, wo | |
| bis vor Kurzem die Kette hing, schwarz-weiße Bilder von der Unterzeichnung | |
| des Élysée-Vertrags und den Verträgen von Rom über eine Großleinwand. Die | |
| Europa-Union Rheinland-Pfalz lädt zur Multi-Media-Show unter dem etwas | |
| luftigen Motto „Open Air@Open Borders“. | |
| Da wird dann wieder viel von der Überwindung der historischen | |
| Erbfeindschaft die Rede sein, vom Friedensprojekt Europa und dem Ende des | |
| Nationalismus. Es wird also dieser europäische Geist beschworen, den die | |
| Politiker in Berlin, Paris und anderswo angesichts Corona so unglaublich | |
| schnell wieder in die nationale Flasche gestopft hatten. Finanzhilfen und | |
| medizinische Versorgung gab es erst einmal jeweils nur für die eigenen | |
| Leute. Von Brüssel war wochenlang nichts zu hören, an jeder europäischen | |
| Grenze galten andere Regeln. | |
| Was lange gefördert wurde, dass nämlich Regionen über nationale Grenzen und | |
| Sprachbarrieren hinaus zusammenwachsen, das war plötzlich verboten. Europa | |
| sei beschädigt worden, sagen Bürgermeister und Landräte auf beiden Seiten | |
| des Rheins unisono. Sie schrieben zum Höhepunkt der Krise einen Brief an | |
| den bundesdeutschen Innenminister Horst Seehofer: „Was diese Grenzgänger in | |
| den letzten Wochen erleben, ist geeignet, nachhaltigen Schaden in unseren | |
| Beziehungen hervorzurufen.“ | |
| „Ich habe den Brief nicht unterzeichnet“, sagt Francis Joerger, „er war m… | |
| zu diplomatisch formuliert.“ Man kann sich nur ausmalen, was der damals | |
| noch amtierende Bürgermeister vom französischen Scheibenhard dem Minister | |
| geschrieben hätte. Joerger kennt die Klagen der Berufspendler, hat sich mit | |
| ihnen über die stundenlangen Staus an den wenigen offenen Übergängen | |
| geärgert. Er schüttelt den Kopf über die strengen Kontrollen, bei denen | |
| auch der Zustand von Reifenprofil und TÜV-Plakette für die Grenzpolizisten | |
| plötzlich interessant war. Keiner habe auch nur einmal nachgefragt, wie | |
| sich diese Maßnahmen auf die Region auswirken könnten. „Ich glaube, die | |
| Politik unterschätzt, was sie hier vor Ort anrichtet“, sagt Francis | |
| Joerger. | |
| Aber das kennt man hier schon länger. | |
| Mit Entscheidungen der Mächtigen an einem fernen grünen Tisch haben sie in | |
| Scheibenhard, France und Scheibenhardt, Deutschland so ihre Erfahrungen. | |
| 1815 zog der [4][Wiener Kongress] die Grenze zwischen der Südpfalz und | |
| Frankreich einfach entlang des Flüsschens Lauter und teilte damit das | |
| Dörfchen in der Mitte. Die Kriege zwischen Frankreich und Deutschland | |
| verschoben diese Linie immer mal wieder, die Scheibenhardter auf beiden | |
| Seiten pflegten aber unabhängig von der politischen Großwetterlage auch | |
| über Schmuggelrouten durch den Bienwald grenzüberschreitende Kontakte. | |
| ## Eine willkürlich gezogene Grenzlinie von 1815 | |
| Lange besuchte man die gleiche Kirche, viele Familien lebten dies- und | |
| jenseits der Grenze. Die Zöllner wohnten am Ort und kannten ihre | |
| Scheibenhard(t)er. Der Grenzübergang war wohl nie die härteste Tür an der | |
| deutsch-französischen Grenze. Was die Bewohner ihres Ortes mit so viel | |
| Grenzerfahrungen außerdem zusammenhielt war „Scheiwda“, die gemeinsame | |
| Mundart. | |
| So feierten die Scheibenhard(t)er dann in der Silvesternacht auf 1993 ein | |
| großes gemeinsame Volksfest, als das Schengen-Abkommen in Kraft trat und | |
| Schranken und Grenzhäuschen abschaffte. Seitdem gibt es einen gemeinsamen | |
| Neujahrsempfang der Bürgermeister, gemeinsame Konzerte und Ausstellungen. | |
| Höhepunkt ist jedes Jahr im Juni das Lauterbrückenfest. Und seit ein paar | |
| Jahren existiert auch ein zweisprachiges Gemeindeblättchen, in dem auch | |
| Benz und Joerger schreiben. | |
| Die rot-weißen Schranken von damals haben sie auf der deutschen Seite | |
| stehen gelassen, als Mahnmal, aber aus der einstigen Zollstation ist ein | |
| Wohnhaus geworden, in dem ausgerechnet ein ehemaliger Grenzbeamter lebt. | |
| Politiker aus Paris und Berlin nehmen seitdem die Lauterbrücke gerne als | |
| Kulisse, um Sonntagsreden über Europa zu halten. Zuletzt der SPD-Mann | |
| Martin Schulz vor der Europawahl. Hier hat er sein leidenschaftliches | |
| Plädoyer gegen Nationalismus und für ein vereintes Europa gehalten. | |
| ## Erst gelobt, dann plötzlich verboten | |
| Aber als dann am 16. März dieses Jahres die Grenze plötzlich wieder zuging, | |
| habe sich keiner von denen aus den Hauptstädten gemeldet, sagt Edwin | |
| Diesel. „Plötzlich stand die Barriere da.“ Diesel ist Bürgermeister auf d… | |
| deutschen Seite, ein ehemaliger Berufssoldat mit grauem Schnurrbart. Seit | |
| 20 Jahren leitet er die Geschicke der kleinen Gemeinde ehrenamtlich. Er | |
| kann viele Geschichten darüber erzählen, wie es war, als plötzlich verboten | |
| wurde, was Politiker kurz vorher noch gelobt und gefördert hatten. 350 Euro | |
| Strafe habe es gekostet, wenn man als Franzose beim Einkaufen im Penny | |
| erwischt worden ist. Nicht einmal die französischen Mitarbeiter beim | |
| Discounter durften nach Feierabend dort noch ein paar Lebensmittel | |
| mitnehmen und damit über die Grenze. Diesel schüttelt unwillig den Kopf. | |
| Was ist das für eine Politik, wenn Regelungen vollkommen unklar bleiben und | |
| das offenbar auch so gewollt ist? „Triftige Gründe“ musste man haben, um | |
| passieren zu dürfen. Aber was heißt das schon, wenn die Beamten selbst | |
| entscheiden können, was ein solcher Grund ist und was nicht. Dass der | |
| Einkauft beim Bäcker Minzbrück gleich bei der Brücke keiner ist, kann | |
| Diesel gerade noch verstehen, aber dass ein getrenntlebender Vater seine | |
| Kinder nicht mehr sehen darf, weil seine Familie drüben im französischen | |
| Teil lebt, wer bitte soll das einsehen? | |
| Mittagszeit an der Lauterbrücke Anfang Juni. Ein Wagen des | |
| Bundesgrenzschutz hält, fünf Beamte in Warnweste und Mundschutz steigen | |
| aus. Routiniert stellen sie sich auf die Fahrbahn und stoppen die | |
| Fahrzeuge, die nach Deutschland einreisen wollen. Wo geht es hin aus | |
| welchem Grund? Die Beamten sind freundlich aber hartnäckig. Passierscheine | |
| werden gezeigt, einige der Autos müssen umkehren, zahlen muss offenbar | |
| niemand. | |
| Der Trupp vom Grenzschutz versieht normalerweise am Frankfurter Flughafen | |
| Dienst. Dort gibt es nichts zu tun, deshalb sind sie in die Südpfalz | |
| abgeordnet worden. Eine willkommene Abwechslung für die Beamten, aber | |
| gerade die Abordnungen gelten an der Grenze als besonders streng. Diesen | |
| Eindruck versucht der Einsatzleiter entgegenzuwirken. Es gehe darum, den | |
| kleinen Grenzverkehr zu bremsen, sagt er, nur Wiederholungstäter hätten | |
| eine Geldstrafe zu befürchten und ja, gibt der Beamte zu, ihre Aufgabe sei | |
| es auch, die Fahrtüchtigkeit der Autos zu prüfen, oder abgelaufene | |
| Ausweispapiere zurückzuweisen. Und da gebe es einige Erfahrungen bei der | |
| Kontrolle, die nationale Klischees bestätigen, sagt der Mann etwas | |
| verklausuliert. | |
| Die Franzosen also, mit ihren Rostlauben und abgelaufenen Ausweisen. Auf | |
| der anderen Seite die strammen deutschen Grenzbeamten, die sie mit kühlem | |
| Blick zurückweisen. In Scheibenhardt konnte man sehen, wie mit den Grenzen | |
| auch wieder die alten Klischees und Nationalismen hochkommen. Hier erzählen | |
| sie sich von deutschen Anfeindungen und Pöbeleien gegen Franzosen. Und | |
| Francis Joerger ärgert sich darüber, dass deutsche Politiker jetzt auch | |
| noch allzu sehr betonen müssen, wie viel besser sie die Coronakrise | |
| gemanagt hätten. | |
| Die alten Empfindlichkeiten und Zerrbilder sind wieder da und werden von so | |
| manchem Politiker bedient. Da ist der Bürgermeister von Lauterbourg auf der | |
| französischen Seite, der die Krise dazu benutzt hat, um am rechten Rand zu | |
| fischen. Das Virus komme aus Deutschland, verbreitet er noch Mitte März | |
| über Facebook. Francis Joerger schüttelt da nur den Kopf, der Nationalismus | |
| sei das eigentliche Gift: „Das Schlimmste ist, dass man den Rechten | |
| gezeigt hat, dass es ohne Probleme möglich ist, die Grenzen zu schließen.“ | |
| „Nein, ich bin nicht zufrieden mit eurem Seehofer“, sagt eine ältere Frau | |
| im französischen Scheibenhard und bietet uns trotzdem ein paar selbst | |
| gepflückte Erdbeeren an. Sie kennt den Ort in zwei Ländern mit und ohne | |
| Grenze. Josiane Staufert lebt seit 63 Jahren im Haus ihrer Eltern, ihr | |
| Vater war nach dem Krieg der einzige Bürgermeister, der beide | |
| Scheibenhard(t)s regiert hat. | |
| 1945 war das, als der Südwesten Deutschlands unter französischer Besatzung | |
| stand. Bis 1993 sei die Grenze tags kontrolliert und nachts geschlossen | |
| gewesen. Nicht sehr schön, aber was in den letzten Wochen passiert sei, das | |
| fände sie geradezu absurd, sagt Frau Staufert. Ein Virus übertrage sich | |
| doch von Mensch zu Mensch und nicht von Staat zu Staat. Und die | |
| Gefahrenzone um Colmar im Elsass sei von hier hundert Kilometer entfernt | |
| gewesen. | |
| Josefine Staufert hat ihre eigenen Grenzerfahrungen. Die Lehrerin besitzt | |
| auf der deutschen Seite ein Stück Land. Um dort hinzugelangen, musste sie | |
| in den Coronawochen erst einmal einen Passierschein beantragen. Das Grab | |
| eines Freundes zu besuchen, sei ihr damit aber nicht erlaubt worden. | |
| „Wobei“, sagt Staufert, sie sei überrascht gewesen, dass die deutschen | |
| Zöllner „gar nicht mal so stur gewesen sind“. Etwa, als sie sich im | |
| benachbarten Lauterburg Zigaretten kaufen wollte und ihr der Verkäufer die | |
| Stange über die Grenze reichte, mit Mundschutz versteht sich. Das hätten | |
| die Grenzer akzeptiert. | |
| Das ist die Art, wie sie hier gern die Grenzkonflikte lösen, mit | |
| menschlichem Maß eben. Denn es ist ja nicht so, dass früher mit der | |
| Freundschaft dies- und jenseits der Lauter alles in Butter gewesen wäre. | |
| Nach dem Ende der Grenzkontrollen waren sie in den 1990er Jahren auf der | |
| Suche nach einem gemeinsamen Leuchtturm-Projekt. Die beiden Gemeinden | |
| entschieden sich dafür, einen gemeinsamen Kindergarten auf die Beine | |
| stellen zu wollen. Was könnte die Grenzen besser verwischen, als wenn die | |
| Kleinsten zusammen spielen und die Sprache der anderen lernen? Fragt man | |
| auf der französischen Seite, warum daraus nichts geworden ist, heißt es, | |
| die Deutschen seien zu ungeduldig gewesen. Erwin Diesel auf der deutschen | |
| Seite sagt dagegen, das Projekt wäre erst einmal durch die Mühlen der | |
| zentralistischen Pariser Bürokratie gedreht worden. | |
| Man kann wohl sagen, dass die grenzüberschreitende Freundschaft im letzten | |
| Jahrzehnt etwas an Schwung verloren hat, auch wenn die einen ihren Fisch | |
| und frische Artischocken gern in Frankreich kaufen und die andern täglich | |
| über die Grenze zur Arbeit fahren. Die Jungen in Frankreich sprächen immer | |
| seltener Deutsch, und die Scheibenhardter in der Pfalz seltener | |
| Französisch, heißt es auf beiden Seiten. Die gemeinsame Mundart sei auch | |
| auf dem Rückzug. Seine Enkel, sagt Francis Joerger, kenne keine deutschen | |
| Kinder mehr. Daran kann man dem Coronalockdown nicht die Schuld geben, eher | |
| schon der Politik, die den grenzüberschreitenden Sprachunterricht nie | |
| konsequent verfolgt habe. Und auch die Scheibenhard(t)er beider | |
| Nationalitäten haben wohl ihren Anteil. | |
| Corona als Zäsur, um danach manches anders zu machen. Das ist ja so eine | |
| Hoffnung, die jetzt immer mal wieder geäußert wird. Das könnte auch für die | |
| grenzüberschreitende Freundschaft in dem Örtchen gelten. Vielleicht sei das | |
| ja das einzig Gute an dem Shutdown, sagt Edwin Diesel, wenn man ihn fragt, | |
| was man aus der Grenzschließung lernen kann: „Jetzt haben wir mal wieder | |
| erlebt, wie es mit Grenzen ist.“ Es scheint als wären sich in den beiden | |
| Scheibenhard(t)s alle einig, dass sie sie auf keinen Fall wieder haben | |
| wollen. | |
| 15 Jun 2020 | |
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| [2] https://www.france-voyage.com/frankreich-stadte/scheibenhard-26782.htm | |
| [3] /Reisen-in-Europa-trotz-Corona/!5689661/ | |
| [4] https://www.bpb.de/apuz/206921/wiener-kongress | |
| ## AUTOREN | |
| Benno Stieber | |
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