# taz.de -- Gregor Gysi meldet sich zurück: „Ich hatte im Bundestag Leerlauf… | |
> Der neue außenpolitische Sprecher der Linksfraktion über sein Verhältnis | |
> zu Venezuela, Auslandeinsätzen, Regierungsbeteiligung und Staubsaugen. | |
Bild: Streitbar und tatendurstig: Gregor Gysi wird außenpolitischer Sprecher d… | |
taz: Herr Gysi, warum haben Sie sich überreden lassen, fünf Jahre nach | |
Ihrem Rückzug in die letzte Bankreihe des Bundestags den Job des | |
außenpolitischen Sprechers anzunehmen? | |
Gregor Gysi: Ich hatte im Bundestag Leerlauf. Ich konnte meinen Wählerinnen | |
und Wählern in Treptow-Köpenick gar nicht genau erklären, was ich im | |
Bundestag treibe. Ich arbeite viel als Rechtsanwalt, Moderator und Autor. | |
Im Bundestag habe ich in dieser Legislaturperiode drei Reden gehalten. Es | |
gibt keinen Abgeordneten in meiner Fraktion, der so wenig geredet hat wie | |
ich. | |
Schwer vorstellbar, Herr Gysi. | |
Ist aber so. Wenn man für kein Thema zuständig ist, dann muss man sich | |
immer reinmogeln, weil ja jemand anderes zuständig ist. Das ist nicht mein | |
Stil. Und Außenpolitik hat mich immer interessiert. | |
Hat Corona für Sie etwas verändert? | |
Corona hat mich ja partiell zu einem Rentnerleben gezwungen. Keine Termine, | |
keine Auftritte. Ich dachte, das ist furchtbar. Ist es gar nicht. Ich war | |
zum ersten Mal im Leben gezwungen, ziemlich regelmäßig den Abend allein zu | |
verbringen. Ich habe immer gedacht, was machst du dann? Fernsehen? Über | |
einem Buch einschlafen? Ich hatte davor immer ein bisschen Angst. Diese | |
Angst habe ich nicht mehr. | |
Es ist gar nicht so schlimm? | |
Nee. Man hat ja immer was zu tun. Ich war schon immer dafür, dass | |
Hausarbeit bezahlt wird. Jetzt bin ich leidenschaftlich dafür. | |
[1][Hausarbeit ist grottenanstrengend]. | |
Aha. Staubsaugen? | |
Alles, staubsaugen, wischen, Wäsche waschen, beim Einkaufen nichts | |
vergessen. Ich finde es ziemlich anstrengend. | |
In der Bundestagsfraktion hielt sich die Begeisterung des linken Flügels | |
über Ihre Nominierung in Grenzen. Es waren Außenpolitiker der | |
Linksfraktion, die bei einem Parteitag mit dem Slogan „Hände weg von | |
Venezuela, Vorwärts zum Sozialismus“ auftraten. Schwierig, oder? | |
Ich war mit Chávez in Venezuela solidarisch. Aber es ist nicht zu | |
akzeptieren, eine neue Mehrheit in Parlament einfach zu ignorieren. | |
Wie es Chávez’ Nachfolger Maduro tut … | |
Man muss das ganze Bild sehen. Die USA spielen seit Jahrzehnten eine üble | |
Rolle, [2][denken Sie an die jüngste Söldnerattacke], und sie sind auch mit | |
schuld am Hunger in Venezuela. Aber wir müssen trotzdem Venezuela auch | |
kritisieren. Entweder bin ich für Demokratie oder nicht. Es gibt Linke, die | |
einseitig sind. Sie wollen ihr Ideologiegerüst nicht von Tatsachen | |
erschüttern lassen. | |
Es wird also keine Handshake-Fotos von Ihnen mit Maduro geben? | |
Wieso nicht? Ich spreche mit allen, aber würde Maduro Gutes und auch | |
Kritisches sagen. Ich fand es falsch, dass Außenminister Maas Maduros | |
Gegner, den selbst ernannten Präsidenten Guaidó, anerkannt hat. Jetzt sind | |
Gespräche für ihn mit Maduro fast unmöglich. Wir brauchen aber Gespräche. | |
Mich sorgt, dass fast überall nur noch militärisch gedacht wird und viel zu | |
wenig politisch. | |
Warum gibt es bei Linken Sympathien für autokratische Staaten, die als | |
Gegner der USA gelten? | |
Na ja, auf jeden Fall gibt es noch Reflexe aus der Zeit des Kalten Kriegs. | |
Aber die gibt es nicht nur bei den Linken. Den Kalten Krieg haben viele | |
noch nicht überwunden. In vielen Medien finde ich eine herablassende | |
Haltung gegen Russland. Die müssen wir überwinden. Wir müssen begreifen, | |
dass Russland zu Europa gehört. Und dass wir andere Interessen haben als | |
die USA. | |
Haben Sie Kontakte nach Russland? | |
Ich habe vor einiger Zeit mit dem ersten stellvertretenden Außenminister | |
und dem Parlamentspräsidenten gesprochen. Putin empfängt mich natürlich | |
nicht. Das ist eine andere Größenordnung. Bei den Gesprächen vergleiche ich | |
die völkerrechtswidrige Trennung des Kosovo mit der Annexion der Krim. Was | |
ich zum Kosovo sage, akzeptieren sie, der Vergleich mit der Krim wird nicht | |
so gern gehört. Aber sie diskutieren immerhin darüber. | |
Plädieren Sie für die Anerkennung der Annexion der Krim, um das Verhältnis | |
zu Russland zu verbessern? | |
Nein. Aber wir müssen Wege aus der Blockade finden. Ein Beispiel: Die USA | |
haben die Zugehörigkeit von Litauen, Lettland und Estland zur Sowjetunion | |
nie anerkannt. Die Haltung der USA war: Wir erkennen die Zugehörigkeit der | |
baltischen Staaten zu Moskau nicht an, nehmen aber das Faktische zur | |
Kenntnis. | |
Eine Duldung des Status quo ohne offizielle Anerkennung – das wäre die | |
Lösung für die Krim? | |
Nicht eins zu eins, aber in dieser Richtung. Wir müssen einen Weg finden, | |
die Menschenrechte zu wahren und [3][den Krieg in der Ukraine zu beenden]. | |
Als Maas Außenminister wurde, hat er als Erstes gesagt: Wir müssen härter | |
zu Russland werden. Das war nicht klug. | |
Mit Rolf Mützenich hat die SPD nun einen Fraktionschef, der andere Töne | |
anschlägt. Er will alle Atomwaffen aus Deutschland verbannen … | |
… Heiko Maas nicht. Es wird interessant, wer sich in der SPD bis 2021 | |
durchsetzt. | |
Aber wenn Deutschland auf die atomaren Teilhabe verzichtet, könnte Polen | |
diese vakante Position erben – was die Spannungen zwischen Moskau und | |
Warschau verschärfen kann. Ist das verantwortbar? | |
Wir steigen aus der Atomenergie aus, Frankreich baut neue AKWs. Hätten wir | |
uns deshalb von unserer Entscheidung abhalten lassen sollen? Ich glaube | |
nicht. Deutschland sollte außenpolitisch wegen seiner Geschichte generell | |
auf Diplomatie setzen und nicht den Weltpolizisten geben. Ich bin Mützenich | |
dankbar, dass er diese Rolle auch ablehnt. Man kann in der Nato bleiben, | |
auch ohne atomare Teilhabe. | |
Ist die Linkspartei nicht mehr gegen die Nato? | |
Ich bin nach wie vor für die Auflösung der Nato – aber nicht für den | |
Austritt Deutschlands. Eine Nato ohne Berlin treibt dasselbe. Wir bräuchten | |
ein neues Bündnis in Europa unter Einschluss von Russland, und natürlich | |
auch Großbritanniens und Frankreichs. | |
Stefan Liebich, ihr Vorgänger, war ein Realo. Machen Sie den Job wie er? | |
Ich stehe ihm politisch näher als anderen. Aber ich spiele meine eigene | |
Rolle. Liebich ist ja viel bescheidener als ich. Das unterscheidet uns | |
schon mal. (lacht) | |
Liebich war Mitglied in der Atlantik-Brücke, einem elitären Club von | |
Transatlantikern. Werden Sie jetzt dort Mitglied? | |
Nein. | |
Warum nicht? | |
Ich bin dafür nicht der richtige Mann. Ich bin zu bekannt. Deshalb würde es | |
als Signal der Annäherung an die USA unter Trump missverstanden werden. | |
Aber wir brauchen Kontakte. Es wird vielleicht jemand anderes dort Mitglied | |
werden. | |
Sevim Dağdelen, die fordert, Europa müsse sich der US-Gefolgschaft | |
verweigern? | |
Da hat sie doch recht. Sie wäre trotzdem und vielleicht sogar gerade | |
deshalb sehr geeignet. Ich glaube aber nicht, dass ich sie überzeugen | |
könnte. | |
Für ein Mitte-links-Bündnis sind Außen- und Militärpolitik die größten | |
Hürden. Die SPD bewegt sich. Und die Linkspartei? Fordern Sie noch immer | |
ultimativ den Rückzug aller Bundeswehrsoldaten aus dem Ausland? | |
Ich will den Abzug aller Bundeswehrsoldaten aus dem Ausland, weil | |
Deutschland nicht Weltpolizist, sondern Weltvermittler sein soll. Das geht | |
deutlich besser, wenn man international nicht militärisch aktiv ist. | |
Bei Auslandseinsätzen stimmt die Linksfraktion grundsätzlich mit Nein. Auch | |
wenn es um UN-Missionen in Dafur mit drei Bundeswehrsoldaten geht. Ist | |
dieses „Fundi-Nein“ klug? | |
Wir dürfen nicht vergessen, welche Rolle deutsche Armeen in der Geschichte | |
gespielt haben. Die Bundesregierung versucht, mit solchen Einsätzen diese | |
Rolle zu übermalen. Wenn es zu Verhandlungen über eine | |
Regierungsbeteiligung kommen sollte, wird es schwierig. Wir wollen so | |
schnell wie möglich raus aus Afghanistan – aber ohne das Leben derjenigen | |
zu gefährden, die der Bundeswehr geholfen haben. Wichtig ist: Es darf | |
keinesfalls neue Auslandseinsätze geben. Aber wir müssen auch | |
kompromissfähig sein. Wer nicht kompromissfähig ist, ist nicht | |
demokratiefähig. Aber die Richtung muss immer stimmen. | |
Ist die Linkspartei zu Kompromissen in der Lage? | |
Manche wollen nicht regieren und versuchen, Konflikte zu schüren. Aber ich | |
glaube, dass die, die jetzt vehement gegen Regierungsbeteiligungen sind, | |
ganz friedlich werden, wenn sie einbezogen sind. Die Mehrheit in der | |
Linkspartei will doch, dass wir Ziele durchsetzen. Denn sonst werden wir | |
irgendwann überflüssig. Nur ein Beispiel: Wir werden in einer Regierung | |
kein Verbot von Rüstungsexporten bei SPD und Grünen durchsetzen. Wenn aber | |
keine Waffen mehr an Diktaturen oder Länder, die Kriege führen, geliefert | |
werden, wäre das ein wichtiger Schritt in die richtige Richtung. | |
Was wären zentrale Forderungen der Linkspartei für eine | |
Mitte-links-Regierung? | |
Mehr Frieden, Steuergerechtigkeit, die Gleichstellung von Ost und West, | |
ebenso von Frauen und Männern. Auch mehr Geld für Pflege. Das wird ohne | |
staatliche Zuschüsse nicht gehen. Wenn wir das über Tarifverträge machen, | |
bekommen wir unbezahlbare Pflegebeiträge. Also muss der Staat dafür sorgen, | |
dass endlich anständig bezahlt wird. Da geht es nicht um fünf oder zehn | |
Prozent mehr. Na, und noch vieles andere. | |
Bald beginnt die deutsche EU-Ratspräsidentschaft. Was ist die Aufgabe | |
Berlins? | |
Die EU war noch nie so gefährdet wie jetzt. Der nationale Egoismus breitet | |
sich überall aus, nicht nur in Ungarn. | |
Was soll Deutschland tun? | |
Dafür sorgen, dass, wer keine Flüchtlinge aufnimmt, wie Ungarn, Polen oder | |
Tschechien, weniger EU-Gelder bekommt. Wer sich die Integration von | |
Flüchtlingen, die auch kostet, selbst spart, erhält weniger Zuschüsse. | |
Dafür muss sich Deutschland einsetzen, auch wenn es sich damit bei einigen | |
unbeliebt macht. Und Deutschland muss anerkennen, dass man keine gemeinsame | |
Währung ohne gemeinsame Schulden haben kann. Wenn wir beide zusammen ein | |
Konto eröffnen, kann ich nicht sagen: Die Schulden sind deine, die Zinsen | |
meine. Deutschland ist auch wegen des Euro wirtschaftlich so stark | |
geworden. Das Erste ist außenpolitisch nicht besonders beliebt, das andere | |
innenpolitisch nicht. Beides ist nötig. Sonst geht die EU kaputt. | |
Wollen Sie 2021 noch mal in den Bundestag? | |
Eigentlich stand für mich fest, dass ich aufhöre. Ich werde im nächsten | |
Jahr 73. | |
Und jetzt? | |
Ich weiß es nicht. Ich finde, ich darf mit 73 Jahren mit Politik aufhören. | |
Nur, wenn es wirklich in Richtung Regierungsbildung gehen sollte, ist das | |
anders. Ich will nicht Minister werden. Aber der Prozess interessiert mich. | |
Darüber denke ich nach. Nächstes Jahr können wir noch einmal darüber | |
sprechen. | |
11 May 2020 | |
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## AUTOREN | |
Anna Lehmann | |
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