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# taz.de -- Experte über das Sozialschutzpaket II: „Eine herbe Enttäuschung…
> Die Bundesregierung will den sozialen Schutzschirm ausweiten. Doch um
> einen Coronazuschlag drücke sie sich, so der Sozialwissenschaftler Stefan
> Sell.
Bild: Eine „große Luftbuchung“? Die Groko hat einen Essenslieferdienst fü…
taz: Am Donnerstag ist das Sozialschutzpaket II im Bundestag verabschiedet
worden. Wie bewerten Sie es?
Stefan Sell: Wenn man es als Nachbesserung des ersten Pakets versteht, dann
ist das Ganze gerade für eine Gruppe eine herbe Enttäuschung: für arme
Menschen. Für die „Bestandskunden“ der Grundsicherung, also
Hartz-IV-Bezieher, verweigert man die erforderliche Weiterentwicklung. Denn
im Sozialschutzpaket II ist kein [1][Corona]zuschlag von mindestens 100
Euro für Hartz-IV-Empfänger vorgesehen. Dabei haben genau das viele
gefordert – vom DGB, Sozialverbänden bis zu Grünen und Linken.
Das Arbeitsministerium sagt, ein Zuschlag sei unnötig, weil es über das
Jahr hinweg immer Schwankungen bei den Verbraucherpreisen gebe. Das Ganze
würde sich ausgleichen.
Das ist eine wirklich perfide Aussage. Eigentlich räumt man damit ein, dass
man das Problem erkannt hat, nämlich dass gerade die Produkte für arme
Menschen teurer werden. Zwar suggeriert die niedrige allgemeine Inflation,
dass alles in Ordnung sei. Das hängt aber nur mit dem [2][niedrigen
Ölpreis] zusammen. Und der hat für Hartz-IV-Beziehende kaum Bedeutung.
Die Preise für Lebensmittel und nichtalkoholische Produkte sind dagegen
allein von März auf April um rund 5 Prozent gestiegen.
Grundsicherungsbeziehende werden darauf vertröstet, dass es in einigen
Monaten vielleicht wieder günstiger wird. Aber der Regelsatz ist so knapp
bemessen, dass sie schlichtweg keine Rücklagen haben.
Gäbe es weitere Gründe für einen Coronazuschlag oder gar für die dauerhafte
Anhebung des Regelsatzes?
Ja, auch angesichts der Rezession wäre eine Anhebung oder zumindest ein
temporärer Zuschlag sinnvoll. Im Gegensatz zu Steuersenkungen hätte man
hier wirklich einen einfachen Hebel, den inländischen Konsum zu steigern.
Der Regelsatz wäre auch nach einer Erhöhung noch in einer Dimension, dass
Hartz-IV-Beziehende jeden zusätzlichen Euro für den Konsum aufbrauchen
würden.
Für Kinder aus armen Familien wurde ein kostenloser Lieferdienst für
Mittagessen beschlossen. Ist das nicht eine Verbesserung?
Das Ausgangsproblem ist, dass die bisherigen kostenlosen Mittagessen in
Schulen und Kitas weggefallen sind. Nun sollen die Caterer „nur“ noch für
die armen Kinder und Jugendlichen kochen und diese auch noch individuell
beliefern. Das wird sich leider als eine große Luftbuchung erweisen. Viele
Kinder werden schlichtweg ausgeschlossen und werden durch den Rost fallen.
Warum wird den Familien das Geld denn nicht einfach direkt ausgezahlt?
Man will auf Biegen und Brechen verhindern, das Geld an die Familien
auszuzahlen. Hier ist es wieder, das alte, weitgehend widerlegte Vorurteil,
die Eltern würden das Geld nicht in ihre Kinder, sondern in Alkohol oder
einen neuen Fernseher investieren.
Nur um den Aufwand deutlich zu machen, den man an dieser Stelle betreibt:
Die vorgesehene Obergrenze von 5 Euro pro Schulessen wurde im
Gesetzgebungsverfahren durch eine Änderung aufgehoben, um das Ganze
überhaupt für die Caterer praktikabel zu machen. Dazu kommen noch
Lieferkosten. Allein wenn man das Essen wie bisher mit 5 Euro pro Mahlzeit
berechnen würde, kommt man auf 100 Euro pro Kind im Monat. Die Grünen haben
einen pauschalen Aufschlag von 60 Euro pro Kind gefordert. Das fände ich
deutlich sinnvoller – und das ist schon ein Kompromissangebot an die
Regierenden.
Warum passiert für die Menschen mit dem wenigsten Geld so wenig?
Die neuen Maßnahmen zeigen, dass man nichts wirklich verändern will. Für
die Menschen, die neu in Hartz IV kommen, hat die Bundesregierung eine
Absenkung der Zugangshürden beschlossen. Die Wohnkosten werden vollständig
übernommen, auch die Vermögensprüfung ist ausgesetzt. Das Problem ist, dass
das nur für die Neufälle gilt und auch nur befristet. Aber der Regelsatz
wird nicht angepasst. Damit zementiert man nun eine Zweiklassengesellschaft
in der Grundsicherung. Es wirkt, als hoffe man, das Ganze aussitzen zu
können, bis die Krise wieder vorbei ist. Um dann zurück zum Status quo zu
kommen.
14 May 2020
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## AUTOREN
Alina Leimbach
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Bürgergeld
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