# taz.de -- Rassismus im Gesundheitswesen: Das Virus ist nicht egalitär | |
> Werden People of Color in Kliniken schlechter versorgt? In Deutschland | |
> lässt sich das nur schwer überprüfen. Denn valide Untersuchungen gibt es | |
> kaum. | |
Bild: Das neuartige Coronavirus kann jeden treffen – aber nicht alle sind gle… | |
Ein Virus kann nicht diskriminieren, es kennt weder Hautfarbe noch | |
Kontostand? Corona kann jeden treffen? Je länger die Krise andauert, umso | |
mehr zeigt sich, dass nicht alle Menschen gleichermaßen betroffen sind. | |
Bereits im März äußerte sich [1][Ferda Ataman], Journalistin und | |
Mitgründerin der Neuen Deutschen Medienmacher, [2][auf Twitter entsprechend | |
desillusioniert]. Sie schrieb: „Ich habe irgendwie eine Ahnung, welche | |
Bevölkerungsgruppen in Krankenhäusern zuerst behandelt werden, wenn die | |
Beatmungsgeräte knapp werden.“ Der Tweet wurde vielfach kritisiert, unter | |
anderem von der Grünen-Bundestagsabgeordneten Renate Künast. | |
Rassismus pausiert nicht in der Coronakrise. Ein Blick [3][auf die Zahlen | |
aus den USA] illustriert das. In New York City zeigten diese schon Mitte | |
April, dass 34 Prozent der an Corona Verstorbenen Hispanics waren, obwohl | |
sie nur 29 Prozent der Bevölkerung ausmachen. In Chicago zeigte sich die | |
Situation noch extremer: 72 Prozent der Verstorbenen waren zum selben | |
Zeitpunkt Afroamerikaner, obwohl nur 30 Prozent der Stadtbevölkerung | |
Schwarz ist. | |
Ob in Deutschland ebenfalls People of Color von Corona am stärksten | |
betroffen sind, ist schwer zu überprüfen. [4][Ähnlich dramatisch wie in den | |
USA] sei die Situation jedoch nicht, sagt Marion Aichberger. Sie forscht | |
für die Berliner Charité und das Berliner Institut für empirische | |
Integrations- und Migrationsforschung. „In den USA sind die Ungleichheiten | |
stark akzentuiert. In Deutschland sind bestimmte Bereiche inkludierender, | |
aber es gibt trotzdem noch zahlreiche, auch ausgeprägte strukturelle | |
Probleme und Barrieren zu beseitigen, um Ungleichheiten auszugleichen.“ | |
## Es gibt keine Zahlen | |
Zahlen, welche über Diskriminierung Aufschluss geben könnten, gibt es | |
nicht. Anders als in den USA werden in Deutschland Gesundheitsdaten nicht | |
nach Hautfarbe oder Ethnizität kategorisiert. Die einzige Unterteilung im | |
deutschen Gesundheitssystem, die dem nahekommt, ist die nach dem | |
Migrationshintergrund. | |
So kann bislang lediglich ein Teilaspekt des Komplexes untersucht werden. | |
„Dass nur Zahlen über den Faktor Migrationshintergrund bekannt sind, macht | |
es schwieriger, die richtigen Schlüsse zu ziehen“, sagt Aichberger. Denn | |
Rassismus erfahren eben nicht nur Menschen, die eine Migrationsbiografie | |
aufweisen. | |
Die Frage, ob man solch eine Kategorisierung in Deutschland einführen | |
sollte, sei ein Dilemma, sagt Oliver Razum, Gesundheitswissenschaftler und | |
Professor an der Universität Bielefeld. Denn der Grund, dass Menschen | |
nicht nach Hautfarbe oder anderen ethnischen Merkmalen kategorisiert | |
werden, liegt in der deutschen Geschichte. | |
Unter der NSDAP wurden nach ethnischer Kategorisierung Menschen jüdischer | |
Herkunft ermordet. „Merkmale wie Hautfarbe, Religion oder ‚Rasse‘ zu | |
erfassen, birgt immer das Risiko der Kennzeichnung und Ausgrenzung“, sagt | |
Razum. Er plädiert deshalb dafür, die Nichtkategorisierung beizubehalten. | |
Nur weil Rassismus nicht empirisch beobachtet wird, heißt es nicht, dass er | |
nicht existiert. Tahir Della, Mitglied der Initiative Schwarzer Menschen in | |
Deutschland (ISD), sagt: „Es ist zu befürchten, dass marginalisierte | |
Gruppen stärker von Corona getroffen werden.“ Die ISD habe häufig mit | |
Menschen aus Krankenhäusern zu tun, die rassistisch diskriminiert wurden. | |
„Wir gehen davon aus, dass auch im Gesundheitswesen Rassismus eine Rolle | |
spielt, aber es gibt keine Erhebungen und keine Daten darüber, wie oft das | |
vorkommt und wie viele Menschen es trifft“, sagt er. Ob Coronapatienten | |
schlechter behandelt werden, wenn sie People of Color sind, ist empirisch | |
weder nachweisbar noch widerlegbar. | |
## Besonders betroffen sind die, die es auch vor Corona waren | |
Die taz fragte bei der Bundesärztekammer nach, wie mit Rassismus im Kontext | |
von Corona umgegangen werde. Eine der Aufgaben der Pflichtkammer ist die | |
Vermittlung gesundheitspolitischer Fragen. Peter Bobbert, Mitglied des | |
Vorstands und Menschenrechtsbeauftragter der Ärztekammer, wollte sich zum | |
Thema Rassismus nicht äußern. | |
„Die Gruppen, die besonders von der Coronapandemie betroffen sind, sind | |
die, welche auch schon davor keinen Zugang zu einer adäquaten Versorgung | |
hatten“, sagt er. Das seien allen voran Menschen ohne Obdach und ohne | |
Krankenversicherung, wie beispielsweise auch Menschen ohne geklärten | |
Aufenthaltsstatus. | |
Jedoch könnte der Faktor Migrationshintergrund ein Indikator für möglichen | |
Rassismus im Gesundheitswesen sein. Untersuchungen zu diesem Thema sind | |
rar. So werden auch Migrationsdaten nicht automatisch, sondern nur im | |
Kontext von Studien erhoben. | |
In einer Studie aus dem Jahr 2014 beobachteten Wissenschaftler*innen | |
drei Berliner Kreißsäle. Sie verglichen die Behandlung, welche Frauen mit | |
türkischem Migrationshintergrund bei der Geburt bekamen, mit der, welche | |
Frauen ohne Migrationshintergrund bekamen. Die Studie schlussfolgerte, dass | |
ungleiche Behandlung so gut wie nicht stattfand. | |
## Benachteiligung in Reha-Kliniken | |
Eine andere Studie befasst sich mit der Versorgung in Reha-Kliniken. Das | |
Ergebnis: Menschen mit Migrationshintergrund wurden seltener erfolgreich | |
behandelt als jene ohne Migrationshintergrund. | |
Oliver Razum, einer der Verfasser der Studie, sagt: „Wenn man sich die | |
Reha-Kliniken anschaut, kann man eine strukturelle Benachteiligung von | |
Menschen mit Migrationshintergrund sehen.“ Ob Patienten in Deutschland nach | |
Migrationsstatus diskriminiert werden, hänge von der Region und Praxis ab. | |
Doch von Rassismus werde im deutschen Gesundheitsdiskurs nicht geredet, | |
sagt Razum, wohl aber von ethnischen und kulturellen Merkmalen im | |
Zusammenhang von Migrationshintergrund. Denn der Migrationshintergrund sei | |
nicht der einzige Faktor, der über verschiedene Behandlungen entscheidet. | |
„Man kann Rassismus nicht abgelöst von sozioökonomischen Faktoren | |
betrachten“, sagt der Gesundheitswissenschaftler. | |
Denn Menschen mit Migrationshintergrund haben in Deutschland häufig auch | |
geringeres Einkommen. Eine Studie aus dem Jahr 2009 zeigt: Im Median haben | |
Familien mit Migrationshintergrund ein um 13 Prozent geringeres mittleres | |
Nettoeinkommen als Familien ohne. Von relativer Armut sind, Stand 2009, 15 | |
Prozent aller Nichtmigranten, aber 30 Prozent aller Migranten betroffen. | |
Relative Armut bedeutet, ein Nettoeinkommen von 60 Prozent oder weniger des | |
Medians zu haben. | |
## Sterblichkeit bei weniger Einkommen höher | |
„Menschen mit Migrationshintergrund leben in anderen Verhältnissen und es | |
sind dann diese Verhältnisse, die dazu führen, dass Corona bei ihnen zu | |
einem größeren Problem wird“, sagt Razum. Ein Beispiel: Um sich vor einer | |
Ansteckung zu schützen, soll Abstand gehalten werden. Nur [5][ist es | |
einfacher, sich zu zweit in einem 100-Quadratmeter-Haus in Selbstquarantäne | |
zu begeben], als für eine fünfköpfige Familie in einer Zweizimmerwohnung. | |
Auch jenseits von Corona leben Reiche gesünder als Arme. Menschen, die in | |
einer prekären Situation leben, haben tendenziell weniger Zugang zu Wissen | |
über Gesundheitsfragen. Hinzu kommt: Eine ausgewogene und gesunde Ernährung | |
ist teuer. | |
Eine der Folgen benennt das Max-Planck-Institut für demografische | |
Forschung: Die Sterblichkeit von 30- bis 59-jährigen Männern ist bei dem | |
einkommensschwächsten Fünftel um 150 Prozent höher als bei dem | |
einkommensstärksten Fünftel. | |
Das hat auch für Corona Folgen. Eine Datensammlung des | |
Robert-Koch-Instituts ergibt: Die Gruppe der Geringverdiener hat in jeder | |
Altersklasse die meisten krankheitsbedingten Einschränkungen. Das heißt: | |
Arme Menschen leiden häufiger an Vorerkrankungen und sind so anfälliger für | |
Corona. „Bei einer Krankheit wie Covid-19, bei der die Schwere des Verlaufs | |
mit den Vorerkrankungen zusammenhängt, kann man vermuten, welche Folgen das | |
für bestimmte soziale Gruppen hat“, sagt Marion Aichberger. | |
## Die soziale Stellung macht einen Unterschied | |
Neben diesen Lebensverhältnissen gibt es für Oliver Razum einen weiteren | |
Grund, wieso sozialökonomisch benachteiligte Menschen gesundheitlich | |
schlechter dastehen: Die Gesundheitseinrichtungen behandeln sie anders. | |
„Die Ärzte gehen auf die Patienten nicht adäquat zu, oft funktioniert auch | |
die Kommunikation nicht. Dieses Phänomen gilt für alle Benachteiligten, das | |
hat mit Rassismus nichts zu tun“, sagt Razum. | |
Marion Aichberger denkt ebenfalls, dass Menschen mit Migrationshintergrund | |
vor allem wegen des durchschnittlich niedrigeren finanziellen Status | |
diskriminiert werden. Aber: „Dazu kommen persönliche Erfahrungen wie | |
Ausgrenzung und Diskriminierung“, sagt sie. | |
Diskriminierung von sozioökonomisch Benachteiligten existiert im | |
Gesundheitswesen. Dass Migrant*innen unabhängig von ihrem finanziellen | |
Status diskriminiert werden, ist auch wahrscheinlich. Welche Rolle | |
Rassismus dabei spielt, lässt sich empirisch nicht feststellen. Was aber | |
unbestreitbar ist: Die Gesundheitschancen von Migrant*innen sind geringer | |
als die von Deutschen ohne Migrationshintergrund. Und zwar zu jeder Zeit. | |
5 May 2020 | |
## LINKS | |
[1] /Publizistin-ueber-Staatsbuergerschaftsrecht/!5602467 | |
[2] https://twitter.com/FerdaAtaman/status/1242005074286608384 | |
[3] https://www.nytimes.com/2020/04/08/nyregion/coronavirus-race-deaths.html | |
[4] /US-Gesundheitssystem-und-Corona/!5669242 | |
[5] /Armut-in-der-Corona-Krise/!5670539 | |
## AUTOREN | |
Matej Snethlage | |
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