# taz.de -- Länder im Corona-Lockerungswettstreit: Tag der Chancengleichheit | |
> Nein, das Virus macht uns nicht alle gleich: Ob Schlachthöfe oder | |
> Spargelfeld – je ärmer und migrantischer, desto mehr Corona-Risiko. | |
Bild: Spargel stechen, Spargel verkaufen- Jobs mit erhöhtem Infektionsrisiko | |
Nein, vor dem Virus sind wir nicht alle gleich, und nein, dieses Virus | |
bietet keine Chance. Als Chance sehen ihn womöglich eh nur (gesunde) | |
Angehörige der Mittelschicht, die schon viele Chancen im Leben hatten und | |
wohl weiterhin haben werden. Ein dreifaches Hurra auf Ressourcen – und sei | |
es nur ein finanzielles Polster aus dem Elternhaus, ein Buddy-Netzwerk oder | |
eine gut verdienende Partner*in im Haushalt. | |
Warum ich mich dermaßen über die Lockerungen aufregen kann, die schon vor | |
der Ministerpräsident*innenkonferenz am Mittwoch zu einem Pinkelwettstreit | |
unter Anzugträgern transformierten, ich will es erklären. | |
„Krise als Chance“. Die Politik hätte jetzt die Chance, die | |
Chancengleichheit in den Schulen wenigstens ein klein wenig herzustellen; | |
mit einer sehr einfachen Methode: Internet und Laptops für alle, Lehre und | |
Lehren wird digital. | |
Ich kenne den Fall einer Familie, wo sich die vier Kinder für die | |
Schularbeiten das Handy der Mutter teilen, die noch dazu nur begrenzten | |
Internetzugang hat. Ich nehme an, diesen Kindern wird es nicht besser | |
ergehen, wenn sie nun bis zu den Sommerferien für zwei Tage pro Woche in | |
die Klassen zurückkommen. Das schöne Argument der Bildungsbürger*innen, | |
dass diese Kinder doch in der Schule viel besser aufgehoben wären, [1][im | |
Sinne der Chancengleichheit], kann ich nur müde weglachen. Ha. Ha. Ha. | |
Chancengleichheit gab es weder vor Corona und wird es auch danach nicht so | |
schnell geben. | |
Liebe Anhänger*innen der Präsenz- und Schulplflicht, ein Tipp: machen Sie | |
sich mit dem Gedanken vertraut, dass es den Unterricht, wie wir ihn kennen, | |
nicht geben wird – 2020 und womöglich auch 2021 nicht. Weitsichtig und | |
solidarisch wäre es, digitalen Unterricht für weitere Erkrankungswellen zu | |
planen, alles andere wäre unsolidarisch und kurz gedacht. Ellbogen raus und | |
ab mit dem Nachwuchs in die Klassen und in die Abiprüfungen, das ist voll | |
2019. | |
Während die eine Hälfte Deutschlands über Fußi ab dem 25. Mai in die Hände | |
klatscht, freut sich die andere wieder darüber, dass Cafés, Restaurants | |
und, ganz wichtig in Doyçland, Biergärten im Mai wieder öffnen. Den | |
Betreiber*innen sei es von Herzen gegönnt, endlich wieder Umsatz zu machen | |
und nicht der drohenden Insolvenz ins Gesicht zu blicken. | |
Angesichts dieser Lockerungsübungen stellen sie aber Menschen mit | |
Autoimmunerkrankungen und Vorerkrankungen, also die Risikogruppen bei einer | |
drohenden Corona-Infektion, vor die Tatsache, sich noch besser schützen zu | |
müssen und darauf angewiesen zu sein, dass ihre Umgebung mitzieht. Dass | |
diese Gruppen Schutz brauchen, vielleicht als Eltern, vielleicht aber auch | |
nur als Mitarbeiter*in in einem Café oder Supermarkt, da sich jetzt noch | |
mehr abkapseln müssten und es nicht können, das ist einer der Gründe, um an | |
seinem Mitmenschen zu verzweifeln. | |
Nein, vor dem Virus sind nicht alle gleich, und es ist wohl | |
unwahrscheinlicher, sich bei einer Demo von Virusleugner*innen zu | |
infizieren, [2][als in einem Schlachthof]. | |
Dies ist nämlich ein Land, in dem man sich aufgrund von „schwierigen | |
Arbeitsbedingungen und Wohnverhältnissen“, anstecken kann, so der | |
schleswig-holsteinische Beauftragte für Zuwanderungsfragen, Stefan Schmidt | |
zu dem jüngsten Fall von 129 Infektionen in der Fabrik Westfleisch. Das | |
Unternehmen bleibt übrigens weiter auf und in Betrieb. Dass [3][besonders | |
Schlachthöfe, nicht nur in Deutschland betroffen sind,] zeigt, dass dieses | |
Virus bevorzugt ärmere und migrantische Teile der Gesellschaft trifft und | |
treffen wird. Ischgl in Österreich war die Ausnahme, die Regel ist | |
mittlerweile: je ärmer, desto mehr Corona-Risiko. Denn: Wer sticht den | |
Spargel, wer schneidet das Fleisch? Wer putzt die Supermärkte, wer steht am | |
Eingang als Security? Wer fährt die Pizza oder das Sushi aus und wer sitzt | |
an der Kasse? Menschen aus dem Niedriglohnsektor, meistens migrantisch und | |
dem Virus weitaus ausgelieferter als die, die sich home office und | |
Bringdienste leisten können. | |
Wenigstens war das einzig Versöhnliche in der vergangenen Woche, dass | |
migrantische Verbände noch vor Corona und im Anschluss an das Attentat in | |
Hanau, den 8. Mai zum „Tag des Widerstandes“ ausgerufen hatten. An dem Tag, | |
an dem vor 75 Jahren der Faschismus in Deutschland besiegt wurde und der | |
dank Esther Bejarano, einer Überlebenden des KZ Auschwitz-Birkenau, in | |
Berlin ein Feiertag ist, wollten Migrant*innen streiken und gegen | |
rassistische Strukturen in diesem Land demonstrieren. Leider hat Corona | |
alles in einen kleineren Rahmen gedrückt. Aber sei's drum, auch nächstes | |
Jahr ist wieder 8. Mai und die Jahre drauf auch. Und stell' Dir vor, es ist | |
der 8. Mai, und wir alle bleiben zu Hause. Das könnte heißen: Kein Spargel, | |
kein Fleisch, kein take away und niemand putzt mehr an solch einem Tag oder | |
schreibt solidarisch eine Kolumne. Nimm diesen Tag als Chance, Deutschland. | |
8 May 2020 | |
## LINKS | |
[1] /Drei-neue-Gedanken/!170841/ | |
[2] /129-Neuinfizierte-bei-Westfleisch/!5683606&s=schlachthof/ | |
[3] https://www.theguardian.com/world/2020/may/02/meat-plant-workers-us-coronav… | |
## AUTOREN | |
Ebru Tasdemir | |
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