# taz.de -- Neubau Volkstheater München: Das Schauspiel am Schlachthof | |
> In München erhält das Volkstheater einen Neubau. Das ist selten geworden. | |
> Belebt wird damit das Viertel am Schlachthof. Ein Baustellenbesuch. | |
Bild: Vor dem Eingang des Neubau wird an der Pflasterung gearbeitet | |
Jäh zerreisst ein Schrei die Luft, Angst, Schmerz, die Richtung ist nicht | |
zu bestimmen, ein Schrei, kein Blöken, Grunzen oder Muhen. Die Straßen sind | |
hier dicht befahren, alle Parkplätze belegt, die Menschen maskiert, nicht | |
alle. | |
Hier, neben dem Schlachthof, aus dem der Laut kam, etwas südwestlich der | |
Münchner Stadtmitte, entsteht der derzeit modernste Theaterbau in | |
Deutschland. | |
Und der künftige Hausherr nimmt die Breaking News direkt vorweg: „Wir | |
liegen im Zeit- und Kostenplan.“ [1][Christian Stückl, Intendant am | |
Volkstheater], stellt das nicht als Triumph hin, sondern wie eine | |
Selbstverständlichkeit fest, ganz so, als hätte es das Flughafendebakel um | |
BER, die Kostenexplosion bei der Elbphilharmonie und coronabedingte | |
Lieferengpässe nie gegeben. Ein deutsches Bauwerk wird fristgemäß fertig. | |
Am 15. Oktober 2021 öffnen die Tore. Und 135 Millionen wird der Neubau | |
gekostet haben. Eine ziemlich punktgenaue Landung. | |
„Wir haben sofort nach der Freigabe angefangen zu bauen und sind jetzt | |
fertig, das war unser Glück“, sagt der Intendant, dessen Vertrag bis 2025 | |
verlängert wurde. Jetzt, in der Zeit mit Corona und dadurch bedingten | |
Verzögerungen, denkt er, wäre das sicher alles viel komplizierter geworden. | |
Das Grundstück hinter dem Schlachthof war Stückls Wunschort: „Ein | |
Schlachthof gehört ins Stadtleben“, meint er, „jedenfalls besser als an den | |
Stadtrand.“ Und ebenso verhält es sich mit einem Theater. Einen Platz | |
draußen in Freimann hatte Stückl zunächst abgelehnt. | |
## Cafés, Biergärten und Verfall | |
Im Schlachthofviertel aber gleicht München dem Wedding in Berlin, und der | |
New Yorker Meatpacking District ist auch kein ganz so weit entfernter Ort: | |
Das Straßenbild prägen Metzgereien, Klinkerbauten, Neonreklamen über halb | |
verfallenen Läden. Cafés wetteifern um den besten Hafermilch-Matcha und im | |
Coronasommer 2020 belegten „Schanigärten“, also Pop-up-Biergärten, die | |
Gehwege. | |
Alternative Konzerte finden hier statt. Graffiti ranken sich an Fassaden in | |
die Höhe wie im Vorort das Weinlaub. Das Leiden und Sterben der Tiere ist | |
hier Teil des Großstadtlebens – so, wie der „Boandlkramer“ (Bairisch für | |
Tod) eine tragende Figur in Christian Stückls berühmter Inszenierung des | |
„Brandner Kaspar“ ist. | |
Das Areal hat 63.000 Quadratmeter, von denen das neue Theater 14.000 | |
Quadratmeter belegt. Der denkmalgeschützte Verwaltungsbau der Viehbank, ein | |
kleines Gebäude, wurde von der Planungsbürogemeinschaft um die Firma Georg | |
Reisch aus dem oberschwäbischen Bad Saulgau in das neue Bauwerk integriert. | |
Der Stuttgarter Architekt Arno Lederer übersetzte ein 1.000-seitiges | |
Nutzer-Bedarfsprofil, das das Theater mit dem Baureferat der Stadt erstellt | |
hatte, in ein Gebäude. Drin stand, wie viele Bühnen es geben sollte, dass | |
eine Gastronomie, ein Biergarten und eine Kindertagesstätte nötig wären. | |
Tatsächlich erinnert der Innenhof des Neubaus schon heute fast an die | |
griechische Agora, den zentralen Kulturplatz im Herzen der „Polis“, auf dem | |
Feste, Versammlungen, Theaterstücke und ein Markt gleichermaßen abgehalten | |
wurden. | |
Es ist ein Neubeginn, auch künstlerisch. Nahezu 40 Jahre residierte das | |
Volkstheater in der noblen, aufgeräumten Briennerstraße – als Mieter. Die | |
ursprünglich als Mehrzweckhalle gedachten Theaterräume im Haus des Sports | |
entwickelten sich zur Dauer-Behelfslösung – und blieben dabei doch immer | |
eine „Turnhalle“, wie Stückl heute sagt. Dann wurde eine Sanierung fällig. | |
Und als der Kostenvoranschlag auf 50 Millionen Euro anschwoll, hatte der | |
Intendant letztlich schnell die Politik bei der Idee eines Neubaus auf | |
seiner Seite. „Es war leicht, den Stadtrat zu überzeugen, nicht 50 | |
Millionen in ein Haus zu investieren, das uns am Ende nicht gehört“, sagt | |
er. | |
Die Erweiterung der Kammerspiele, des zweiten großen Theaters der Stadt, um | |
ein Werkraumtheater und ein „Neues Haus“ lag da schon Jahrzehnte zurück | |
(Bauzeit 1997–2003). | |
## Mehr Raum, neue Perspektiven | |
Durch einen dunklen Gang geht es über eine Betontreppe in die oberen | |
Stockwerke. Noch hängen von den Decken lange Kabel. Das neue Volkstheater | |
bietet mehr Raum. Alle Etagen zusammengenommen ergeben 26.000 Quadratmeter | |
Fläche. Bis zu 1.000 Zuschauer sollen in den vier Spielstätten (drei | |
Bühnen, ein Raum für Konzerte) Platz finden, allein 600 davon vor der | |
Hauptbühne. Der Zuschauerraum ist eigens in die Breite gezogen, um das | |
Publikum nicht zu weit in die Tiefe setzen zu müssen. Auf Balkone wurde – | |
nach langer Diskussion, erzählt Stückl – verzichtet. Zwei große Probebühn… | |
hat das Haus zusätzlich. | |
Die neue Technik und die kurzen Wege – Schreinerei und Lager liegen | |
nebeneinander, beide in direkter Nähe zu allen Bühnen – ermöglichen | |
schnelle Szenenwechsel. Eine neue Hebebühnentechnik und ein Orchestergraben | |
schaffen buchstäblich Raum für neue künstlerische Konzepte. | |
Die kreativen Möglichkeiten des neuen Hauses sieht Stückl allerdings vor | |
allem als Spielwiese für junge Gastregisseure an: „Ich selbst werde mich | |
nicht mehr ganz neu erfinden können“, sagt der 59-Jährige. Aber er freue | |
sich auf junge Kolleginnen und Kollegen, deren Fantasie und Visionen. | |
Zwei der jungen Regisseure, mit denen Stückl die Eröffnungswoche Mitte | |
Oktober bestreiten will, stehen bereits fest: Da ist zum einen der 1987 in | |
Berlin geborene [2][Dramatiker Bonn Park], dessen Stücke | |
zwischenmenschliche Konflikte verhandeln und – teils digitale – | |
Gesellschaftsutopien entwerfen. | |
Zum anderen wird Jessica Glause einmal öfter nach München reisen, die mit | |
40 Jahren „neben mir die älteste“ der fünf Eröffnungskandidaten sein wir… | |
Glause kennt die Theater der bayerischen Landeshauptstadt gut: Sie | |
inszenierte auch für die Kammerspiele und für die Bayerische Staatsoper. | |
Für das Volkstheater hat sie unter anderem „Und jetzt die Welt!“ (2015) von | |
Sybille Berg umgesetzt. | |
## Gastwohnungen und Kindertagesstätte | |
In der Spielzeit 2021/2022, der ersten im neuen Haus, sollen insgesamt 13 | |
neue Produktionen entstehen. Derzeit sind es etwa zehn Inszenierungen pro | |
Spielzeit. Die Auslastung des alten Theaters lag in den vergangenen zehn | |
Jahren im Schnitt bei 85 Prozent, beim Festival für junge Regie „Radikal | |
jung“ bei 95 Prozent. Dann kam die Pandemie. | |
„Ich bin froh, dass wir den Sommer 2020 über durchgespielt haben“, sagt | |
Stückl. Andere Münchner Theater leiden noch schwerer unter den Folgen der | |
pandemiebedingten Einschränkungen, die sie nach der zweiten Spielzeit im | |
Frühjahr 2020 nun auch die erste im Herbst 2021 gekostet haben. Als | |
städtisches Theater hatte das Volkstheater bislang die Möglichkeit, freie | |
Mitarbeiter für vereinbarte, aber ausgefallene Vorstellungen zu bezahlen. | |
Der neue Bau trägt dem jungen Ensemble Rechnung: Im Seitengebäude sind | |
Schauspielerwohnungen für Gäste von außerhalb. Im Erdgeschoss wird eine | |
Kindertagesstätte integriert. „Manchmal“, sagt Stückl und grinst, „komme | |
ich mir ja schon vor wie Bischof Tebartz-van Elst, als er sich seinen Dom | |
gebaut hat.“ | |
30 Nov 2020 | |
## LINKS | |
[1] /Theaterintendant-ueber-Lockdown-Folgen/!5722292 | |
[2] /Dramatiker-Bonn-Park/!5705680 | |
## AUTOREN | |
Johanna Schmeller | |
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