| # taz.de -- Premiere an der Volksbühne Berlin: Mein Kind bin ich | |
| > Regisseur Kornél Mundruczó inszeniert an der Volksbühne Berlin ein Drama | |
| > über emotionalen Missbrauch. Das bleibt an der Oberfläche. | |
| Bild: „MiniMe“ mit Maia-Rae Domagala und Kathrin Angerer | |
| Es ist Trainingszeit. Mit schwarzem Klebeband markiert Mama Clau einen | |
| Laufsteg quer durchs Wohnzimmer, dann zieht sie Mini Plüschstilettos an, | |
| legt ihr ein Buch auf den Kopf – und Mini trippelt in schulterfreiem Top im | |
| Catwalk über die Linie und zieht eine Grimasse in Richtung Kamera, die eine | |
| Jury später als strahlendes Lächeln interpretieren soll. Dann muss Mini | |
| ihrer Mutter nachsprechen: „Ich bin eine Gewinnerin!“ Aber das Buch fällt | |
| herunter und Mini hat keine Lust mehr, Model zu üben. Darauf Clau | |
| beleidigt: „Deine Einstellung ist zum Kotzen!“ | |
| Mini ist zehn Jahre alt und überhaupt kein Modepüppchen – anders als ihre | |
| Mutter, die nichts im Kopf hat außer Botox, Make-up und die | |
| Schönheitswettbewerbe ihrer Tochter, die diese ganz offensichtlich | |
| ausschließlich für ihre Mutter gewinnen muss. „MiniMe“ heißt ja bereits … | |
| Titel, also: das Ich in Kleinformat, die Tochter, die das versäumte Leben | |
| ihrer Mutter nachholen soll. Die hat es nämlich nicht zum Model-Star | |
| geschafft – was sie sich selbst und ihrem Mann natürlich nie eingestehen | |
| würde. | |
| Eigentlich sind diese „Zehn Lektionen in Unterwerfung“, so der Untertitel | |
| der Inszenierung in der Volksbühne Berlin, eine finstere Angelegenheit. In | |
| einem modernen Betonbunker mit Pool und Kamin, eingerichtet in schickem | |
| Retrostyle, wird Mini von ihrer Mutter psychisch und emotional missbraucht, | |
| wie es im Lehrbuch steht. Aus Angst vor Liebesentzug zwingt sie sich zu | |
| allem, ohne es ihrer Mutter je recht machen zu können – nur wenn der Druck | |
| zu groß wird, lässt sie sich auf den Boden fallen und stellt sich tot wie | |
| ein Tier in Schockstarre. | |
| Die erste Hälfte des Abends, den [1][Kornél Mundruczó] inszeniert hat, wird | |
| als Live-Film auf die Außenwand des Hauses projiziert, das auf der Bühne | |
| steht. Davor steuert ein Musiker dröhnende, düstere Sounds bei. Erst als | |
| sich die Wand hebt, entpuppt sich das Innere als Kulisse, in der die | |
| Schauspieler agieren. | |
| ## Hyperrealismus mit Messerblock | |
| Man blickt auf den typischen Mundruczó-Hyperrealismus: Vom Messerblock an | |
| der Küchenwand bis zur angebrochenen Weinflasche auf der Anrichte ist das | |
| Haus detailgenau ausstaffiert. Je mehr das Stück voranschreitet, desto | |
| bizarrer wird es: Die Mutter bedroht den Vater mit dessen Jagdgewehr, sie | |
| spritzt Mini Botox ins Gesicht – während Mini mit einem gezielten Schuss | |
| aufs Meerschweinchen ihre Liebe beweisen muss. | |
| Die Nachwuchsdarstellerin Maia Rae Domagala macht das sehr überzeugend. | |
| Doch bei der bewährten [2][Volksbühnen-Schauspielerin Kathrin Angerer], die | |
| Minis Mutter gibt, klingt jeder Satz so ironisch gebrochen, als spreche sie | |
| einen Pollesch-Text. | |
| Alles wird Angerer zur Komödie, weil sie ihre Figur schlicht nicht ernst | |
| nimmt. Und mit Blick auf den Text kann man das verstehen: Der Horrortrip | |
| der Kinder, die von den Eltern als Verlängerung ihrer selbst missbraucht | |
| werden, hätte ins Mark treffen können, wenn die Erwachsenen im Stück nicht | |
| solche Karikaturen wären – der hemdsärmelige Jäger und das Modepüppchen m… | |
| Profilneurose. Ob die Autorin Kata Wéber dieses Karikatureske beabsichtigt | |
| hat? Unwahrscheinlich – bislang waren ihre Frauenfiguren ernsthafte | |
| Charaktere wie [3][Martha in „Pieces of a Woman“], die sich das Recht auf | |
| ihren Schmerz nicht rauben lässt. | |
| „Pieces of a Woman“ ist der Kinofilm, ursprünglich ein Theaterstück, der | |
| dem ungarischen Regisseur Kornél Mundruczó und seiner Autorin Wéber 2020 | |
| internationalen Erfolg beschert hat: Vanessa Kirby wurde für ihre | |
| Hauptrolle für einen Oscar nominiert. Der Film (auf Netflix zu sehen) zeigt | |
| das Leiden einer Frau nach dem Tod ihrer neugeborenen Tochter. Ungemein | |
| bedrückend die schonungslose 20-minütige Szene, in der wir Martha bei der | |
| misslingenden Hausgeburt zusehen. | |
| ## Serie von Mikroportraits | |
| Ein „Mikroportrait“ nennen es die beiden Künstler – und ein neuer Teil | |
| dieser Serie von Mikroportraits soll „MiniMe“ sein. Doch auf der Bühne | |
| wirkt es, als entlarve Angerer mit ihrer Spielart die mangelnde | |
| Glaubhaftigkeit der Figuren. | |
| So entwickelt sich der Abend zum grotesken Thriller, ästhetisch | |
| formvollendet, mitunter bitter komisch – allerdings auch flach und | |
| vorhersehbar. Immerhin hat René Pollesch mit dem ungarischen Duo endlich | |
| einmal Künstler ans Haus geholt, die noch nicht in Berlin zu sehen waren. | |
| Der Knoten seiner bislang so enttäuschenden Intendanz ist damit an der | |
| Volksbühne jedoch noch nicht geplatzt. | |
| 2 Feb 2022 | |
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| ## AUTOREN | |
| Barbara Behrendt | |
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