# taz.de -- „Pieces of a Woman“ auf Netflix: Die Heldin bewegt sich vorwär… | |
> Im Spielfilm „Pieces of a Woman“ von Kornél Mundruczó spielt Vanessa | |
> Kirby mit unorthodoxer Energie eine trauernde Frau. | |
Bild: Nah und fern zugleich: Martha (Vanessa Kirby) und Sean (Shia LaBeouf) | |
[1][Der ungarische Regisseur Kornél Mundruczó] ist ein Meister abgefahrener | |
Überhöhungen und seltsamer Metaphern. Mit seinen wuchtigen, von Pathos | |
getragenen Bildern vermag er zu irritieren. Dennoch sucht er nicht die | |
Überwältigung, seine Geschichten sind tief verankert in der Wirklichkeit. | |
Im Jahr 2014 zum Beispiel rüttelte er das Publikum von Cannes mit einer | |
wahrhaft knurrenden Rachefantasie auf: [2][„Underdog“ ist eine Parabel auf | |
die Politik eines Landes], die sich über die Ausgrenzung von Minderheiten | |
definiert. Ein ausgesetzter Labradormischling wird zum Anführer weiterer | |
geschundener Hundekreaturen. | |
Als zähnefletschende Meute ziehen die Tiere zu Franz Liszts Ungarischer | |
Rhapsodie durch Budapest. Bis zu 280 Hunde aller Größen und Rassen | |
choreografierte Mundruczó auf gespenstisch leeren Straßen und | |
nebelverhangenen Brücken. | |
Ein nicht weniger abgehobener Kommentar auf ungarische Verhältnisse ist der | |
Fantasyfilm „Jupiter’s Moon“ (2017). Erzählt wird die Geschichte eines | |
syrischen Flüchtlings, der von einem ungarischen Polizisten angeschossen | |
wird. Er überlebt und entwickelt übermenschliche Kräfte. Gleich einem Engel | |
wird er durch die Lüfte schweben, die Sehnsucht der Menschen nach Wundern | |
wecken und in unwirtlichen Flüchtlingslagern seinen Vater suchen. | |
## Die Hausgeburt | |
Überraschend erdenschwer ist hingegen der Anfang von [3][Mundruczós neuem | |
Film „Pieces of a Woman“]: Eine Geburt und damit ein Ereignis, das keiner | |
erzählerischen Überformung bedarf. Gerade erst haben wir die hochschwangere | |
Martha und ihren Lebensgefährten Sean kennengelernt, die in einer | |
gemütlichen Wohnung in einem ruhigen Bostoner Stadtviertel leben. Schon | |
sehen wir sie während der Hausgeburt ihres ersten Kindes. | |
Mundruczó komprimiert den Vorgang auf zwanzig Minuten, gedreht in einer | |
einzigen Einstellung. Die Schmerzen der jungen Frau fängt er in aller | |
Unmittelbarkeit ein, zeigt, wie sich der einzelne Augenblick für die | |
Gebärende ins Unendliche dehnt. Es ist ein physisches Wechselbad der | |
Gefühle. Martha schreit, brüllt. Ihr wird übel, sie rülpst. | |
Dann hellen sich ihre Gesichtszüge in freudiger Erwartung wieder auf. Die | |
Hebamme und Sean lassen ihr zur Entspannung ein heißes Bad einlaufen. Nach | |
der Geburt kommt es zu Komplikationen, der Krankenwagen muss gerufen | |
werden. Erst jetzt erscheint der Titel „Pieces of a Woman“. | |
Tatsächlich muss sich hier eine Frau neu zusammensetzen. Martha muss | |
verarbeiten, dass sie ihre kleine Tochter nur für einen Augenblick lebendig | |
in den Armen halten konnte. Es ist nicht das erste Mal, dass ein Film ein | |
mit dem Tod des Babys konfrontiertes Ehepaar zeigt. Die Abkapselung in der | |
jeweiligen Verzweiflung. Zwei Menschen, die sich im Schmerz aus den Augen | |
verlieren. Doch die Schwere des Verlusts schreibt sich nicht in die Bilder | |
ein. | |
## Zurück in den Alltag, das Leben | |
Der Film begleitet eine junge Frau, die versucht, sich dem Schmerz zu | |
stellen, ihren ureigenen Weg durch das Trauma zu finden. Wir sehen ihre | |
zunächst verhaltenen und dann immer entschlossener werdenden Schritte | |
zurück in einen Alltag, in ein Leben. Es sind diese Vorwärtsbewegungen | |
seiner Heldin, die „Pieces of a Woman“ eine überraschende und auch schöne | |
Kraft verleihen. | |
Es ist Kornél Mundruzcós erste englischsprachige Produktion, geschrieben | |
hat der 46-jährige Kino- und Theaterregisseur das auf eigenen Erfahrungen | |
beruhende Drehbuch gemeinsam mit seiner Partnerin Katá Wéber. Zuvor hatten | |
die beiden das Thema bereits für die Bühne aufgearbeitet. | |
In lose für sich stehenden Akten folgt der Film Marthas Trauerarbeit. Zu | |
Beginn jedes Abschnitts wird stets eine winterliche Flusslandschaft mit dem | |
jeweiligen Datum eingeblendet, im Vordergrund eine im Bau befindliche | |
Brücke. Hier hat Sean vor der Geburt des gemeinsamen Kindes gearbeitet. | |
Sein Traum, der Tochter die fertige Brücke zu zeigen, ist nicht in | |
Erfüllung gegangen. | |
Shia LaBeouf spielt Sean laut, polternd, ungelenk. Wie schon während der | |
Geburtsszene verharrt er auch später in der Position des Reagierenden. | |
Passiv-aggressiv setzt er Martha unter Druck, ihre Gefühle offenzulegen und | |
mit ihm zu teilen. Ohnehin ist seine Figur wegen ihrer proletarischen | |
Herkunft eher ein Fremdkörper in Marthas Familie. Der Mann mit dem | |
Hipsterbart und dem Hang zu albernen Witzen fühlt sich gedemütigt, als | |
seine Schwiegermutter dem Paar vor der Geburt einen Familienvan schenkt. | |
## Als beste Darstellerin ausgezeichnet | |
Die Britin Vanessa Kirby, die im vergangenen September auf den | |
Filmfestspielen in Venedig als beste Darstellerin ausgezeichnet wurde, | |
entwickelt für ihre Rolle als trauernde Frau eine unorthodoxe Energie. | |
Unbewusst scheint ihre Figur zu ahnen, dass es für die Trauerarbeit keine | |
vorgefertigten Konzepte gibt. Martha verweigert alle Anteilnahme, zieht | |
sich erst einmal in sich zurück. | |
Deshalb mag sie für ihre Umgebung verschlossen wirken, doch der Film und | |
das anteilnehmende Drehbuch sind auf ihrer Seite. Nach und nach versteht | |
man, weshalb sich die junge Frau in ihrem Schmerz nicht gemeint und | |
übersehen fühlt. Etwa wenn die Mutter ohne Absprache einen Grabstein | |
bestellt oder wenn Martha im Supermarkt zwischen Frischobst und | |
Tiefkühlregalen von einer Frau, die sich als gute Bekannte der Familie | |
ausgibt, übergriffigen Beleidsbekundungen ausgesetzt wird. | |
Ungläubig und fassungslos wirkt in diesen Szenen das Gesicht von Vanessa | |
Kirby. Man meint den Stich, der durch ihren Körper geht, förmlich zu sehen, | |
für einen Moment kommt der dahinter und tiefer liegende Schmerz zum | |
Vorschein. Die durchlässige Präsenz von Kirbys Spiel ist auch ein Gegenpol | |
zur dramatisch aufspielenden Musik. Marthas Entschlossenheit legt sich über | |
die allzu eingängigen Töne, sie gibt den Takt des Films vor. | |
Diese Heldin soll nicht auch noch durch die filmische Form bedrängt werden. | |
Wohl deshalb verzichtet Mundruzcó auf extreme Nahaufnahmen. Bevorzugt | |
arbeitet er mit der Halbtotalen, dabei ist seine Kamera ständig in | |
fließender Bewegung. Es entsteht eine Art ästhetischer Schutzraum, in dem | |
sich Martha ihrer Trauer nach und nach bewusst werden kann. | |
## Dominante Frau mit versteinertem Gesicht | |
Wenn sie in der U-Bahn sitzt und auf einen Vater blickt, der seinen kleinen | |
Jungen liebevoll umsorgt, oder wenn sie auf einem Spielplatz Eltern mit | |
ihren Kindern toben sieht, wirkt Martha nicht verzweifelt. Vielmehr scheint | |
sie sich am Glück der anderen zu erfreuen. Einmal streift sie ziellos durch | |
die Stadt, bummelt durch eine Shoppingmall und probiert Lippenstifte aus. | |
Vielleicht ist ihr der Anblick ihres Spiegelbildes noch fremd. | |
Fremd ist Martha auch die eigene Mutter Elisabeth. Gespielt wird die | |
dominante Frau mit dem versteinerten Gesicht von der großartigen | |
New-Hollywood-Darstellerin Ellen Burstyn („Die letzte Vorstellung“ von | |
Peter Bogdanovich; „Alice lebt hier nicht mehr“ von Martin Scorsese). Die | |
Dominanz ihrer Figur ist bildfüllend, sie lässt sich durch das Trauma ihrer | |
jüdischen Familie erklären. | |
Elisabeth will die Kontrolle. Sie möchte, dass Sean aus dem Leben ihrer | |
Tochter verschwindet. Sie verlangt eine Wiedergutmachung für den Tod der | |
Enkelin, strebt einen Prozess gegen die Hebamme an. In Elisabeths | |
Organisationswut, die letztlich nichts Mütterliches hat, kann sich Martha | |
nicht wiederfinden. Auch in diesem Familienkonflikt widersetzt sich die | |
junge Frau allen Erwartungen. Bis zum Schluss wird Martha mit ihrer Art der | |
Trauerarbeit für überraschende Wendungen sorgen und dabei wieder zu sich | |
finden. Nicht nur sie, auch wir sehen alles mit neuen Augen. | |
6 Jan 2021 | |
## LINKS | |
[1] /Bilanz-der-70-Filmfestspiele-von-Cannes/!5410030 | |
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## AUTOREN | |
Anke Leweke | |
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