| # taz.de -- Kollektiv Signa in Hamburg: Aalrituale in Gummistiefeln | |
| > Schlechte Gerüche im Wald: Das dänisch-österreichische Kollektiv Signa | |
| > inszeniert im Paketpostamt Altona seine neue Performance „Die Ruhe“. | |
| Bild: Mareike Wenzel und namenlose Waldwesen in „Die Ruhe“ | |
| Sanft legt er seinen Kopf in die Erde. Atmet ihren Geruch ein, als wäre er | |
| nun erlöst. Dann greift er mit seinen Händen in den Humus, wühlt Laub, | |
| Zweige, einen Regenwurm hervor und legt ihn zärtlich auf seine Hand. Der | |
| zehn Zentimeter lange Wurm schlängelt, windet sich. Wir knien davor, sollen | |
| ihn halten, streicheln, küssen. Ich erzähle von fiesen Kinderstreichen mit | |
| Scheren und von der Pausenhofwette meines Bruders. Da nimmt Hans (Omid | |
| Tabari) das Tier in den Mund, schiebt es erregt mit seiner Zunge hin und | |
| her. | |
| Kurz scheint sich der Wurm noch herausschlängeln zu können, dann beißt der | |
| Performer zu. Lustvoll wühlen seine Kiefer, erotisiert kaut er minutenlang. | |
| Dabei stöhnt er und beruhigt sich erst, als er den Wurm ganz | |
| hinuntergeschluckt hat. Jetzt sei er wieder eins geworden mit der Natur, | |
| sagt er fast entschuldigend, und die Natur in ihm. | |
| Dieses Tier sei ein Bote des Waldes und der Wald schließlich der Ort, auf | |
| den wir an diesem Abend vorbereitet werden sollen. Denn dort würden wir, | |
| die Präparanden, Ruhe finden. Ein schönes Versprechen. Und – bei einer | |
| Signa-Performance – ein gleichermaßen trügerisches. | |
| „Die Ruhe“ ist die jüngste Arbeit des dänisch-österreichischen | |
| Performance-Kollektivs und bedeutet fünfeinhalb Stunden | |
| [1][Intensiv-und-interaktiv-Theater] im leer stehenden Paketpostamt Altona | |
| (ein Bau aus den 60er Jahren, so hässlich wie sein Name), bei dem man von | |
| der ersten Minute die gemütliche Rolle des passiven, aber | |
| 2G-plus-Zuschauers verlässt und sich einlassen muss auf unnachgiebige, viel | |
| zu persönliche Fragen, absichtliche Grenzüberschreitungen und unvermittelte | |
| Interaktionen. | |
| ## Kuraufenthalt im „Erholungsinstitut Hamburg“ | |
| Eine Performance, während der man in eine entrückte Parallelwelt eintaucht: | |
| mit 30 weiteren Theaterbesucher*innen, genauso vielen unbeirrbaren | |
| Spieler*innen, zahlreichen, grandios inszenierte Räumen, tröpfelnden | |
| Thermoskannen, herzzerreißend traurigen Gesangseinlagen und Suppen, die | |
| aussehen wie schlecht püriertes Katzenfutter. Es ist eine dieser | |
| atmosphärischen, sogartigen Performance-Installationen, für die man sich | |
| aber auch wappnen sollte. Denn so leicht führt kein Weg wieder hinaus. | |
| Die Botschaft scheint diesmal friedlicher: Ein Kuraufenthalt im | |
| „Erholungsinstitut Hamburg“ wird den Teilnehmer*innen versprochen, | |
| einer, der diese nach verschiedenen Anwendungen auf ihren endgültigen Umzug | |
| in den dichten Wald vorbereiten soll. Der Wald: Mythos und Sehnsuchtsort | |
| der Romantik – und der Gegenwart, da garantiert coronafreie Zone. | |
| Die Szene mit dem Regenwurm ist also nur eine von vielen Anwendungen, die | |
| Aurel (Martin Heise) für uns – eine zufällig zusammengewürfelte Kleingruppe | |
| – vorbereitet hat. Aurel ist unser „Bezugswanderer“ und ehemaliger Patient | |
| einer psychiatrischen Heilanstalt. Doch all deren Insassen und | |
| Therapeut*innen sind eines nachts, wie die Aale dem Ruf der | |
| Sargassosee, dem Ruf der Natur gefolgt, heißt es. Und lebten nun im | |
| „Fasanenwald“ in der „Wald-Zweisamkeit“ oder, das ist das höchste Ziel… | |
| „Wald-Einsamkeit“. | |
| Dass dieser Wald kein so guter Ort ist, merkt man bald. Zu verstört wirkt | |
| Aurel, zu stockend ist seine Erzählung, zu tränenschwer sein Blick. Nach | |
| einer gemeinsamen Tasse modrigen Birkenrohrling-Tees sollen wir alles | |
| mitgebracht Unruhige ablegen und fortan in einer hellgrauen | |
| „Kuschel-Tracht“ von Raum zu Raum gehen. | |
| ## Ein intensiver wie verwirrender Abend | |
| Dort breiten Spieler*innen ihre surrealen Träume über uns aus wie | |
| bleierne Gewitterwolken, animieren uns in Gummistiefeln zu kreiselnden | |
| Aal-Ritualen oder lassen eine afrikanische Riesenschnecke über unsere | |
| ineinander verwobenen Handflächen (meine Hand liegt ganz, ganz unten!) | |
| gleiten und immer wieder tief in den Bauch atmen. Über die endlosen | |
| Linoleum-Flure wabern dumpfe Tonspuren und schlechte Gerüche, huschen | |
| fremdartige, in Fell, Äste und Laub gehüllte Wesen. | |
| Von fern tönen schiefe Blockflöten, laute Schreie und auch mal ein | |
| Vogelruf. Im Anwendungsraum „dunkler Wald“, unter tief hängenden Ästen, | |
| ausgestopften Vögeln und bröselndem Laub, wähnt man sich am Ziel. Doch dort | |
| weint Sandra (Signa Köstler) so bitterlich um ihren Geliebten Ewald und ist | |
| es so unfassbar dunkel, dass man den als Schwarzbären kostümierten | |
| Performer erst wahrnimmt, als dieser direkt vor einem steht. | |
| Mehr poetisch-assoziativ als stringent erzählen Signa Köstler und ihre | |
| Performer*innen in „Die Ruhe“ vom Menschen und seiner Projektionsfläche | |
| Wald – und dabei irritierenderweise so gar nicht vom Wald als potenziellem | |
| Klimaretter. Eine aufdringliche Mystik macht „Die Ruhe“ zu einem so | |
| intensiven wie verwirrenden Abend. | |
| Zu einem Abend, der einen Ausweg verspricht und Albträume auslöst, der | |
| Sehnsüchte triggert und zarte Seelen verletzt, der Mutproben und laubreiche | |
| Geisterbahnen bereithält, sektenartige Rituale vollzieht und innige | |
| Kleingruppen-Dynamiken ermöglicht. Es ist ein Abend, der einem nahegeht, | |
| unheimlich ist und unheimlich gut in diese Zeit passt, in der sich eine | |
| erschöpfte Orientierungslosigkeit breitmacht und damit die Sehnsucht nach | |
| „Ruhe“. | |
| Es ist ein Abend, der von Metamorphosen erzählt und vom Tod, und es ist ein | |
| Abend, der einen unfassbar froh macht, in der Stadt (und nicht im Wald) zu | |
| leben. | |
| 21 Nov 2021 | |
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| ## AUTOREN | |
| Katrin Ullmann | |
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