# taz.de -- Österreich und die 68er: Blut, Scheiß und Tränen | |
> '68 in Wien war bloß eine Kunst-, Avantgarde- und Boheme-Revolte. Man | |
> zeigte den Arsch in den Institutionen und sang wunderschöne Lieder dazu. | |
> War denn anderswo mehr? | |
Bild: Retrospektive zu Otto Muehls Werk in Wien - immer noch für einen Aufrege… | |
Revolutionäre müssen immer irgendetwas stürmen, das gehört sich so in einer | |
ordentlichen Revolution. Bastille, Winterpalais, was auch immer. In Wien | |
wollten sie 1968 das Burgtheater stürmen. Vielleicht ist das nur konsequent | |
angesichts des Theatralischen jeder Revolte. Jedenfalls ist es sehr | |
wienerisch. "Die Pluhar hat uns damals die Pläne des Burgtheaters besorgt, | |
damit wir uns einschleichen können. Man gab einen Hochhuth, und der Wussow | |
stand auf der Bühne. Wir wollten hinauf und dort ein Manifest verlesen", | |
erzählt André Heller, der damals schon ein Impresario war. Aber aus dem | |
Sturm auf das Burgtheater wurde dann irgendwie nichts, weil der Ossi | |
Wiener, ein legendärer Aktionskünstler, den Sturm vorher vollmundig durch | |
ein Megafon angekündigt hat - das hat leider auch die Polizei gehört. | |
Jener Ossi Wiener, der danach, um einer Haftstrafe zu entgehen, ins "Exil" | |
nach Berlin ging, dessen bleibendstes Vermächtnis kulinarischer Natur ist - | |
die Kreuzberger Kneipe gleichen Namens am Paul-Lincke-Ufer. Und Tochter | |
Sarah kocht auf allen Kanälen. Aber das ist schon das Ende der Geschichte. | |
Diese Geschichte ist in Österreich Kunst-Geschichte. "Der barocke Zug der | |
Theatralität war das besondere Kennzeichen der 68er-Bewegung in | |
Österreich", meint der Historiker Ernst Hanisch. Die Chiffre | |
"Achtundsechzig" ist in Österreich mehr als sonst wo mit Kunst verbunden. | |
Die Revolte in Wien war, wie das Magazin Profil schreibt, "anders als jene | |
in Berlin oder Paris keine dezidiert politische, sondern vor allem eine der | |
wilden Kunst und seltsamen Allianzen". Hauptakteure waren die Wiener | |
Aktionisten, das Land wurde kulturell entlüftet, wozu nicht zuletzt auch | |
modernistische Konservative ihren Beitrag leisteten. Oder exzentrische | |
Progressive. Achtundsechzig war hier eher: Lebensgefühl, Pop und | |
Avantgarde. Stones. Kerouac. Handke. | |
Aber es war auch eine Radikalität unter den Bedingungen der Normalität. Bei | |
Protestdemonstrationen gab es keine wilden Laufketten von Langhaarigen, auf | |
den Fotos der Straßenaktionen des Wiener Achtundsechzig sind vornehmlich | |
brav gescheitelte Burschen mit Anzug und Krawatte zu sehen, die ordentlich | |
demonstrieren. | |
Günther Nenning, Jahrgang 1921, öffnete den jungen Rebellen die Seiten | |
seines Neuen Forums - jener Zeitschrift, die von Friedrich Torberg in den | |
Fünfzigerjahren mithilfe der CIA gegründet worden war. Gerd Bacher, ein | |
knorriger, aber kultivierter Reaktionär, hatte die Führung des | |
öffentlich-rechtlichen ORF übernommen, das Fernsehen modernisiert und das | |
Radio revolutioniert. "Wann immer man aufdreht, säuselt einem ein | |
germanischer Schwachsinniger in die Ohren", schrieb Bacher in einem Dekret | |
und befahl scharf, das müsse sich ändern. Roy Black raus, Frank Zappa rein. | |
André Heller wurde zum Star des neuen Vollzeit-Popsenders Ö3, machte die | |
legendäre "Musicbox", ein avanciertes Text-Sound-Format, mit dem | |
Generationen denken und hören lernten. Abends saß man dann im Hawelka rum | |
und fühlte sich als Boheme. Helmut Qualtinger ("Herr Karl") war stets | |
dabei, und der Elias Canetti schaute auch gelegentlich vorbei. Chansonnier | |
Heller brachte 68 seine erste LP heraus, mit dem lakonischen Titel "Nr. 1". | |
Wenn Robert Schindel in Sichtweite kam, verdrückten sich die Freunde in die | |
Hauseingänge - garantiert würde er einen nötigen, sich wieder eines seiner | |
Gedichte anzuhören. "Die Wiener Studentenbewegung war poetischer, sie war | |
gemildert durch Schlamperei, wie das hier ja üblich ist. Es war uns alles | |
nicht so ganz ernst wie den Deutschen", sagt Schindel. Das hat ihn freilich | |
nicht daran gehindert, die "Kommune Wien" zu gründen und danach ein | |
bedeutender Führer der hiesigen Maoisten und Fürsprecher Pol Pots zu | |
werden. Schindel später: "Wir haben aus Mangel an Gelegenheit keinen | |
erschossen." Gefühlte hundert Jahre später hatte Schindel mit seinem Roman | |
"Gebürtig" den literarischen Durchbruch. | |
Zentral verbunden ist das Wiener Achtundsechzig freilich mit der | |
Kunstströmung des "Wiener Aktionismus", die von der Happening- und | |
Fluxusbewegung inspiriert war, aber diese auch selbst beeinflusste - | |
irgendwie sind da Geistespartikel zwischen Wien und Greenwich Village hin | |
und her geflogen. Die Aktionisten hatten schon die gesamten Sechzigerjahre | |
auf sich aufmerksam gemacht. So hatte der Aktionist Günter Bus 1965 seinen | |
"Wiener Spaziergang", bei dem er am ganzen Körper weiß bemalt durch die | |
Innenstadt ging. Eine schwarze, wie eine Narbe vom Schädel bis zum Schuh | |
verlaufende Linie scheint den Körper zu spalten. | |
"Ich wollte vom Heldenplatz bis zum Stephansdom gehen, doch schon in der | |
Bräunerstraße wurde ich aufgehalten. Man hat mich gewarnt, das gebe | |
entweder Irrenhaus oder Gefängnis. Die Aktion war freilich von Nervosität | |
begleitet, trotzdem hatte ich ein sehr gutes Gefühl. Ich wusste, ich mache | |
Kunstgeschichte." Der Polizist, der Brus aufgehalten hatte, vermerkte in | |
der Anzeige: "Sie haben, indem Sie mit weißer Farbe bemalt waren, ein | |
Verhalten gesetzt, welches geeignet war, Ärgernis zu erregen, und bei den | |
Passanten auch tatsächlich erregt hat, wodurch die Ordnung an einem | |
öffentlichen Orte gestört war." Das Strafmaß: 80 Schilling. | |
Es wird körperbetont, etwa in den Aktionen von Otto Mühl und Hermann | |
Nitsch. Kot ist im Spiel. Allerlei Körperflüssigkeiten. Blut. Die | |
Künstlerin Valie Export führt den Kunsttheoretiker Peter Weibel Gassi - er | |
hat eine Leine um den Hals und geht auf allen vieren. | |
Das Schlüsseldatum des Wiener 1968 ist nicht im Mai, sondern im Juni. Im | |
Hörsaal 1 des Neuen Institutsgebäudes der Universität Wien ist für den 7. | |
Juni ein Teach-in angesetzt: "Kunst und Revolution". Offizielle | |
Veranstalter sind die kommunistischen Sozialistischen Österreichischen | |
Studenten. Aber eigentlich steht ein "Körperanalyse"-Happening der | |
Aktionisten auf dem Programm. Valie Export schaltet das Mikrofon ein, Peter | |
Weibel hält einen Vortrag, Ossi Wiener redet über Sprachtheorie. Günter | |
Brus schneidet sich mit einer Rasierklinge in Brust und Schenkel, trinkt | |
seinen Urin, beschmiert sich mit Kot. Dann beginnt er am Katheder zu | |
onanieren und singt dazu die Bundeshymne. Ein späterer ORF-Redakteur lässt | |
sich als Masochist auspeitschen. Gemeinschaftlich wird weitgepinkelt. Mühl | |
misst, wer gewonnen hat. Es stinkt. | |
Unter die Studenten hatte sich auch Michael Jeannée gemischt, damals wie | |
heute Inbegriff des Revolverjournalisten. Der heutige Reporter der Kronen | |
Zeitung war damals für das Boulevardblatt Express unterwegs und machte eine | |
große Story über die "Stoffwechselparty" der "Sex-Kommunisten". Wien hatte, | |
woran die Stadt immer schon und stets ihre größte Freude hatte: einen | |
großen Kunstskandal. Schlagzeilen. Der Polizeipräsident schaltet sich ein. | |
Als "Uniferkelei" geht die Aktion in die österreichische | |
Nachkriegsgeschichte ein. Zwei Monate später werden die "Verbrecher" vor | |
Gericht gestellt, Mühl erhält ein paar Wochen, Brus sechs Monate unbedingte | |
Haft. Er setzt sich nach Berlin ab. Wiener folgt 1969, weil ihm eine | |
Verurteilung wegen Gotteslästerung winkte. Es gibt Verfolgungsdruck, und | |
die politischeren Achtundsechziger, die etwa in die Sozialdemokratie | |
hineinwirken oder die Arbeiterklasse wachkitzeln wollten, waren politisch | |
delegitimiert - schließlich waren sie nun mit "den Verrückten" | |
identifiziert, allesamt als "Kakademiker" verschrien, die am Katheder auf | |
die Flagge scheißen. Was das Proletariat ja nicht so richtig gut fand. Die | |
"Politischen" waren deshalb auch ein bisschen sauer auf die Künstler. | |
Dieter Schrage, später selbst Leiter des Museums des 20. Jahrhunderts, | |
verließ die Aktion schon vorzeitig und sagte im Abgehen: "Mit diesen | |
bürgerlichen Chaoten kann man keine Revolution machen." Was er heute so | |
kommentiert: "Das nimmt mir der Brus bis jetzt übel. Vielleicht zu Recht." | |
Längst sind fast alle aufgenommen ins Pantheon. Wiener erhielt 1989 den | |
Staatspreis für Literatur, Ehrendoktor in Klagenfurt ist er auch. Brus | |
bekommt 1997 den Großen Staatspreis für bildende Kunst, sieht das da aber | |
schon als "nichts Sensationelles" an, sondern "als selbstverständlich". | |
Heller ist der global aktive Entertainer-Impresario, stets unter | |
Kitschverdacht, dem die hochkulturellen Weihen versagt blieben, was ihn | |
bisweilen traurig macht. Valie Export ist auf den internationalen | |
Kunstmärkten eine fixe Größe. Schrage hat das Ehrenkreuz für Wissenschaft | |
und Kunst im Schrank. Hermann Nitsch hat sogar ein eigenes Museum - in | |
Mistelbach. | |
Vom "Täter" zum Staatspreisträger. Nur Mühl strauchelt. Er gründet die | |
"Kommune Friedrichshof", der er als autoritärer Diktator vorsteht. Bei | |
jungen Mädchen nimmt er sich das Recht der ersten Nacht heraus. Dafür wird | |
er 1991 wegen sexuellen Missbrauchs von Minderjährigen zu sieben Jahren | |
Haft verurteilt. | |
Richtig feministisch geht es freilich nirgendwo zu in der Kunstszene. "Die | |
Künstler waren furchtbare Machos - die Befreiung der Frau hat die überhaupt | |
nicht interessiert. Die brauchten Musen, die nach Möglichkeit auch gut | |
kochen sollten", sagt Susanne Widl, damals Model, heute Betreiberin des | |
Cafés Korb. Erika Pluhar war mit Udo Proksch verheiratet, der später die | |
Republik erschütterte, weil er die Lucona versenkte - ein | |
Versicherungsbetrug, den sechs Matrosen nicht überlebten. Dann tat sie sich | |
mit Heller zusammen, der später wiederum mit Gertraud Jesserer … Nichts | |
Aufregendes, keine "Befreiung durch Orgasmus": serielle Monogamie in den | |
Grenzen des Gewohnten. | |
Österreichs Achtundsechziger sahen sich stets als etwas zu kurz gekommen | |
an. Keinen Aufstand hatten sie zustande gebracht, sondern nur Kunstzeug. | |
Aber was, wenn sie damit die eigentliche Avantgarde waren? Die politischen | |
Utopien hatten sich ohnehin nur gnadenlos blamiert, und der Marsch durch | |
die Institutionen führte in die strenge Kammer der enttäuschten Hoffnungen. | |
Vierzig Jahre nach 68 ist der letzte Ort der Utopie die Kunst. Vielleicht | |
hat man das in Wien bloß früher gespürt. | |
ROBERT MISIK, 42 Jahre, lebt als Publizist in Wien | |
5 Jun 2008 | |
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Robert Misik | |
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