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# taz.de -- Kampf gegen Antisemitismus: Viele Worte, oft keine Taten
> Wie wichtig es ist, Antisemitismus zu bekämpfen, betonen Niedersachsens
> Minister gern. Im konkreten Fall fällt eine Strafverfolgung aber oft aus.
Bild: Lässt sich allein mit Broschüren nicht schützen: Tor der Liberalen Jü…
Hannover taz | In Niedersachsen wird Antisemitismus vor allem mit
Broschüren bekämpft. Diesen Eindruck könnte man jedenfalls bekommen, wenn
man einen Blick auf die seltsame Häufung von Pressekonferenzen zum Thema im
vergangenen Monat wirft.
Schon am 9. März stellte der Verfassungsschutzchef Bernhard Witthaut
zusammen mit Innenminister Boris Pistorius (SPD) die [1][Broschüre
„Antisemitismus im Extremismus“ vor]. Am 31. März folgte das
Justizministerium mit dem [2][Leitfaden „Antisemitismus im Fußball“], der
aus einem kleinen Forschungsprojekt der niedersächsischen Gedenkstätten und
des Jüdischen Weltkongresses hervorgegangen ist.
Und nur eine Woche später stellte wiederum die Justizministerin Barbara
Havliza (CDU) zusammen mit ihrem Landesbeauftragten gegen Antisemitismus
und für den Schutz jüdischen Lebens, Dr. Franz Rainer Enste, [3][dessen
ersten Jahresbericht vor]. „Zufall“ und ein „Versehen“ sei diese Häufu…
versichern die Organisator*innen. Koordiniert war das jedenfalls nicht.
Und das sagt vielleicht schon viel über die potenziell undankbare Rolle
Franz Rainer Enstes aus. Als Landesbeauftragter wurde er Ende 2019
offiziell ernannt – kurz nach dem Attentat von Halle. Das war aber
ebenfalls Zufall, denn die Entscheidung war lange vorbereitet worden. Nun
darf er – ehrenamtlich und unentgeltlich, aber unterstützt von einer
kleinen Geschäftsstelle im Justizministerium – überall mitwirbeln und
versuchen, die zahlreichen schon länger Aktiven in diesem Feld irgendwie
sinnvoll zu vernetzen.
Das wurde – auch von vielen jüdischen Gemeinden und Organisationen – erst
einmal mit Skepsis betrachtet. Enste weiß das sehr wohl und scheut sich
auch nicht, es anzusprechen. Er zitiert den [4][CDU-Politiker Michel
Friedman], der die Antisemitismusbeauftragten als „Placebo,
Selbsttäuschung, Alibi“ schmähte – und stürzt sich trotzdem mit Verve in
die Aufgabe. Damit habe er sogar ihn überzeugt, sagt der Vorsitzende des
Landesverbandes der Jüdischen Gemeinden von Niedersachsen, Michael Fürst.
Auch an anderer Stelle legt Enste seinen Finger in die Wunde. Es hat seinen
Grund, dass Justizministerin Havliza gleich mehrfach betont, dass „nicht
jede antisemitische Äußerung strafbar“ sei. Denn es hat in den vergangenen
Jahren in Niedersachsen eine ganze Reihe von Entscheidungen gegeben, die –
nicht nur – bei den jüdischen Gemeinden auf Unverständnis gestoßen sind.
Da ist zum Beispiel die umstrittene Entscheidung der Staatsanwaltschaft
Hannover, die [5][Europawahl-Plakate der Partei „Die Rechte“ mit der
Aufschrift] „Israel ist unser Unglück!“ nicht als Volksverhetzung zu
betrachten.
Da ist die Entscheidung des Amtsgerichtes Burgwedel, einen früheren
AfD-Funktionär und Allgemeinmediziner, der eine antisemitische Webseite
betrieben hat, mit einer Geldstrafe per Strafbefehl zu belegen – statt es
auf eine öffentliche Verhandlung ankommen zu lassen.
Und da sind die regelmäßigen offen antisemitischen Ausfälle und
Provokationen in Braunschweig, zum Beispiel durch den stellvertretenden
Kreisvorsitzenden der Partei „Die Rechte“, Martin Kiese.
Kiese hatte am Rande einer rechten Gedenkveranstaltung zum Volkstrauertag
am 15. November 2020 Journalisten als „Juden“, „Judenpresse“, „Judenp…
beschimpft. Die Staatsanwaltschaft Braunschweig argumentierte aber, sie
könne dies nicht verfolgen, weil „Jude“ objektiv betrachtet keine
Beleidigung sei.
Am 20. November 2020 rief „Die Rechte“ zu einer Mahnwache gegen den
Zionismus auf – von 19.33 bis 19.45 Uhr. Die Staatsanwaltschaft
Braunschweig erkennt darin „keine ausreichenden Anhaltspunkte für ein
strafrechtlich relevantes Verhalten“. Die Veranstaltung wurde unabhängig
davon abgesagt.
Am 19. Dezember 2020 warf Kiese erneut öffentlich mit antisemitischen,
sexistischen und homophoben Beleidigungen um sich, während er vor dem
Braunschweiger Bahnhof eine Flagge schwenkte. Beide Auftritte sind nach wie
vor auf Twitter zu sehen. Dieses Mal erkannte die Staatsanwaltschaft
„objektiv diverse Beleidigungen“, bedauerte aber, niemanden zur Hand zu
haben, der davon unmittelbar betroffen war.
Mit Hilfe der Dresdener Rechtsanwältin Kati Lang [6][hat nun einer der
betroffenen Journalisten Strafanzeige gestellt] – und auch gleich
Beschwerde gegen die Einstellung der Verfahren eingelegt. Die liegt nun bei
der Generalstaatsanwaltschaft, die sich bisher nicht geäußert hat.
Expert*innen der Recherche- und Informationsstelle Antisemitismus
Niedersachsen (Rias), die bei der Amadeu-Antonio-Stiftung angesiedelt ist,
kritisieren vor allem die „Bagatellisierung von Antisemitismus von Seiten
der Justiz“, die sich in diesen wiederholten Verfahrenseinstellungen
ausdrücke.
## Grenzen des Strafrechts
Franz Rainer Enste, selbst Jurist, lässt ebenfalls durchblicken, dass er
sich ein schärferes Vorgehen gewünscht hätte. Er glaubt aber auch, dass es
hier ein weitergehendes Problem gibt. „Es gibt eine Strafbarkeitslücke
zwischen Beleidigung und Volksverhetzung. Volksverhetzung setzt immer
Öffentlichkeit voraus, Beleidigung die Anzeige eines Betroffenen. Vielen
Dingen wird man damit nicht Herr – wie zum Beispiel hetzerischen E-Mails
oder Kommentaren, die nur eine begrenzte Öffentlichkeit erreichen.“
Da müsse nachgebessert werden, man müsse „die Grenzen der Meinungsfreiheit
neu justieren“. Aber, ergänzt er, ganz im Sinne seiner Dienstherrin, der
Justizministerin, ließe sich natürlich auch nicht alles mit dem Strafrecht
regeln. Es brauche vor allem Bildungsoffensiven auf allen Ebenen und eine
neue Wertschätzung jüdischen Lebens.
Mitarbeit: David Speier
15 Apr 2021
## LINKS
[1] https://www.mi.niedersachsen.de/startseite/aktuelles/presseinformationen/an…
[2] https://www.mj.niedersachsen.de/startseite/aktuelles/presseinformationen/an…
[3] https://www.mj.niedersachsen.de/startseite/aktuelles/presseinformationen/me…
[4] /Michel-Friedman-ueber-Menschenhass/!5477285
[5] /Antisemitische-Hetze-auf-Wahlplakaten/!5745077
[6] https://www.amadeu-antonio-stiftung.de/staatsanwaltschaft-stellt-freibrief-…
## AUTOREN
Nadine Conti
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Antisemitismus
Niedersachsen
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Schwerpunkt Rassismus
Kolumne Der rechte Rand
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