# taz.de -- Schriftstellerduo Weber und Helle: Ein Paar beschreibt sich | |
> Julia Weber und Heinz Helle haben zusammen Kinder bekommen und über ihr | |
> Leben und Schreiben jeweils einen Roman geschrieben. | |
Bild: Einmal Mutter-, einmal Vaterschaft stehen im Fokus der beiden Romane | |
Julia Weber und Heinz Helle sind ein schreibendes Paar. Sie haben sich am | |
Schreibinstitut in Biel in der Schweiz kennengelernt, Romane verfasst, | |
Anerkennung erhalten, haben eine gemeinsame Tochter, haben Arrangements | |
gefunden, das Schreiben und das Leben zu trennen und zu verbinden. Das | |
alles ginge die literarische Öffentlichkeit nicht unbedingt etwas an, wären | |
nun nicht im Abstand eines halben Jahres zwei Bücher der beiden erschienen, | |
die diese Trennung von Leben und Schreiben gezielt unterlaufen. | |
In diesem Frühjahr erschien „Die Vermengung“ von Julia Weber, kürzlich im | |
September „Wellen“ von Heinz Helle, und wie sehr die beiden Bücher trotz | |
des Abstands miteinander zu tun haben, den Kontakt suchen und sogar | |
ausstellen, wird schon daran klar, dass Weber in ihrem Buch neben vielen | |
anderen Autorinnen und Autoren auch Heinz Helle zitiert, und zwar eine | |
Passage aus „Wellen“, dem Buch, das erst Monate später erschien. | |
Diese Passage ist eine Liebeserklärung des Ich an das in „Wellen“ immer | |
adressierte Du, und es ist keine Frage, dass dieses Ich beinahe mit Heinz | |
Helle verwechselbar ist und das Du mit Julia Weber, wenn er, wie sie in | |
ihrem Buch zitiert, in seinem Buch schreibt: „Und deswegen wurde das dann | |
für mich alles eins, du, ich, die Welt und die Sprache, und seitdem habe | |
ich nur einen Wunsch: dass das immer so bleibt.“ | |
Es ist einerseits mit der Literatur sowieso so, mit einem Zitat der | |
Schriftstellerin Natalia Ginzburg aus Webers „Vermengung“: „Es ist alles | |
erfunden, aber die Autobiografie geht durch die Tür hinaus und kommt zum | |
Fenster wieder herein.“ | |
## Autofiktion im Zentrum der literarischen Diskussion | |
Aber wenn man die Fenster selbst öffnet und einladend winkt, wenn Du und | |
Ich, die Welt und die Sprache sich zu einem schwer trennbaren Ganzen | |
verbinden, wenn die biografischen Fakten der Figuren im Buch denen der | |
Autorin und des Autors nachprüfbar gleichen, [1][dann ist es Autofiktion,] | |
also ein der Erfindung gegenüber skeptisches Schreiben, das die Nähe zu | |
realen Personen und zum wirklichen Leben betont, ein Schreiben, das seit | |
einigen Jahren vom Rand ins Zentrum der literarischen Diskussion gerückt | |
ist, mit Autoren wie [2][Karl Ove Knausgård] oder Emmanuel Carrère und | |
Autorinnen wie der [3][Nobelpreisträgerin Annie Ernaux] (die bei Weber | |
erwähnt wird) oder Maggie Nelson, die bei Weber wie Helle zitiert wird und | |
vorkommt. | |
Weder Weber noch Helle spielen mit der Nähe ihrer Bücher zum Leben, aber | |
auch der Nähe ihrer Leben und Bücher zueinander Verstecken. So ist nicht | |
nur bei Helle das als seine Partnerin erkennbare Du immer präsent, auch bei | |
Weber ist ein H. (wie Heinz) Vater der Kinder, Lebenspartner, Adressat von | |
Mails oder Briefen, die eingestreut sind in den Text. Die ältere Tochter | |
erscheint in beiden Büchern als B., die jüngere, gerade geborene als Z., es | |
gibt eine Freundin namens A. und so immer weiter. | |
In „Wellen“ ist Z. schon geboren, das Ich schreibt über sein Leben als | |
Vater, seine Anstrengungen, die Sorge für das Kind (die er sich mit seiner | |
Partnerin, der Hauptverdienerin, teilt), das Windeln, das Wärmen von | |
Fläschchen, den Mangel an Schlaf, die mit der Pandemie verbundenen | |
Überforderungen, die Liebe für und die Angst um das fragile neugeborene | |
Wesen, aber auch über die Ungeduld und die aus der Erschöpfung | |
hervorbrechende Wut – und darüber, wie sich all das mit dem anderen Teil | |
des Lebens verbinden lässt, der das Schreiben ist. | |
## Das Schreiben, „die Kunst“ | |
„Die Vermengung“ setzt früher ein, die Ich-Erzählerin Julia Weber ist | |
schwanger und stellt sich die Frage, ob sie das Kind wirklich will, wie das | |
Leben dann noch mit dem zu verbinden sein wird, was ihr, als geistiges | |
Mittel zum Leben, nicht minder wichtig ist als eben das Leben, nämlich das | |
Schreiben oder, wie es immer wieder emphatisch heißt, „die Kunst“. | |
Diese Fragen stellen sich, diese Fragen stellt sie sich, aber eben in | |
diesem Buch, das, während der Schwangerschaft und danach entstanden, | |
zugleich auch schon die Antwort ist. So geht es, denn hier ist es ja, das | |
Zeugnis der Verbindung, der „Vermengung“ von Mutterschaft, Leben, | |
Partnerschaft, Schreiben und Reflexion über die Frage, wie das alles | |
möglich sein soll: eben als Autofiktion, als offene Form aus Erzählen, | |
Reflektieren, Zitieren, Direkt-Adressieren, die den Partner, die Kinder, | |
Freunde, auch die an Krebs erkrankende Mutter in den Text holt. | |
Ein weiteres Element kommt hinzu, eine literarische Parallelaktion, kursiv | |
gesetzt, nämlich Teile eines Romans als Fiktion mit fantastischen Zügen. | |
Auch hier gibt es autobiografische Nähen, der Ich-Figur, die hier Ruth | |
heißt, zur Autorin, weniger schon des zur Gewalt neigenden Manns namens | |
Karl; um alles noch vermengter zu machen, diskutieren Weber und Helle als | |
Figuren im Buch über die Frage, ob er diesem ziemlich schrecklichen Karl | |
trotz allem doch ähnelt, ein wenig, aber auch wenig wäre zu viel. | |
## Familie, Leben, Liebe und Schreiben | |
Daneben liegt im Kursivromanfragment eine lesbische Liebe, beim Sex bekommt | |
der Körper der anderen Frau namens Linda tierische Texturen, es ist aber | |
eine Verwandlung ins Zarte und Feine, eine Verschiebung eher denn klarer | |
Kontrast: Es stellen sich hier durchaus ähnliche Fragen, über | |
Vereinbarkeiten von Familie, Leben, Liebe und Schreiben; sie sind aber | |
geschildert in anderen Tönen und Farben. | |
Verschiebungen und Vermengungen dieser Art gibt es in Heinz Helles „Wellen“ | |
nicht. Es ist ein Text in kürzeren und längeren Absätzen, aus am frühen | |
Morgen niedergeschriebenen Notizen komponiert, es spricht oder schreibt | |
durchweg ein Ich. | |
Die Mehrzahl der Absätze beginnt mit dem Verbindungswort „und“. Im Ton | |
ergibt das eine Suada, die in ihrem Kreisen um wiederkehrende Themen, in | |
ihrer Fixierung auf das äußere und innere Leben des Ich, näher am Tagebuch | |
ist als am Roman – als solcher ist das Buch allerdings ausgewiesen. | |
## Tochter, Haus, Forschungsprojekt | |
Es geht um die Familie, die neugeborene Tochter, aber auch den Traum von | |
einem Haus in Schweden, um ein wissenschaftliches Forschungsprojekt über | |
den Krieg, aber auch eines über die fluiden Grenzen von Realität und | |
Fiktion: Damit schließt sich ein weiterer Kreis der Autofiktion. | |
Den Sinn seines Schreibens als Aufzeichnung eines Lebens sieht Helle (bzw. | |
„Helle“, aber an solchen Stellen wird die Differenz zwischen Ich-Erzähler | |
und realem Autor wirklich hauchdünn) so: Da „gibt es dann mich, der immer | |
noch an die Möglichkeit glaubt, es könne von Bedeutung sein, schriftlich zu | |
dokumentieren, wie es ist, in dieser Welt zu leben, heute und hier, obwohl | |
das ja streng genommen niemand nachlesen muss, es erleben ja alle selbst.“ | |
Helle macht sich also zur seismografischen Sonde, versucht sich selbst zu | |
verstehen als seismografische Sonde, die die Gegenwart festhält; und zwar, | |
sozial gesehen, aus der Perspektive des in der Schweiz recht wohl | |
situierten weißen Autors, der sich seine Zweifel an sich, der | |
Partnerschaft, der Existenz leisten kann. | |
Es ist eine Art Wette: Das Persönliche und Private wird als | |
verallgemeinerungsfähig verstanden, besonders und zugleich anschlussfähig, | |
bei Themen wie Vaterschaft, Pandemie, Partnerschaft. | |
## Wann ist ein Mann ein Mann? | |
Im Fortgang des Buchs drängt immer stärker die Frage ins Zentrum, was es | |
heißt, ein Mann zu sein, der in der Selbstbeobachtung mit sich ringt: Woher | |
kommt die Wut, die in Gewalt umschlägt, wenn er, die Szene spielt auch in | |
Julia Webers Buch eine Rolle, einen Tisch an die Wand knallt? Wohin mit | |
den lüsternen Blicken auf andere Frauen, wie loskommen vom teils massiven | |
Pornokonsum? Zwischenfazit: „Ich will versuchen, mich trotzdem zu mögen, | |
obwohl ich nur ein verwirrter, unentschlossener, wehleidiger Mann bin.“ | |
Man kann die beiden Bücher des schreibenden Paars unabhängig voneinander | |
lesen, beide lohnen auch für sich die Lektüre, aber interessanter werden | |
sie, und zwar beide, im Bezug aufeinander. Die doppelte Belichtung des | |
vermengten Lebens und Schreibens macht den Raum der Autofiktion | |
mehrdimensional. | |
Die Perspektiven stehen schräg zueinander, nicht nur, aber natürlich auch | |
der Geschlechterdifferenz wegen. Beide Bücher sind Projekte, die darum | |
ringen, sich im Schreiben Rechenschaft über das Leben zu geben. Sie tun es | |
zugleich raffiniert und direkt. Die Nacktheit, in der sich die Ich-Figuren | |
darin zeigen, berührt – und überzeugt auch ästhetisch, weil sie es in | |
durchsichtige Autofiktion gehüllt tun. | |
20 Oct 2022 | |
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## AUTOREN | |
Ekkehard Knörer | |
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