| # taz.de -- Autobiographie einer Bühnenbildnerin: Emanzipation und freie Liebe | |
| > „Eine europäische Frau“ heißt die Autobiografie der Bühnenbildnerin | |
| > Gunilla Palmstierna-Weiss. Ihr Blick ist unbestechlich, aber versöhnlich. | |
| Bild: Gunilla Palmstierna- Weiss fotografiert 2016 in der Akademie der Künste … | |
| Als Gunilla Palmstierna 1928 in Lausanne geboren wird, nehmen sich ihre | |
| Eltern Vera und Kule eine Auszeit. Der Antisemitismus und Standesdünkel der | |
| Familie des Vaters in Stockholm regieren in die junge Familie hinein. Sie | |
| richten sich gegen die Herkunft der Mutter, die aus einer jüdischen | |
| Buchdruckerfamilie stammt. | |
| Die Ehe der Eltern scheitert trotz aller Bemühungen, Gunilla und ihr | |
| älterer Bruder Hans, zu dem sie lebenslang ein enges Verhältnis pflegt, | |
| werden auf Verlangen des Vaters zwei Jahre in einer Pflegefamilie | |
| untergebracht. Die Mutter lernt in Wien einen neuen Mann kennen, sie ziehen | |
| nach Holland. Bald bricht der Krieg aus. Als Zwölfjährige erfährt sie im | |
| Mai 1940 von der Bombardierung und Besetzung Rotterdams durch die | |
| Wehrmacht. Die Mutter Vera und ihre nunmehr drei Kinder entgehen nur durch | |
| eine Lücke in der nationalsozialistischen Gesetzgebung der Deportation. | |
| Die Autobiografie der Bühnenbildnerin, Bildhauerin und Keramikerin Gunilla | |
| Palmstierna-Weiss ist Sozial-, Kultur-, und Theatergeschichte und | |
| Bildungsroman zugleich. Beeindruckend ist die Offenheit und | |
| Unbestechlichkeit ihres Blicks, zugleich verbunden mit dem Wunsch, die | |
| Dinge von allen Seiten begreifen zu wollen, worin ebenso ein Stück | |
| Versöhnlichkeit steckt, so ausweglos es manchmal scheint. | |
| Ihre Erinnerungen erscheinen zu einem Zeitpunkt, an dem die Ereignisse in | |
| Europa und in der Welt wieder in einer so hohen Schlagzahl passieren, ohne | |
| dass Zeit bliebe, in Ruhe nachzudenken. Dieses Buch lässt innehalten. Es | |
| ist ein Porträt des letzten Jahrhunderts mit all seinen Zäsuren, es sind | |
| Erinnerungen einer Künstlerin, die der Zivilisationsbruch des | |
| nationalsozialistischen Deutschlands prägen und von dem politisch und | |
| intellektuell sich konstituierenden Europa erzählen, mit scharfsinniger | |
| Lakonie und zugleich Empathie. | |
| ## Freie Liebe gerät Frauen zum Nachteil | |
| Nach dem Zweiten Weltkrieg nimmt sie ein Studium an der Stockholmer | |
| Konstfack auf. 1948 heiratet sie den Grafiker Mark Sylwan, Ende 1949 wird | |
| ihr Sohn Mikael geboren. Als sie nach der Geburt nach Hause kommt, ist die | |
| Exfrau wieder eingezogen. Wie schon bei ihren Eltern geht das Konzept der | |
| offenen Beziehung nicht auf. Die Verantwortung für die Care-Arbeit kommt | |
| den Müttern zu, während Entscheidungsbefugnisse immerzu bei den Vätern | |
| bleiben. Die sogenannte freie Liebe gerät vor allem Frauen zum Nachteil, | |
| stellt sie fest, denn die patriarchalen Strukturen, vom Sorgerecht bis zur | |
| Vermögensverteilung bei Tod oder Trennung, spielten den Männern in die | |
| Hände. | |
| Doch langsam ändern sich die Dinge. Wenn auch nicht unbedingt in | |
| Deutschland, wie sie im Jahr 1964 anmerkt, als sie am Berliner | |
| Schillertheater das Bühnenbild von „Marat/Sade“ ihres zweiten Mannes, | |
| [1][des Schriftstellers und Malers Peter Weiss], verantwortet. Die | |
| „demokratische Arbeitsweise“ zwischen ihnen findet keinen Eingang ins | |
| Programm, in dem steht, dass Peter Weiss es entworfen habe. Die | |
| Theaterleitung fand es „rührend“, dass die Ehefrau mitgeholfen habe. Es | |
| war, schreibt sie, als ob man wieder ins 19. Jahrhundert katapultiert | |
| worden sei. | |
| Sie schildert eindrücklich die Reise nach Auschwitz 1965, die Peter Weiss | |
| und sie in Vorbereitung auf die Inszenierung „Die Ermittlung“ unternehmen. | |
| In derselben Reisegruppe befinden sich Angeklagte der Frankfurter | |
| Auschwitz-Prozesse, die noch einmal an den Ort ihrer Täterschaft gebracht | |
| werden. [2][„Die Ermittlung“] wird ein noch größerer Erfolg als | |
| „Marat/Sade“ und an 17 Bühnen in der DDR und in der BRD zeitgleich | |
| aufgeführt. | |
| Auf einem Jahrmarkt in schwedischen Kivik hatte sie im Sommer 1952 Peter | |
| Weiss kennengelernt. Sie werden ein Paar, und es ist der Beginn einer | |
| lebenslangen, intensiven Zusammenarbeit und Liebe. | |
| Palmstierna-Weiss erzählt Geschichte mittelbar durch die Biografien | |
| bekannter oder unbekannt gebliebener Personen: die des unehelichen, | |
| schwulen Großonkels Mauritz Herzog und der Nachbarin Anna Lundmark ebenso | |
| wie die der Zusammenarbeit mit Peter Brook und [3][Ingmar Bergman] oder der | |
| Begegnungen mit Anna Seghers und [4][Agnès Varda] – mitsamt der geriebenen | |
| Möhren, die sie bei einem Besuch in Paris von Samuel Becketts Frau | |
| angeboten bekommt. | |
| 1972 wird sie überraschend, vielleicht kurz vor der Trennung stehend, nach | |
| einer Affäre von Peter Weiss mit Maria Augstein, noch einmal schwanger. | |
| Ihre gemeinsame Tochter Nadja wird geboren. | |
| Der intensive Austausch, die geschmiedeten Bündnisse, die engen | |
| Freundschaften sind nicht immer konfliktfrei. Aber trotzdem geht es gegen | |
| alle Widerstände darum, das Herz offenzuhalten für die Kunst und das | |
| Menschsein. | |
| 18 Oct 2022 | |
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| ## AUTOREN | |
| Michaela Maria Müller | |
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