# taz.de -- Zum 100. Geburstag von Peter Weiss: Beschreibungen als Befreiung | |
> „Abschied von den Eltern“: In den frühen Büchern von Peter Weiss | |
> schreiben Ich-Erzähler mit weit aufgerissenen Augen. | |
Bild: Dort beginnt der Roman „Der Schatten des Körpers des Kutschers“ | |
Sein gerade einmal hundert Seiten kurzer Roman „Der Schatten des Körpers | |
des Kutschers“ ist wohl eines der seltsamsten literarischen Debüts, die es | |
je gegeben hat. Am Anfang sitzt ein namenloser Ich-Erzähler tatsächlich auf | |
einem Plumpsklo und beobachtet durch die halb offene Tür seine Umgebung. | |
Es ist die Umgebung eines ländlichen Gutshofes. Es gibt Schweine und | |
Krähen. Ein Hausknecht arbeitet mit einer Säge. Das alles registriert der | |
Ich-Erzähler und schreibt es auf. Und dann beschreibt er auch noch das | |
Klohäuschen selbst. „Die Innenwand des Abtritts ist mit körniger Teerpappe | |
bespannt, jedoch hat die Feuchtigkeit große Beulen in die Pappe getrieben | |
und an einigen Stellen hängt sie mit aufgerissenen Fladen herab; die | |
dünnen, schimmernden grauen Latten liegen entblößt darunter.“ | |
Mehr als dass irgend etwas geschieht und der Ich-Erzähler es wie mit | |
aufgerissenen Augen aufschreibt, geschieht in dem Buch eigentlich nicht. | |
Bis am Schluss der Schatten des Kutschers kommt und mit dem Schatten der | |
Haushälterin Sex hat. | |
Im Studium der Literaturwissenschaft kann man lernen, dass dem Erzähler | |
hier, vorbildlich modern, die Wirklichkeit zerfällt. Wenn man sich das aber | |
heute noch einmal durchliest, fällt vor allem auf, wie viel Kraft, ja sogar | |
Macht Peter Weiss seinen Beschreibungen zutraut. Und damals eben nicht nur | |
er selbst. Man stelle sich vor, heute würde ein Schriftsteller mit so einem | |
Erstling herauskommen. Vielleicht käme es zu einer persönlichen Erwähnung | |
auf der SWR-Bestenliste. Das wärs wohl. Peter Weiss war aber damals, 1960, | |
literarisch in aller Munde. | |
## Näher an Wahrhaftigkeit herankommen | |
Das war auf dem Höhepunkt der deutschen Nachkriegsliteratur. 1959 waren | |
„Die Blechtrommel“, „Billard um halb zehn“ und „Mutmaßungen über Ja… | |
erschienen. Die deutsche Literatur konnte sich also wieder sehen lassen. | |
Und dann gab Weiss, wahrscheinlich muss man sich so seinen Erfolg erklären, | |
gleich wieder einen Stachel hinein, eine Idee von literarischer | |
Radikalität. Auf jeden Fall entstand eine Art Wettbewerb, | |
Erzählkonventionen endgültig wegwischen, um näher an Wahrhaftigkeit | |
heranzukommen. Ein Wettbewerb, der bei Peter Handke und Ingeborg Bachmann, | |
Rolf Dieter Brinkmann und Bernward Vesper landete. | |
Wie viel Kraft in den Beschreibungen des Autors Peter Weiss liegt, zeigte | |
sich endgültig 1961, als sein zweites Buch, „Abschied von den Eltern“, | |
herauskam. Wieder ein schmaler Band. Keine Kapiteleinteilungen, noch nicht | |
einmal Absätze. Und doch ein Buch, das den 68ern, die es damals noch gar | |
nicht gab, schon zeigte, wie tief sie würden graben müssen, um die | |
Gesellschaft zu verändern. Mit Anti-Vietnamkrieg und Sozialismus war es | |
nicht getan. Allen, die dieses Buch gelesen hat, muss klargewesen sein, | |
dass er in den Infight mit den eigenen Eltern und den eigenen Gefühlen wird | |
gehen müssen. Familie, Kindererziehung, Pädagogik, Sexualität, | |
Geschlechterverhältnisse – alles musste gründlich auf den Prüfstand. | |
Es ist wohl gar nicht angebracht, „Abschied von den Eltern“ so | |
autobiografisch zu lesen, wie es daherkommt. Bei der Beschreibung des | |
stark-schwachen Vaters schimmern Muster durch, wie sie Kafka in seinem | |
„Brief an den Vater“ vorgegeben hat. Die Figur der gutmütigen Haushälterin | |
Auguste, die als emotionaler Wärmepol gegen die kalte Mutter steht, ist | |
geradezu ein literarischer Topos. | |
Es ist also kein authentischer, sondern ein literarisch geschulter Blick | |
auf die Schrecken des Heranwachsens. Aber man bekommt bis heute beim Lesen | |
des Buches schon mit, wie schrecklich fremd man sich als sensibler Mensch | |
in seiner eigenen Familie gefühlt haben muss. Von seiner „Hilflosigkeit“, | |
seinem „Ausgeliefertsein“, seiner „blinden Auflehnung“ schreibt der | |
Erzähler und meint seine Kindheit, die Zeit, als „fremde Hände mich | |
bändigten, kneteten und vergewaltigten“. | |
Aber dann gibt es da eben auch die Beschreibungen, sie geben dem Erzähler | |
die Möglichkeit, sich aus den vorgegebenen Gewaltverhältnissen zu befreien. | |
In der Schule wird er einmal mit dem Rohrstock bestraft. „Am Ohr wurde ich | |
hinauf auf das Podium vor die Wandtafel gezogen. […] Die Klasse war eine | |
einzige, dicke blutdürstige Stille.“ Das Wort „dick“ ist hier stark. Es … | |
eine der heftigsten Szenen in diesem an Heftigkeit reichen Buch. Und es ist | |
ein nachträglicher erzählerischer Triumph oder wurde jedenfalls so | |
verstanden. Die Befreiung des Erzählers liegt darin, dass er genau hinsehen | |
kann bei seiner eigenen Misshandlung. Wer die Strafe mit dem Rohrstock so | |
kunstvoll beschreiben kann wie Peter Weiss an dieser Stelle, über den hat | |
sie keine Macht mehr. | |
Was er im „Schatten des Körpers des Kutschers“ eingeübt hatte, erprobt | |
Peter Weiss nun an seiner eigenen Herkunft. Genaues Beschreiben, das war | |
Befreiung. „In den Büchern zeigte sich mir eine andere Realität des Lebens | |
als die, in die meine Eltern und Lehrer mich pressen wollten. Die Stimmen | |
der Bücher forderten, dass ich mich öffnete und auf mich selbst besann“, | |
heißt es in „Abschied von den Eltern“. Das ist das, was uns mit unserem | |
ironisch gebrochenen Literaturverständnis von seinen ersten Büchern trennt. | |
Aber man kann sich ja wieder daran erinnern. | |
8 Nov 2016 | |
## AUTOREN | |
Dirk Knipphals | |
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