| # taz.de -- Tagebücher von Alice Schmidt: A. wieder wetternd | |
| > Kriegstrauma und Größenwahn: Alice Schmidts Tagebücher aus den Jahren | |
| > 1948/49, als ihr Mann noch nicht der berühmte Arno Schmidt war. | |
| Bild: Arno Schmidts Frau, Sekretärin und Tagebuchschreiberin Alice Schmidt | |
| Warum wird jemand Autor? Bestimmt nicht, um ein sicheres Auskommen zu | |
| finden. Wahrscheinlicher ist in diesem Metier der frühe Ruin. Von dieser | |
| Gefahr zeugen Alice Schmidts Tagebücher 1948/49. Ihr Ehemann Arno schloss | |
| 1948 seinen ersten Vertrag mit dem Rowohlt Verlag ab. Grundlage des | |
| Übereinkommens war Schmidts Debüt „Leviathan“. Nach seinem Erscheinen im | |
| Herbst 1949 begründete der Text Schmidts Ruhm als führender Nonkonformist | |
| der frühen deutschsprachigen Nachkriegsliteratur. | |
| Dies war 1946 noch nicht absehbar. Ohne den blassesten Schimmer, wie man | |
| sich als Schriftsteller angesichts karger Verlagsvorschüsse über Wasser | |
| halten kann, entschied sich Schmidt, als freier Autor zu arbeiten. Bereits | |
| im vollen Nachlassbewusstein, aber noch so gut wie ohne Werk, gab der | |
| Künstler seiner Frau den Auftrag, ihren Alltag in einem Tagebuch | |
| festzuhalten. | |
| Das Ergebnis darf man zu den frappierendsten Dokumenten der | |
| Nachkriegs-Boheme zählen. Nicht zuletzt aus feministischer Sicht: Alice | |
| Schmidt schrieb kaum auf, was sie in jenen Jahren selbst bewegte. | |
| Herausgeberin Susanne Fischer schreibt in ihrem Vorwort, die Autorin habe | |
| neben ihren praktischen Tätigkeiten als Hausfrau und Sekretärin ihres | |
| Gatten vor allem die Aufgabe übernommen, „ihren sensiblen Mann in dieser | |
| unübersichtlichen Situation psychisch zu stützen“. Bei der Lektüre ihrer | |
| Tagebücher ist unschwer zu erkennen, wie hart diese Zeit vor allem für | |
| Alice Schmidt gewesen sein muss. | |
| ## Unter Gemaule | |
| Die Schmidts lebten zu dieser Zeit in einer Einzimmerflüchtlingswohnung im | |
| Mühlenhof in Cordingen, einem Kaff in der Lüneburger Heide. Nebenan im Wald | |
| lag die Eibia GmbH, ein getarntes Areal der NS-Rüstungsindustrie, dessen | |
| Bunker die Briten bis 1950 sukzessive sprengten. Dies geschah unter dem | |
| Gemaule der deutschen Einwohner, welche die Demontage als sinnlose | |
| Vernichtung moderner Produktionsstätten wahrnahmen. Darunter auch das | |
| Ehepaar Schmidt, das sich 1948 nichts Besseres vorstellen konnte, als in | |
| der ehemaligen Telefonzentrale der Eibia, Bunker B 1107, zu wohnen. | |
| Als die beiden erfahren, dass ihr Wunschdomizil gesprengt werden soll, | |
| notiert Alice: „Sind ganz niedergeschlagen & beraten, ob wir irgend einen | |
| Versuch zur Erhaltung (für uns zum drin wohnen) machen könnten. Kommen aber | |
| zum Entschluß, daß doch zwecklos. – O diese verrückte Welt! – Oh!!“ | |
| Der damals noch unmittelbare historische Hintergrund der Sprengungen spielt | |
| in dem Tagebuch in zeittypischer Weise keine Rolle: Ab 1942 hatten vor | |
| allem Zwangsarbeiter in der Eibia Schießpulver produzieren müssen, darunter | |
| 600 jüdische Frauen aus Polen, die aus Auschwitz deportiert wurden, als das | |
| Cordinger Lager Sandberg zu einem Außenlager des KZ Bergen-Belsen erklärt | |
| worden war. | |
| ## Oft wurde gehungert | |
| Bis auf spärliche Zahlungen des Rowohlt Verlages ohne jedes Einkommen | |
| lebten die Schmidts von den Care-Paketen, die Arnos Schwester Lucy Kiesler | |
| aus den USA schickte. Das Paar kalkulierte sein monatliches Existenzminimum | |
| auf 60 Mark und ging täglich in den Wald, um Pilze zu suchen. Auf dem | |
| Speiseplan standen meist Kartoffeln und, falls verfügbar, „dieselmäßig“ | |
| zubereitete Heringe und Rollmöpse. Oft wurde gehungert. | |
| Die Tage der Eheleute bestanden aus stundenlangem Mittagsschlaf und Arno | |
| Schmidts Hadern mit seinem Schicksal. Sein Alltagsgebaren glich dem eines | |
| Manisch-Depressiven. Unter Alkoholeinfluss neigte er zum Größenwahn. „A. | |
| über Leviathan: … so etwas existiert in der Weltliteratur noch nicht. – Ich | |
| habe nicht für diese Zeit, sondern für die Ewigkeit geschrieben, 100 Jahre | |
| später wird man mich erst würdigen, meine Zeitgenossen werden dies nicht | |
| tun.“ | |
| ## Ein typischer Hypochonder | |
| Kam morgens einmal keine Post an, rastete der unerfahrene Autor sofort aus. | |
| Schmidt quälte seine Frau mit Racheplänen gegen seinen Verlag, deren | |
| Umsetzung das sofortige Ende seiner Autorenkarriere bedeutet hätte: „A | |
| wieder tief niedergeschlagen & wetternd auf Lump Rowohlt.“ Dauernd will der | |
| angehende Autor alles hinschmeißen, bis hin zu Suizidfantasien. | |
| Litt der Kriegsveteran an dem, was wir heute eine posttraumatische | |
| Belastungsstörung nennen? Eigenen Angaben nach war Schmidt einfach so: „Ich | |
| bin ein typischer Hypochonder“, zitiert ihn seine Frau an einer Stelle. | |
| „Wenn ich’s britische Museum & Bibliothek besuchen wollte müßte London f�… | |
| den Tag evakuiert werden.“ | |
| ## Das ganze Kropzeug | |
| In den Tagebüchern wird das Trauma der Schmidt’schen Kriegserlebnisse immer | |
| wieder deutlich. Das SPD-Wähler-Ehepaar nahm sich wie die meisten ihrer | |
| Zeitgenossen vor allem als Opfer des Zweiten Weltkrieges wahr. In Alices | |
| Eintragungen fallen aber auch verstörende Anklänge der | |
| nationalsozialistischen Rassenideologie auf. Voller Neid auf eine | |
| Nachbarsfamilie, die ihre Auswanderung nach Kanada vorbereitet, notiert | |
| sie: „Ja dummes & fettes Halbpolenpack, aber Glück!“ | |
| Es ist anzunehmen, dass solche Ressentiments im stillen Einverständnis Arno | |
| Schmidts aufgeschrieben wurden. Und richtig: In einer handschriftlichen | |
| Beilage zum 1948er-Tagebuch, Arno Schmidts Gedicht „De Reis no Falling“, | |
| das im Anhang der Edition abgedruckt ist, findet sich die Skizze einer | |
| Warteschlange von „20 Zeitgenossen“ am Büro zur Abholung der Care-Pakete in | |
| Fallingbostel: „Mit alten Weibern, Jugoslawen, Polen, / das ganze Kropzeug | |
| mag der Teufel holen!“ | |
| ## Verstümmelung des Werks | |
| Nicht zuletzt bescheinigt Alice Schmidt dem Lektor ihres Mannes, Kurt | |
| Marek, ein „ziemlich breites ostisches Gesicht“, womit sie auf den | |
| NS-Terminus für eine der europäischen „Hauptrassen“ zurückgreift. | |
| Anzunehmen ist, dass den Schmidts der bleibende Einfluss der NS-Ideologie | |
| auf das eigene Weltbild zu diesem Zeitpunkt überhaupt noch nicht bewusst | |
| geworden war. | |
| Verblüffend ist, wie wenig Schmidt seine Chancen erkannte. Er ist gegen | |
| einen Vorabdruck des „Leviathan“ in der Zeit. Ohne zu ahnen, dass ihm dafür | |
| ein Honorar zustünde, hält er die Publikation eines Auszugs für eine | |
| Verstümmelung seines Werks, die er untersagen möchte. | |
| Alice versteht jedoch sofort, wie wichtig solche Publicity wäre. Das | |
| Ergebnis sind einmal mehr „karierte Reden“ ihres Gatten, die in einen | |
| psychotischen Koller münden: „Doch A knirscht mit den Zähnen, verzerrt das | |
| Gesicht, ballt Fäuste, beschuldigt mich der Verräterei; würde Ro[wohlt] | |
| helfen und immer gegen ihn sein & da klingts in seiner Stimme fast wie | |
| Weinen in rasender Wut & ich bin wirklich in Angst, daß er einen | |
| Tobsuchtsanfall kriegt & wende mich still ab.“ | |
| ## Akrobatischer Trinker | |
| Am Ende wird aber doch noch einmal alles gut. Höhepunkt ist Alice Schmidts | |
| Beschreibung eines Besuchs bei Kurt Marek und Ernst Rowohlt in Hamburg. Zur | |
| Verblüffung des unterernährten Ehepaars wird ihm vom Verlag ein Hotelzimmer | |
| gestellt. Nach Bezug des Zimmers bittet Ernst Rowohlt zum Abendessen. Der | |
| Verleger entpuppt sich als akrobatischer Trinker, der zu Zeiten der | |
| #MeToo-Debatte einen schweren Stand gehabt hätte. | |
| Selbst die an vieles gewöhnte Tagebuchschreiberin wird nach dem | |
| Restaurantbesuch deutlich: „Ro. Tat recht vertraut tätschelnd mit der uns | |
| bedienenden Kellnerin & gebrauchte einige recht derbe Ausdrücke & fragte | |
| mich, ob ich sehr empfindlich wäre. Versicherte ihm: nein gar nicht, sie | |
| gefielen mir aber keineswegs.“ Rowohlt prahlt zudem damit, die Texte seiner | |
| Autoren nie zu lesen, bevor sie gedruckt seien. „A: so hab ich mir das | |
| vorgestellt, daß der Verleger die Bücher nicht liest.“ | |
| ## 5 DM Strafe | |
| Der skurrile Abend endet in Rowohlts Wohnung in einem wüsten Besäufnis mit | |
| Kognak und Gin. Während die Männer verhandeln, bricht Alice Schmidt | |
| betrunken zusammen. Ihr Mann muss sie ins Hotel schleifen, wo sie sich im | |
| Aufzug erbricht: 5 DM Strafe. Doch so katastrophal der Ausgang dieser | |
| Geschäftsreise zunächst ausgesehen haben mag, er erbrachte wesentliche | |
| Verbesserungen der Schmidt’schen Verlagsbeziehungen und seiner finanziellen | |
| Lage. | |
| Die Entstehung eines der wichtigsten Werke der deutschsprachigen | |
| Nachkriegsliteratur begann als Abfolge unkalkulierbarer Eskapaden. Die | |
| Biografie Arno Schmidts bleibt auch nach der Lektüre dieser Dokumente | |
| voller Widersprüche und Rätsel. Nach den von Susanne Fischer bereits | |
| vorbildlich edierten Tagebüchern Alice Schmidts der 1950er Jahre ist der | |
| vorliegende Band zu den Jahren 1948/49 für die Erhellung dieses Mysteriums | |
| von besonderem Interesse. Er führt seine Leser zum Anfang der Karriere | |
| eines einzigartigen Autors, dessen Leben noch lange nicht erschöpfend | |
| erforscht worden ist. | |
| 14 Apr 2018 | |
| ## AUTOREN | |
| Jan Süselbeck | |
| ## TAGS | |
| Arno Schmidt | |
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