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# taz.de -- Vermessung der Lüneburger Heide: Landschaft mit Dichter
> Auf den Spuren von Arno Schmidt und Walter Kempowski sind ein
> Schriftsteller und ein Fotograf durch die Heide gewandert. Das Ergebnis
> ist ein Wandertagebuch
Bild: Der Dichter in der Landschaft: Gerhard Henschel in der Lüneburger Heide.
Bremen taz | Bargfeld und Nartum: Zwei Ortsnamen wie Peitschenhiebe –
zumindest für jene, die wissen, dass der Schriftsteller Arno Schmidt in
Bargfeld und der Schriftsteller Walter Kempowski in Nartum gelebt hat.
Geografisch einordnen können aber selbst diese Wissenden die Ortschaften
meist nicht. Kein Wunder: Das zur Gemeinde Eldingen gehörende Dorf Bargfeld
liegt 26 Kilometer nordöstlich von Celle, von wo aus man am Schweinebruch
vorbeifährt und Beedenbostel passiert. Bargfeld hat 188 EinwohnerInnen.
Nartum wiederum liegt 50 Kilometer nordöstlich von Bremen, hat 750
EinwohnerInnen und ist umgeben von Orten mit so wohlklingenden Namen wie
Vorwerck, Horstedt, Bötersen und Gyhum.
Was sich auf rund 200 Kilometern zwischen diesen beiden Dörfern abspielt,
das haben sich der Schriftsteller Gerhard Henschel und der Fotograf Gerhard
Kromschröder angeschaut – zu Fuß. Ihre Wanderung von „Schmidthausen nach
Kempowskistedt“, wie Kromschröder es genannt hat, haben die beiden in einem
Wandertagebuch festgehalten.
## Ein 30 Jahre alter Plan
Kromschröder, der mit seinem letzten Bildband „Expeditionen ins Emsland“
bereits Leidenschaft für die niedersächsische Einöde gezeigt hat, war
begeistert, als Henschel ihn fragte, ob er gemeinsam mit ihm eine Wanderung
von Nartum nach Bargfeld unternehmen wolle. Und geehrt, Teil eines Plans zu
sein, der lange gereift ist, genauer gesagt fast 30 Jahre lang.
Denn im Jahr 1986 riet der damals 57-jährige Kempowski dem damals
24-jährigen Germanistik-Studenten Gerhard Henschel, den er bei einem
Literaturseminar kennengelernt hatte: „Eine Tour, die in Bargfeld beginnt,
sollte in Nartum enden.“ Henschel hatte ihm zuvor erzählt, er wolle nach
Bargfeld reisen – dahin, wo Arno Schmidt bis zu seinem Tode im Jahr 1979
gelebt hatte.
Schmidt („Zettels Traum“) gilt als einer der wichtigsten deutschen
Schriftsteller der Nachkriegszeit und Walter Kempowski („Deutsche Chronik“)
auch. Doch während Kempowski tatsächlich auch der meistgelesene
Schriftsteller seiner Generation war, musste Schmidt zu Lebzeiten immer am
Existenzminimum leben – erst ein warmer Geldregen seines jungen Fans Jan
Philipp Reemtsma im Jahr 1977 befreite ihn, zwei Jahre vor seinem Tod, aus
den größten finanziellen Schwierigkeiten.
## Kempowski war nahbarer
Schmidts Mischung aus traditionellem Erzählen, avantgardistischer
Schreibtechnik, schrägem Humor und starker Subjektivität brauchte viele
Jahre, bis sie auch außerhalb einer eingeschworenen, aber kleinen
Fan-Gemeinde Anerkennung fand. Kempowskis zwar durchaus auch humorigen,
aber sehr detailversessenen Werke verkauften sich hingegen wie geschnitten
Brot.
Vielleicht lag das auch daran, dass Kempowski menschenfreundlicher und
nahbarer war als Arno Schmidt, der nichts auf Öffentlichkeitsarbeit und
Netzwerke gab und dem Menschen im Allgemeinen eher zuwider waren: „Jegliche
Berührung mit Anderen setzt erfahrungsgemäß meine Leistung herab und stört
mich auf Tage hinaus“, sagte er einst, rückblickend auf seine Zeit in der
Großstadt Darmstadt, wo er von 1955 bis 1958 gelebt hat.
Also zog er sich in die Einöde zurück: nach Bargfeld. Dort lebte er mit
seiner Frau in einem kleinen Häuschen. Und nannte die Schwarzbunten, die
dort in rauen Mengen auf den Wiesen herumstanden, „Kühe in Halbtrauer“.
Die Wiesen und die Kühe und die Heide und das bisschen, was es sonst noch
so gibt zwischen Bargfeld und Nartum, haben Kromschröder und Henschel sich
angeschaut. Zehn Tage waren sie im Sommer vergangenen Jahres gemeinsam
unterwegs. Der eine beobachtete und schrieb, der andere beobachtete und
fotografierte – herausgekommen ist das just in der Bremer Edition Temmen
erschienene Buch „Landvermessung“.
## „Neidisch auf Schmidt“
Walter Kempowski war glühender Arno-Schmidt-Verehrer. „Ich bin mir sicher,
er war neidisch auf Schmidt“, sagt Gerhard Kromschröder. „Das klingt ja
auch in diesem Satz mit, den er Henschel damals geschrieben hat: Wenn Du zu
Schmidt gehst, musst Du aber auch zu mir kommen.“
Kempowski, sagt Kromschröder, habe Menschen stets „nahezu genötigt“, in
sein Haus zu kommen, er habe geradezu darunter gelitten, literarisch nie so
hoch gehandelt worden zu sein wie Schmidt. Und während Schmidt seine Ruhe
haben wollte und zurückgezogen in sehr einfachen Verhältnissen lebte, baute
sich Kempowski in Nartum ein Haus, das 700 Quadratmeter Wohn- und
Arbeitsfläche bot, mit Turmzimmer und Teepavillon, eingebettet in einer
parkähnlichen Gartenlandschaft: „Er hatte ständig die Hütte voll“, sagt
Kromschröder.
Das Häuschen von Schmidt und der Palast von Kempowski: Das waren also
Start- und Zielpunkte der Landvermessung, für deren fotografischen Part es,
so schreibt es Henschel, keinen geeigneteren Kandidaten hätte geben können
als den 75-jährigen Gerhard Kromschröder. Umgekehrt hat Henschel für
Kromschröders 2011 erschienenen Bildband „Expeditionen ins Emsland“ das
Vorwort geschrieben – und auch dafür hätte es keinen geeigneteren Autoren
geben können: Henschel nämlich verbrachte seine Adoleszenz im Emsland,
nachzulesen in seinem Buch „Jugendroman“. „Ich habe damals davon gehört,
wir haben uns kennengelernt – und seither sind wir befreundet“, sagt
Kromschröder.
Dabei könnten die beiden unterschiedlicher kaum sein: Der 53-jährige
Henschel, der 40 Bücher geschrieben hat, von denen der „Jugendroman“ Teil
zwei eines mittlerweile sechsbändigen autobiografischen Romanzyklus’
bildet, ist eher leise, zurückhaltend, ironisch. Und Kromschröder, ehemals
Reporter, auch undercover in der Nazi- und Rockerszene sowie als
Nahostkorrespondent beim Stern, ist laut, forsch, lässt sich ungern etwas
sagen: „Ich bin eher so ein Haudegen“, sagt er.
## Ortungssysteme fürs Unwesentliche
Allerdings teilen beide denselben Humor, der eine halt leiser, der andere
lauter. Kromschröder hat lange als Redakteur bei der Satirezeitschrift
Pardon gearbeitet, Henschel als Redakteur bei der Titanic. Und: „Henschel
und ich entdecken beide Dinge, die andere nicht wahrnehmen oder drüber
weggehen – das passt schon“, sagt Kromschröder. In der Tat: Henschels und
Kromschröders hervorragend ausgeprägte Ortungssysteme für das vermeintlich
absolut Unwesentliche vereinen sich im Wandertagebuch aufs Schönste.
Kromschröder hat einen Landstrich fotografiert, wie ihn Wanderer wohl eher
selten fotografieren – und genauso, wie er’s schon auf seiner
Emsland-Expedition getan hat: überpflegte Vorgärten, Klinkerbauten,
1-Euro-Shops. Straßenschilder, Stromverteiler, Bushaltestellenhäuschen. Er
hat den Truppenübungsplatz Bergen-Hohne fotografiert und die
KZ-Gedenkstätte Bergen-Belsen.
Und immer wieder Gegenüberstellungen: Eine Milka-Plastik-Kuh in Bad
Fallingbostel links, ein Bauer mit Kühen in Hilligensehl rechts. Der von
steinernen Löwen bewachte „Casanova Club“ in Walsrode auf der einen, die
„Löwen Play“-Spielhalle in Bockel auf der anderen Seite. Ein verwaister
Angelsitz im verregneten Bargfeld, ein blauer Plastik-Karpfen im
verregneten Eschede.
## Heidschnucken und Franzosenhass
Und seltener, wie zur Besänftigung, hat er auch im klassischen Sinne schöne
Aufnahmen eines Landstrichs gemacht, der auch noch andere Gestalten
beherbergt hat als Schmidt und Kempowski. Zum Beispiel Hermann „Blut und
Boden“ Löns. Aus dessen Kriegsbriefen zitiert Henschel genauso wie aus
dessen Buch „Der Wehrwolf“ und kommt zu dem Schluss: „Hermann Löns, der
Freund aller Tiere, wollte nackte Frauen ausgepeitscht und aufgeknüpft
sehen. An dieser Einsicht führt kein Weg vorbei“ – eine leise Mahnung
wahrscheinlich auch an den Schriftsteller Rainer Kaune, der das Buch
„Hermann Löns – Naturfreund, Dichter, Umweltschützer“ verfasst hat.
Nicht nur den hat Henschel, der fast schon manische Rechercheur – da ist er
Kempowski sehr ähnlich – irgendwo ausgebuddelt, sondern auch andere lokale
und zu Recht in Vergessenheit geratene Schriftsteller und Chronisten wie
Eduard Kück oder Friedrich Freudenthal. Henschel erzählt Anekdoten, Zitate
oder Lokalgeschichtliches wie die Legende von den Heidschnucken oder auch
Haidschnukkis oder Aidschnukes oder Oidesnoukes und was diese wiederum mit
Franzosenhass zu tun haben.
Ungemein dicht, aber unterhaltsam und unaufgeregt erfüllt er eine scheinbar
leblose Region mit Leben, berichtet über die Wahlheimat Schmidts und
Kempowskis, über all die deutschen Abgründe, denen sich auch die beiden
Schriftsteller ihr Leben lang widmeten, über Gegenwart und Geschichte, über
die Nazi-Zeit und den verlogenen Mief danach: So konnte sich der
NS-Massenmörder Adolf Eichmann vier Jahre lang unter falschem Namen in
Eversen und Altensalzkoth verstecken, bevor er sich 1950 nach Argentinien
absetzte.
An die Zeit „in diesem wunderschönen Heideland“ habe Eichmann später gern
zurückgedacht, schreibt Henschel, und: „Vielleicht hätte er in
Altensalzkoth noch viel länger inkognito leben können als in Buenos Aires.“
## „Welcome to Bockel“
Henschel erzählt von all den Käffern am Wegesrand, wie Bad Fallingbostel,
„eine der Gemeinden, die sich immer noch eine Hindenburgstraße gönnen“,
oder Bockel, wo „Lara’s American Diner“ mit „Welcome to Bockel – feel…
taste of America“ lockt oder Rotenburg, wo sechs Tage vor dem Besuch der
blaubejackten Wandersmänner Henschel und Kromschröder die deutsche
Kartoffelkönigin gekrönt wurde. „Immer kommen wir zu spät“, zitiert
Henschel seinen Mitwanderer.
Das macht er ohnehin gern, Kromschröder ist ja schließlich Teil des
Abenteuers. Umgekehrt taucht Henschel nur hin und wieder auf einem der
Fotos im Buch auf, was allerdings nicht heißt, dass Kromschröder über
Henschel nichts erzählen könnte.
So räumt er gegenüber der taz mit der Mär von der Autobahnbrücke bei Bockel
auf, die laut Henschel nur etwas für „schwindelfreie Menschen“ sei und
deswegen mit dem Taxi hätte überquert werden müssen: „Henschel hat
unglaubliche Höhenangst“, stellt Kromschröder klar. „Eine andere Brücke …
er nur deswegen überquert, weil ich auf beiden Seiten aufgepasst habe, dass
kein Auto kommt. Er ist dann in der Mitte drüber gerannt, wirklich:
gerannt!“
## Misstrauische Einheimische
Umgekehrt hat Henschel geschlichtet, wenn Kromschröder mal wieder Ärger
bekam, weil er schamlos alles fotografierte, was ihm vor die Linse kam:
„Ich hab dann ja sofort die Fäuste oben und freue mich geradezu, wenn ich
mich streiten kann“, sagt Kromschröder. „Das macht zwar Spaß, ist aber oft
kontraproduktiv.“
Neben Einheimischen, die ihn misstrauisch beäugten („Heutzutage weiß man ja
nie!“), war es vor allem der Wachschutz des Truppenübungsplatzes
Bergen-Hohne, wo 1984, schreibt Henschel, „der Bundespräsident und
ehemalige SA-Mann Karl Carstens (1940–1945 NSDAP, ab 1955 CDU) von den
Streitkräften mit einer Ehrenparade verabschiedet“ wurde, Ärger machte:
Zwei bewaffnete Angestellte eines Unternehmens namens „Sicherheit Nord“
forderten Kromschröder auf, sämtliche dort gemachten Fotos zu löschen: „Und
während ich schon wieder auf Konfrontation gehen wollte, redete Henschel
ruhig und besänftigend mit ihnen“, sagt Kromschröder. So konnte er
unauffällig doch noch einen großen Teil seiner Fotos retten. Zum Glück!
Gerhard Henschel/Gerhard Kromschröder: „Landvermessung. Durch die
Lüneburger Heide von Arno Schmidt zu Walter Kempowski“. Edition Temmen,
Bremen, 224 Seiten, 24,80 Euro
21 Oct 2016
## AUTOREN
Simone Schnase
## TAGS
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