# taz.de -- Literarischer Reisebericht „Laubengänge“: Die unerschöpfliche… | |
> Gerhard Henschel und Gerhard Kromschröder wandern auf den Spuren Wilhelm | |
> Buschs durch Niedersachsen und finden dabei das Wesentlich-Unwesentliche. | |
Bild: Busch im Blick, aber nicht nur: Gerhard Henschel im Dickicht der Sehensw�… | |
BREMEN taz | Wilhelm Busch war selbst kein Freund von Wanderungen, aber: | |
„Ich freue mich, wenn andere sie machen“, schrieb er einst. Diese Freude | |
wollten Gerhard Henschel und Gerhard Kromschröder ihm machen und machten | |
sich auf den Weg. | |
Zwei Wochen waren der Schriftsteller und der Fotograf im vergangenen Jahr | |
zu Fuß vom Schaumburger Land durch das Weserbergland bis zum Harz | |
unterwegs, 300 Kilometer von Wiedensahl nach Mechtshausen, auf den Spuren | |
Wilhelm Buschs. Resultat der Reise: Das just in der Edition Temmen | |
erschienene Buch „Laubengänge“, das sich einerseits der Biografie des | |
Dichters und Zeichners Wilhelm Busch widmet, andererseits aber auch wieder | |
nicht. | |
Was damit gemeint ist, ahnt, wer Henschels und Kromschröders 2016 | |
erschienenes – und mit dem Ben-Witter-Preis 2017 ausgezeichnetes – Buch | |
„Landvermessung“ kennt: Das basiert ebenfalls auf einer | |
„Recherche-Wanderschaft“ der beiden, durch die Lüneburger Heide auf den | |
Spuren von Arno Schmidt und Walter Kempowski – aber herausgekommen ist auch | |
eine scharfsichtige und teils urkomische Analyse eines Landstrichs, der | |
durchaus exemplarisch steht für viele Gegenden in der norddeutschen | |
Provinz. Und Gleiches gilt auch für ihr neues Werk. | |
Vorgemacht hatte das einst, allerdings „nur“ fotografisch, Gerhard | |
Kromschröder mit seinem Bildband „Expeditionen ins Emsland“, ohne den sich | |
die beiden Gerhards möglicherweise nie begegnet wären. Henschel, der im | |
Emsland aufgewachsen ist, nachzulesen in seinem Buch „Jugendroman“, hat für | |
den 2011 erschienenen Bildband das Vorwort geschrieben. „So haben wir uns | |
kennengelernt – und seither sind wir befreundet“, sagt Kromschröder. | |
## „Bestandsaufnahme der Gegenwart“ | |
Dabei könnten die beiden auf den ersten Blick unterschiedlicher kaum sein: | |
Der 77-jährige Fotograf, ehemals Reporter, auch undercover in der Nazi- und | |
Rockerszene sowie als Nahostkorrespondent beim Stern, ist laut, forsch, | |
lässt sich ungern etwas sagen. Der 22 Jahre jüngere Henschel, der über 40 | |
Bücher geschrieben hat, ist eher leise, zurückhaltend und ironisch. Aber | |
die beiden einen zwei wesentliche Dinge: ihr Humor und ihr klarer Blick für | |
das vermeintlich absolut Unwesentliche. „Henschel und ich entdecken beide | |
Dinge, die andere nicht wahrnehmen oder drüber weggehen“, fasst | |
Kromschröder das zusammen. | |
Damit meint er: Liegestühle, Klappstühle, Schubkarren, Betonringe. | |
Totalausverkauf wegen Geschäftsaufgabe, einen Erdbeer-Verkaufsstand mit | |
einem Dixie-Klo. Ein Bushaltestellenhäuschen im Nirgendwo, | |
Fleischereifachverkäuferinnen, Kühe. Verklinkerte, nahezu fensterlose | |
Einfamilienhäuser, ein Imbiss namens „Küche Kraftwerk“ am AKW Grohnde, | |
Heuballen vorm Kühlturm. Grauenvolle Vorgärten. Und manchmal, aber selten, | |
auch schöne Landschaften. Kromschröder fotografiert keine gestellten | |
Postkartenmotive mit Wäldern und Hügeln und schönen Fachwerkhäusern, | |
sondern er macht, sagt er: „Eine Bestandsaufnahme der Gegenwart.“ | |
## Trocken und ironisch | |
Henschel kommentiert die fotografische Bestandsaufnahme trocken und | |
ironisch, er erzählt vom blühenden Raps, den er und Kromschröder irgendwann | |
einfach nicht mehr sehen können, von der elektrischen Schranke der Firma | |
Großewinkelmann aus Rietberg-Varensell, die vor der Landwehrallee am Kanal | |
den Verkehr regelt trotz absoluter Abwesenheit von Verkehr, vom | |
Wiedensahler Zollstockmuseum, das sich in Buschs Geburtsort befindet, von | |
der Markisenvielfalt in Stadthagen und der ebenfalls dort angesiedelten | |
mormonischen Kirche, die „kaum von einer Müllverbrennungsanlage zu | |
unterscheiden ist“. | |
Vom schrecklichen Brunnenplatz in Kathrinhagen, von dem Kromschröder | |
vermutet, er diene als Bestrafungszweck für Kinder: „Wenn du nicht artig | |
bist, dann bring ich dich zum Brunnenplatz.“ Er erzählt von Hotels, die | |
nahezu allesamt „Deutsche Eiche“ heißen und zu Henschels Entzücken über | |
Raucherzimmer und WLAN verfügen und von seiner krankhaften Höhenangst, die | |
ihn und „Kromo“ manchmal getrennte Wege gehen lassen: er unten-, | |
Kromschröder obenrum. Und hinterher erzählen sie sich dann von ihren | |
unterschiedlichen Erlebnissen. | |
Henschel zitiert seinen Begleiter ohnehin in diesem Wandertagebuch recht | |
häufig, was schön ist, denn selbstverständlich hat Kromschröder ja auch | |
etwas zu sagen zu seinen stets wiederkehrenden Lieblingsmotiven. | |
„Arschbackengardinen“ nennt er beispielsweise die in der Mitte gerafften | |
Tüllgardinen in Wohnzimmerfenstern und er weiß, dass die hässlichen, aus | |
vergitterten Steinen bestehenden Sichtschutzwände in Gärten „Gabionenzäune… | |
heißen – was Henschel, sonst derjenige, der alles weiß, tief beeindruckt. | |
Schöne Dialoge zwischen Kromschröder und den Einheimischen hat Henschel | |
festgehalten wie den mit einem Anwohner, der wissen will, warum | |
Kromschröder sein Haus fotografiert: Er mache Fotos für seine rumänischen | |
Freunde, damit die wissen, wo man einbrechen könne, antwortet der Fotograf. | |
Und der Anwohner erwidert: „Sagen Sie das nicht so ironisch!“ | |
Würdigen muss man auch die großartige Rechercheleistung Henschels. All die | |
historischen Details und Kleinigkeiten und Anekdoten, die Henschel weiß | |
Gott wo ausgegraben hat, machen „Laubengänge“ nicht nur zu einer | |
vergnüglichen, sondern auch zu einer höchst informativen Lektüre, die einer | |
auf den ersten Blick austauschbaren und strukturschwachen Region | |
Individualität und Leben verleiht – persönliche Geschichte eben. | |
Die ist meist wenig vergnüglich. Fast überall in Buschs Heimatregion wütete | |
im 30-jährigen Krieg Graf von Tilly und hinterließ eine Schneise von Tod | |
und Verwüstung. Oder der Blutbach am Hohenstein: Der wurde nach dem Blut | |
der Franken benannt, die hier im Jahr 782 von den Sachsen geschlagen | |
wurden. Wenig erbaulich ist auch die Geschichte des Steinkohlekraftwerks | |
Heyden, das in den letzten beiden Jahren des Zweiten Weltkriegs von | |
Zwangsarbeitern errichtet wurde. Aufgrund der unmenschlichen | |
Arbeitsbedingungen haben sich dort noch eine Woche vor Kriegsende 28 | |
Häftlinge erhängt. | |
## Fragwürdige Mythen | |
Oder die vom ehemaligen Hamelner Bürgermeister Emil Busching, der am 26. | |
März 1942 allen Juden aus der Stadt befahl, sich zur „Evakuierung“ | |
einzufinden – und der, nachdem er das nach dem Krieg bestritt, von allen | |
Anklagepunkten freigesprochen wurde und 1959 das Bundesverdienstkreuz am | |
Bande erhielt. „Es tritt“, schreibt Henschel, „namenloses Leid zutage, | |
sobald man nur ein bisschen in der Vergangenheit der Flecken gräbt, durch | |
die man geht.“ | |
Zutage befördert hat Henschel aber auch allerlei fragwürdige lokale Mythen | |
und Sagen, „martiales Germanophilengewäsch“ sowie die Geschichte des wohl | |
unterschätztesten Münchhausen-Darstellers der Welt – und wenn er darüber | |
hinaus nicht gerade solche wichtigen Dinge erklärt wie den Unterschied | |
zwischen einem Hagenhufendorf und einem Waldhufendorf, dann gibt’s, | |
natürlich, Geschichten von und um und über Wilhelm Busch. | |
Der, so schreibt Henschel, wurde stets sehr unterschiedlich interpretiert: | |
„Hier das verkümmerte, spleenige, vom Leben enttäuschte Landei und dort der | |
hehre, jeder niederen Begierde entsagende und allen irdischen Tand nur noch | |
milde belächelnde Heilige.“ Sowohl diese Extreme als auch alles, was | |
dazwischen liegt, bergen unerschöpflich viel Stoff. So vermutet die | |
Freiburger Literaturwissenschaftlerin Astrid Lange-Kirchheim, dass Kafka | |
sich unter anderem von dem berühmten Käfer auf Onkel Fritzens Nasenspitze | |
hat inspirieren lassen, als er „Die Verwandlung“ schrieb. Und auch der | |
Germanist Gert Ueding sieht verdächtig viele Parallelen zwischen Kafkas | |
„Verwandlung“ und Buschs Geschichte vom „Eispeter“. | |
Henschel erzählt von Heinrich Böll, der Buschs Humor nicht mochte, weil der | |
laut Böll auf Schadenfreude und Abfälligkeit basiere und demnach | |
unmenschlich und ablehnenswert sei. Damit, sagt Henschel, sei Böll dem | |
NS-Vorzeigejuristen Carl Schmitt gefolgt, der in der frühen Nachkriegszeit | |
„plötzlich sein menschliches Mitgefühl für die Witwe Bolte und den | |
Schneidermeister Böck“ entdeckt habe. | |
Er erzählt davon, dass Busch gern geraucht und getrunken, aber Morphium | |
abgelehnt habe, von Buschs problematischen Beziehungen zu Frauen, von | |
Buschs Jugendfreund Erich von Bachmann aus Ebergötzen, der Pate stand für | |
„Moritz“, während Busch sich selbst als Vorbild für „Max“ nahm und vo… | |
nie gelösten Rätsel der stets in Buschs Bildern (und kurioserweise auch | |
stets während Kromschröders und Henschels Wanderschaft) auftauchenden | |
Männern in roten Jacken. | |
Gerhard Henschel und Gerhard Kromschröder – zwei, die sich gefunden haben. | |
Und die offenbar in Serie gehen wollen mit ihren Wandertagebüchern: | |
Kommenden Monat geht schon die nächste Tour der beiden los, diesmal auf den | |
Spuren der Gebrüder Grimm von Hanau nach Kassel. Sie ist unerschöpflich, | |
diese deutsche Provinz. | |
Gerhard Henschel/Gerhard Kromschröder: „Laubengänge. Auf den Spuren von | |
Wilhelm Busch durchs Weserbergland zum Harz“. Edition Temmen, 223 Seiten, | |
24,90 Euro | |
17 Jul 2018 | |
## AUTOREN | |
Simone Schnase | |
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