# taz.de -- Die Wahrheit: „Ich war oft genug in Hannover“ | |
> Das große Wahrheit-Interview mit dem Berliner Tourismus-Experten Kurt | |
> Scheel über Aktivurlaub, Nachhaltigkeit und das New Yorker Nachtleben. | |
taz: Herr Scheel, die Urlaubssaison 2018 ist eröffnet. Was sind die | |
aktuellen Megatrends? | |
Kurt Scheel: Mit Heraklit von Ephesos zu sprechen: „Panta rhei – alles | |
fließt.“ Nehmen wir beispielsweise die Ära des Wirtschaftswunders. Der | |
gängigen Zeitgeschichtsschreibung zufolge entwickelte der „deutsche | |
Michel“, wie ich ihn gern nenne, damals eine ausgeprägte Vorliebe für | |
Urlaubsziele in Italien, die sich auch in zeitgenössischen Schlagern | |
geäußert haben soll. (Singt:) „Wenn bei Capri die rote Sonne im Meer | |
versinkt / Und vom Himmel die bleiche Sichel des Mondes blinkt, / Zieh’n | |
die Fischer mit ihren Booten aufs Meer hinaus …“ | |
Das ist keine Antwort auf die eingangs gestellte Frage. | |
Gemach, mein junger Freund! Denken Sie an das geflügelte Wort des | |
spanischen Philosophen George Santayana: „Wer sich nicht an die | |
Vergangenheit erinnern kann, ist dazu verdammt, sie zu wiederholen.“ Mir | |
geht es darum, die Lesart unserer jüngeren touristischen Vergangenheit | |
gegen den Strich zu bürsten, damit wir uns endlich neuen Ufern zuwenden | |
können. Alle Welt behauptet, dass die Bundesbürger in der frühen | |
Nachkriegszeit wie die Lemminge zum Mittelmeer gepilgert seien. Es wird | |
Zeit, dieses Narrativ zu hinterfragen. | |
War es denn nicht so? | |
Noch zehn, fünfzehn Jahre zuvor bildete für viele Deutsche ihre eigene | |
Heimatstadt das beliebteste Urlaubsziel. Wer in Smolensk oder El-Alamein | |
den Waffenrock der Wehrmacht trug, der träumte nicht vom Schnorcheln im | |
Golf von Neapel. Der wollte lieber heim zu Muttern! Und ich bin überzeugt | |
davon, dass es auch heute noch so ist. Das beliebteste Urlaubsziel heißt | |
nach wie vor Zuhausien. | |
Und was ist mit den Bürgern, die es in die Ferne zieht? Zum Canoeying an | |
der Türkischen Riviera oder zum Baumkronenfrühstück im südafrikanischen | |
Sibuya-Reservat? | |
Ich kenne niemanden, der so was macht. Und ich würde auch jedermann davon | |
abraten. Ich halte es mit Goethe: „Willst du immer weiter schweifen? / | |
Sieh, das Gute liegt so nah. / Lerne nur das Glück ergreifen, / Denn das | |
Glück ist immer da.“ Was übrigens auch aus ökologischer Sicht die | |
gescheitere Handlungsweise wäre. | |
Für seine Zeit war Goethes ökologischer Fußabdruck aber gigantisch. Der | |
Mann ist durch halb Europa kutschiert … | |
Ja, aber stets mit nachhaltigen Verkehrsmitteln aus der jeweiligen Region! | |
Verstehen Sie mich nicht falsch – ich möchte niemandem seinen Urlaub an | |
irgendeinem Strand eines Landes mit dubiosen Temperaturen und/oder | |
Menschenrechtspraktiken madig machen. Ich will bloß darauf hinweisen, dass | |
auch Deutschland attraktive Urlaubsorte bereithält. | |
Welche schweben Ihnen da vor? | |
Eigentlich nur einer: die Insel Altenwerder, auf der ich aufgewachsen bin. | |
Sie meinen den Hamburger Stadtteil Altenwerder, der zum Containerterminal | |
umgebaut worden ist. | |
Den Strukturwandel will ich nicht leugnen. Ich glaube jedoch, dass | |
Altenwerder immer noch viel zu bieten hat. Und sei es als Kontrastprogramm | |
zum üblichen Einerlei aus Beach-Fun und Outdoor-Spaß. Wie mir zu Ohren | |
gekommen ist, soll sogar das brasilianische Nationalteam – also die | |
„Seleção“, wie der Fachausdruck lautet – auf der Rückreise aus Russland | |
nach dem WM-Aus einen mehrtägigen Aufenthalt in Altenwerder eingelegt | |
haben. | |
Dieses Gerücht haben Sie auch in Interviews mit Freizeit Revue, Merian und | |
Away sowie in der RTL-II-Doku „Urlaub extrem“ ausgestreut. Doch unseren | |
Recherchen nach ist das Team ohne Zwischenlandung nach Rio zurückgekehrt. | |
So? Dann wissen Sie mehr als ich. | |
Unsere Nachforschungen haben außerdem ergeben, dass Sie selbst noch nie | |
Urlaub gemacht haben … | |
Das ist nicht ganz richtig. Ich war einmal auf dem Sprung nach Langeoog und | |
musste nur wegen eines Motorschadens der Fähre unverrichteter Dinge | |
umkehren. | |
Wir hegen begründete Zweifel an Ihrer Kompetenz auf dem Gebiet des | |
Tourismus. | |
Machen Sie sich doch nicht lächerlich. Bei meinem Zahnarzt studiere ich | |
seit vielen Jahren die Magazine Geo Adventure, Geo Saison und Geo Special, | |
und auf dem Weg zu einem Stehausschank, wo ich mir meistens einen Ingwertee | |
bestelle, komme ich hier in Wilmersdorf regelmäßig an einem Reisebüro | |
vorbei, dessen Schaufensterwerbung mir viele Rückschlüsse auf das | |
Urlaubsverhalten der Deutschen ermöglicht. | |
In Kürschners Gelehrten-Kalender werden Sie als „Citoyen du Globe“ | |
gewürdigt, und in einem Gespräch mit der Deutschen Welle haben Sie sich | |
selbst als „passionierten Weltenbummler“ bezeichnet. Gestatten Sie uns | |
daher die Frage: Wie oft waren Sie bereits im Ausland? | |
Darauf möchte ich mit Karl Kraus erwidern, dass der geistige Leser das | |
denkbar stärkste Misstrauen gegen jene Erzähler haben sollte, die sich in | |
exotischen Milieus herumtreiben. Erlauben Sie mir, das Zitat zu | |
vervollständigen: „Der günstigste Fall ist noch, dass sie nicht dort waren; | |
aber die meisten sind leider doch so geartet, daß sie wirklich eine Reise | |
tun müssen, um etwas zu erzählen.“ | |
Sie weichen aus. Uns liegt eine Kopie Ihres Reisepasses vor, die beweist, | |
dass Sie niemals weiter als bis Hengelo gekommen sind. | |
Ach ja, die schöne Stadt Hengelo! Dort aß ich in einem Pannenkoekenhuis die | |
besten Poffertjes meines Lebens … | |
Und trotzdem haben Sie in der Urania im Laufe der Jahre sage und schreibe | |
vierzig Vorträge über Ihre angeblichen Erlebnisse im New Yorker Nachtleben | |
gehalten. | |
Da verweise ich Sie gelassen an Arno Schmidt, der schrieb: „Was heißt schon | |
New York? Großstadt ist Großstadt; ich war oft genug in Hannover.“ | |
In einer Ihrer Reportagen aus New York berichten Sie von einer Feier in dem | |
Nachtclub Studio 54, bei der Sie Mick Jagger beim Konsum einer Spirituose | |
namens Dirndlbrand unter den Tisch getrunken und anschließend Liza Minnelli | |
beim Räuberschach besiegt haben wollen. | |
Korrekt! Ich kann sogar noch die Züge auswendig aufsagen: 1. d3 g5, 2. Lxg5 | |
Lg7, 3. Lxe7 Lxb2 … | |
Mit Verlaub, Herr Scheel: Das ist doch alles erstunken und erlogen. | |
… 4. Lxd8 Lxa1, 5. Lxc7 Lc3 … | |
Herr Scheel? Sind Sie noch da? | |
… 6. Lxb8 Txb8, 7. Sxc3 d5 … | |
Garçon? Die Rechnung bitte. | |
… 8. Sxd5 Sf6 … | |
Sorry, Herr Scheel, aber wir haben Sie durchschaut. Egal, wie lange Sie | |
hier die Züge Ihrer fiktiven Schachpartie mit Liza Minnelli | |
herunterrasseln: Ihre Glaubwürdigkeit werden Sie damit nicht | |
wiederherstellen können. | |
… 9. Sxf6 Tg7, nein, Verzeihung, Tg8, naturellement … Was ist los? Wollen | |
Sie schon gehen? | |
Wir haben genug von Ihnen gehört. | |
Wie Sie meinen. Dann werden Sie allerdings nie erfahren, wie die aktuellen | |
Megatrends im Tourismus aussehen. | |
Sei’s drum, Herr Scheel. Wir danken Ihnen für dieses Gespräch. | |
14 Jul 2018 | |
## AUTOREN | |
Gerhard Henschel | |
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