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# taz.de -- Die Wahrheit: Die Causa G.
> Wie die Wahrheit unter die Räder kam: Anatomie einer Affäre um den
> Dichter Thomas Gsella, der alle erhobenen Vorwürfe vehement abstreitet.
Bild: Guten Tropfen immer zugeneigt: Thomas Gsella
Wenn sie noch irgendwo in Ordnung sein sollte, die Welt des Journalismus,
dann doch wohl auf der Wahrheit-Seite der taz, haben viele von uns gedacht,
während ringsherum die Glaubwürdigkeit aller anderen Medien zu Staub
zerfallen ist. Doch jetzt wird auch die Wahrheit-Seite von einem Skandal
erschüttert. Reden wir nicht lange um den heißen Brei herum: Nach einem
Dopingtest besteht leider kein Zweifel mehr daran, dass Thomas Gsella,
einer der beliebtesten Autoren der Wahrheit, viele seiner Gedichte unter
Alkoholeinfluss geschrieben hat.
Gsella (61) streitet diesen Vorwurf vehement ab: „Ein Gläschen in Ehren
kann niemand verwehren, das räume ich ein, aber gedichtet habe ich immer
stocknüchtern! Morgens zwischen acht und zehn. Und das erste Bierfass habe
ich noch nie vor Sonnenuntergang angestochen …“
Es ist unwahrscheinlich, dass er mit seinen faulen Ausreden durchkommen
wird. Ein paar junge Tüftler aus dem Silicon Valley haben nämlich vor
Kurzem eine Software entwickelt, die jeden Text daraufhin untersuchen kann,
unter welchen Drogen sein Autor beim Schreiben gestanden hat. Erfolgreich
erprobt wurde dieses neue Verfahren zunächst an einigen Schriften des
französischen Poeten Charles Baudelaire (Ergebnis: Schwarzer Afghane) und
des amerikanischen Romanciers Edgar Allan Poe (Resultat: Portwein des
Jahrgangs 1824) sowie an Briefen seines Landsmanns Charles Bukowski, die
auf ein Gemisch aus Früchtebowle, Schnapspralinen, Captagon,
psychedelischen Pilzen und Bier der Marke Samuel Adams Boston Lager
schließen lassen.
## Missbrauch von Substanzen
Die Zuverlässigkeit der neuen Prüfmethode ist vorige Woche sogar von der
Europäischen Arzneimittelagentur und dem in Berlin ansässigen Verband
deutscher Schriftstellerinnen und Schriftsteller bestätigt worden. Umso
schlechter ist es um die Reputation des Dichters Gsella bestellt, denn in
seinen Versen hat die Software den Missbrauch der folgenden Substanzen
durch den Verfasser erkannt: Krombacher, Licher, Schöfferhofer Hefeweizen,
Hütt Naturtrüb, Eschweger Klosterbräu, Schmucker Doppel-Bock Dunkel,
Sachsenkrone Pilsener Premium, Nörten-Hardenberger Export, Marillenbrand,
Baltic Dry Gin, Zwetschgenwasser, Haselnusslikör und Lantenhammer Holzfass
Enzian. Und das sind bei weitem noch nicht alle.
Als eines der schlimmsten Exempel sei hier ein Gedicht zitiert, das am 5.
November 2015 auf der Wahrheit-Seite erschienen ist: „Wir stehn im Wetter
mittenmang, / Im Wetter, ei, wie kalt. / Wir frieren auf dem Stadtrundgang
/ Und schnatteren im Wald. / Noch kälter wird es balde sein, / Wenn Winter
kömmt in Schwung: / Dann wird’s eiskalt im Walde sein / Und auf dem
Stadtrundgung. // ‚Rundgung, Rundgung – da muss ein a! / Rundgang muss
Rundgang bleiben!‘ / Nein, muss es nicht. Und guck mal da: / Ich kann auch
Röndgöng schreiben!“
Während Gsella diese verräterischen Zeilen ersann, belief sich sein
Blutalkoholgehalt auf 2,9 Promille. Was kaum verwunderlich erscheint, wenn
man einen Blick auf die Liste der Getränke wirft, mit denen der Dichter
sich in Stimmung gebracht hatte – eindeutig nachweisbar sind die
Schaumweine Pertutti Prosecco und Spumante Rosé Il Fresco Brut, mehrere
Schinkenhäger, ein mindestens fünf Jahre in Eichenholz ausgereifter Grappa,
ein Likör namens Echte Kroatzbeere, ein Bärensiegel-Doppelweizen-Edelkorn
und sieben Liter Adelskronen Premium Pils.
## Neue Sicherungsmechanismen
Gsella hat die Leser und die Macher der Wahrheit getäuscht. Es ist ihm
gelungen, sämtliche hier üblichen Sicherungsmechanismen zu umgehen und
außer Kraft zu setzen. Trotzdem sehen wir in ihm nicht einen Feind, sondern
einen von uns, der mental in Not geraten ist und dann zu den falschen, den
grundfalschen Mitteln gegriffen hat.
Die ganze Dimension des Falls lässt sich noch nicht abschätzen, doch es ist
an der Zeit, ihn publik zu machen. Und es wird ein Untersuchungskomitee
gebildet, das jeden Stein umdrehen soll. Denn wir wollen wissen, was genau
warum passiert ist, damit es nie wieder passieren kann. Zur Vorbeugung
werden Textbeiträge künftig nur noch dann akzeptiert, wenn ihnen eine
Speichelprobe des Autors beigegeben ist.
Aber auch damit hat sich das Problem noch nicht erledigt. Die Affäre zieht
weitere Kreise. Betroffen sind auch andere Redaktionen, denen Gsella seine
Schwindelware angedreht hat. Darüber hinaus stellt sich die Frage, ob er
den Anstand besitzt, die ihm zugesprochenen Literaturpreise zurückzugeben –
beispielsweise den Anke-Bennholdt-Thomsen-Lyrikpreis der Deutschen
Schillergesellschaft, den Ballymaloe International Poetry Prize, den Irseer
Pegasus, den Lyrikpreis der Internationalen Bodenseekonferenz und den Prix
Guillaume Apollinaire. Das wäre immerhin ein Anfang.
22 Jan 2019
## AUTOREN
Gerhard Henschel
## TAGS
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