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# taz.de -- Oratorium über Auschwitz-Prozess: Austauschbare Täter- und Opferr…
> In „Die Ermittlung – Ein Oratorium in elf Gesängen“ will Peter Weiss d…
> Frankfurter Auschwitz-Prozess weder nacherzählen noch präsentieren.
Bild: Wird von Weiss nicht nacherzählt: Auschwitz-Prozess in Frankfurt 1963
Im Januar 1964 notierte Peter Weiss: „Zur Endlösung. […] Wir müssen etwas
darüber aussagen. Doch wir können es noch nicht. Wenn wir es versuchen,
missglückt es.“ Ein paar Wochen zuvor hatte der Auschwitz-Prozess in
Frankfurt am Main begonnen. Er dauerte vom 20.12.1963 bis zum 20.08.1965.
Weiss verfolgte den Prozess intensiv über die Medien, war mehrmals selbst
in Frankfurt bei der Gerichtsverhandlung zugegen. Der Prozess, der die
Mitwirkung ganz normaler Menschen bei monströsen Verbrechen offenlegte,
erschütterte ihn. Das Vernichtungslager Auschwitz besuchte Weiss im
Dezember 1964.
Vor dem Auschwitz-Prozess hatte Weiss ein Welttheater-Projekt in Analogie
zu Dante Alighieris (1265–1321) „Divina Commedia“ konzipiert. Dante
beschreibt in 14.233 Versen den Gang an der Seite der römischen Dichter
Vergil und Statius durch Hölle und Fegefeuer ins Paradies.
Von diesem dreiteiligen Projekt veröffentlichte Weiss nur den Paradies-Teil
unter dem Titel „Die Ermittlung“, der Dantes Absichten auf den Kopf stellt:
bei Dante erlangten die Seelen der Guten und Gerechten als Belohnung die
ewige Seligkeit im Paradies. Bei Weiss ist das Paradies verweltlicht zum
Ort der Erinnerung an die Leiden der Opfer in Auschwitz. Für die
Entrechteten und dann „Zertretenen“ war die Welt der Lager die Hölle auf
Erden und ins Paradies gelangten nur Ermordete.
Formal hält sich Weiss an Dantes Werk mit den jeweils in drei Teile
gegliederten Gesängen. Bei Dante sind es 33, bei Weiss 11. Weiss beschreibt
allerdings nicht den theologisch fundierten Weg von der Hölle durchs
Fegefeuer ins Paradies. Er folgt vielmehr der Topografie des
Vernichtungslagers Auschwitz von der Rampe bis zu den Verbrennungsöfen.
## Anwalt der Toten
Entgegen dem populären Vorurteil wollte Weiss mit dem Stück aber weder das
Vernichtungslager Auschwitz auf der Bühne präsentieren, noch den
Auschwitz-Prozess nacherzählen. Aus diesem bezog er nur Informationen,
Motive und Konstellationen der Konfrontation von überlebenden Zeugen,
Angeklagten, Richtern und Verteidigern. Vermittelt durch den
Suhrkamp-Verleger Siegfried Unseld, ließ der hessische Generalstaatsanwalt
Fritz Bauer (1903–1968) – der an Aufklärung interessierte Initiator des
Auschwitz-Prozesses – Weiss wichtige Dokumente über den Prozess zukommen,
die dieser zum Teil unmittelbar, zum Teil poetisch verdichtet in das Stück
einfügte.
Weiss’ „Oratorium in 11 Gesängen“, so der Untertitel des Stücks, ist ke…
bloßes „Dokumentationstheater“, sondern die Art und Weise, wie es harte
historische Fakten, gerichtliche Zeugenaussagen und Volksvorurteile aus dem
Wirtschaftswunder-Adenauer-Staat der kollektiven Verdrängung, des
„Befehlsnotstandes“ und der „Verjährung“ sprachlich und szenisch
verarbeitet, zeugt „von hohem Kunstverstand“ (Walter Jens).
Eine gelungene Montage zur historisch-politischen Aufklärung, eine
Konfrontation deutschen Nachkriegsgesellschaften mit ihrer Geschichte.
Auschwitz war nicht das Werk der 18 „normalen Deutschen“ auf der
Anklagebank, sondern das Resultat eines Zusammenspiels von Massenloyalität
und einer verbrecherischen Diktatur, Rassismus und opportunistischem
Mitmachen bei schamlosen Profitieren der Eliten. Weiss ist „der Anwalt der
Toten“ – sagte der schwedische Autor Olof Lagercrantz an Weiss’ Grab. „…
Ermittlung“ präsentiert kein Urteil, denn die Erinnerung an die Ermordeten
ist unabschließbar.
Weiss’ Appell an die Verantwortung wurde nach der Uraufführung des Dramas
an 14 Bühnen in Ost- und Westdeutschland und in London am 19. Oktober 1965
auch als solcher wahrgenommen. Aus der Inszenierung von Erwin Piscator
(1893–1966) in Westberlin ging das Publikum schweigend hinaus. In Ostberlin
gab es eine szenische Lesung im Sitzungssaal der DDR-Volkskammer, mit so
illustren Sprechern wie Helene Weigel, Ernst Busch, Stephan Hermlin und dem
stellvertretenden Ministerpräsidenten Alexander Abusch (1902–1982).
In Stuttgart erregte Peter Palitzsch’ Inszenierung Aufsehen. Die
Schauspieler schlüpften abwechselnd in die Rollen der angeklagten Täter,
ihrer Verteidiger sowie der Zeugen von Opferseite her. Das Publikum wurde
so mit der Einsicht konfrontiert, dass die Rollen von Opfern und Tätern
austauschbar werden, wenn die oberste menschliche Pflicht – nein zu sagen
angesichts von Unmenschlichkeit – unterbleibt. Erregte Debatten folgten –
„Die Ermittlung“ trug dazu bei, das Schweigen und Verdrängen im
Nachkriegsdeutschland zu beenden.
„Die Ermittlung“ ist jedoch kein Stück über eine exklusiv deutsche Sache.
Weiss nimmt eine dezidiert menschenrechtlich-universelle Perspektive ein.
Deshalb liefen Einwände ins Leere, die Weiss unterstellten, sein Drama sei
so „judenfrei“ (James E. Young) wie Europa nach 1945. Weiss’ Antwort an
diese Kritik: „In der ‚Ermittlung‘ werden nicht Juden vernichtet, sondern
Menschen“. Unter „bestimmten Umständen“, so Weiss weiter, können solche
„Todesfabriken überall existieren“. Die Angeklagten und die Agenturen der
Beihilfe (IG Farben und andere) werden hingegen beim Namen genannt. In
Weiss’ „Ermittlung“ wird wie im Auschwitz-Prozess, „Gerichtstag über u…
selbst und unsere Geschichte gehalten“ (Fritz Bauer).
7 Nov 2016
## AUTOREN
Rudolf Walther
## TAGS
Peter Weiss
Auschwitz-Prozess
Fritz Bauer
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