# taz.de -- Experimentelles Hörspiel: Die Lust an der Abschweifung | |
> „Tristram Shandy“ gilt als Vorläufer der experimentellen Literatur. Und | |
> als nicht vertonbar. Der Bayerische Rundfunk hat es trotzdem gewagt. | |
Bild: Das Steckenpferd passt auf, dass niemand zu weit abschweift – außer es… | |
In Studio 10 wird ein Stuhl umgeworfen. Immer und immer wieder. Mal schnell | |
und heftig, mal mit scharrenden Stuhlbeinen, mal fliegt Reisig hinterher, | |
um ein Splittern des Holzes zu suggerieren. Regisseur Karl Bruckmaier und | |
sein Team sind auf der Suche nach dem Geräusch, das ein Stuhl macht, der | |
von einer wütenden Person traktiert wird. Als eine Art Grundlagenforschung | |
empfindet Bruckmaier das, als Annäherung an einen Stoff, der 256 Jahre alt | |
ist und gemeinhin als nicht vertonbar gilt. Und doch entsteht in der | |
Geräuschekammer des Bayerischen Rundfunks ein Hörspiel des satirischen | |
Großromans „Leben und Ansichten von Tristram Shandy, Gentleman“. | |
Neunteilig. Genau wie seine Vorlage. | |
Die ersten zwei Bände veröffentlichte der englische Landpfarrer Laurence | |
Sterne 1759 – und bereitete damit der Moderne den Weg. Ohne „Tristram | |
Shandy“, so die Kurzversion des Titels, wären Meisterwerke wie James | |
Joyce´„Ulysses“ oder Peter Weiss’ „Die Ästhetik des Widerstands“ (d… | |
Hörspieladaption in der Regie von Bruckmaier 2007 mit dem Deutschen | |
Hörbuchpreis ausgezeichnet wurde) kaum denkbar. | |
Anders als der sperrige Titel erwarten lässt, erfahren die Leser so gut wie | |
nichts vom Leben des Helden Tristram, wohl aber viel über seine Ansichten. | |
Die Aufzeichnungen setzen am Tag vor seiner Geburt ein, er erläutert zudem | |
die Umstände seiner Zeugung, erst im dritten Kapitel wird er geboren, und | |
nach über 700 Seiten ist er auf der Zeitachse immer noch nicht | |
weitergekommen. | |
Zu einer Zeit, in der der Roman kaum erst zu seiner Form gefunden hatte – | |
Fielding hatte erst elf Jahre zuvor mit „Tom Jones“ einen perfekt | |
komponierten Roman vorgelegt, mit stringenten, aufeinander zuführenden | |
Handlungssträngen, einem Erzählbogen – ignoriert Sterne bereits jede | |
Gattungskonvention. In „Tristram Shandy“ jongliert er nicht nur mit | |
erzählter Zeit und Erzählzeit, er nutzt jede Gelegenheit, um sich in | |
absurden Abschweifungen zu ergehen, gibt Regieanweisungen, Kapitel werden | |
ausgelassen, zum Wohle des Ganzen, wie er den Erzähler erklären lässt. | |
Wortteile sind mit Punkten ersetzt, die Leser dürfen sich ihren Teil | |
denken, der Umgang mit Satzzeichen und Interpunktion ist erfinderisch, | |
rhythmisiert den Text eher als dass er ihn reglementiert. | |
## Das absichtliche Fadenverlieren … | |
Wegen dieser formalistischen Besonderheiten und der fehlenden stringenten | |
Handlung scheint es nicht nur unmöglich, „Tristram Shandy“ zu vertonen, | |
sondern auch zu verfilmen. Der englische Regisseur Michael Winterbottom | |
begegnete dieser Problematik in seinem Spielfilm „A Cock and Bull Story“ | |
2005, in dem er selbst die Chronologie des Romans zerstückelte, zudem eine | |
Rahmenstory erfand und das Filmen des Films zur eigentlichen Geschichte | |
machte. Karl Bruckmaier kommt in seiner Hörspiel-Adaption zu einem | |
ähnlichen Inszenierungsschluss. Zwar hält er den Verlauf des Romans Kapitel | |
für Kapitel ein, will dabei aber nicht der, wie er es nennt, „Irrfährte der | |
Geschichte“ folgen. Stattdessen inszeniert Bruckmaier, was vielleicht das | |
Wichtigste ist in diesem Roman: „Die Lust an der Abschweifung, das formale | |
Experiment. Das ist, was mich im Endeffekt mehr interessiert hat. Ich habe | |
den ‚Tristram Shandy‘ immer als Chance begriffen, alles, was Radio kann, | |
noch einmal aufzuführen.“ | |
Ein erfundener Erzähler, konspirativ-ironisch gesprochen von Sebastian | |
Weber, kündigt Kapitel an, fasst bisweilen ihren Inhalt zusammen. Wenn ein | |
Kapitel herausgekürzt wird – sei es schlicht aus Platzgründen oder weil die | |
Digression einer Passage in Bruckmaiers Augen für heutige Hörer keinen | |
Mehrwert darstellt –, ist in der Hörspielfassung das Herausreißen einer | |
Seite zu hören. | |
## … ist wie das … | |
Wenn dem Erzähler etwas unverständlich erscheint, bittet er einen Experten | |
um Auskunft. So informiert ein Pfarrer über das Thema Exkommunikation. Der | |
Übersetzer Michael Walter spricht mit Bruckmaier über das Steckenpferd von | |
Tristrams Onkel Toby. An anderer Stelle erwähnt Walter, dass es in dem mit | |
lustigen Schlüpfrigkeiten gespickten Text in Wahrheit nur um Sex und | |
Penisse in allen Zuständen geht. Onkel Tobys Kriegsverletzung am Schambein | |
oder die abstruse Nasentheorie von Tristrams Vater sind dafür | |
allgegenwärtiger Beleg. Das metaphorische Steckenpferd steht dann auch ganz | |
real im Studio, um den Sprechern beim Einlesen das passende Gefühl zu | |
vermitteln. | |
Bezüge, die Sterne zur zeitgenössischen Malerei herstellt, münzt Bruckmaier | |
auf heutige Kommunikationsweisen um: Die von Tristram stets höflich | |
angesprochenen Leserinnen und Leser schalten sich ins Geschehen ein, als | |
würden sie twittern oder chatten. Ein Historiker erzählt etwas über den | |
Siebenjährigen Krieg. Dies sei nötig gewesen, sagt Bruckmaier, weil zwar | |
der zeitgenössische Leser mit den historischen Tatsachen vertraut gewesen | |
sei, dem heutigen Zuhörer aber die Bezüge fehlten. Wenn er einen Experten | |
für Latein über das Wort „Donnerlüttchen“ fabulieren lässt, geht | |
Bruckmaiers eigene Lust an der Abschweifung allerdings mit ihm durch. | |
## … Surfen … | |
Selbst klassische Hörspielzutaten wie knarzende Türen und Vogelgezwitscher | |
kommen vor, obwohl eigentlich verpönt, da „diesen Effekten der Ruch von | |
Omas Kintopp“ anhaftet. Bruckmaier, der auch als Redakteur für die Sendung | |
Zündfunk arbeitete und seit Langem über Popmusik schreibt, setzt mehrere | |
Songs ein, um „Tristram Shandy“ zu erzählen. Die Trauer um den verstorbenen | |
Pfarrer Yorick illustrierte Sterne im Buch mit zwei geschwärzten Seiten. | |
Dieser formalistische Geniestreich wird durch einen Popsong hörbar: Robert | |
Forster, eine Hälfte der australischen Go-Betweens, hat eigens für das | |
Hörspiel einen ins Schwarze treffenden Song komponiert: „Goodbye Yorick“. | |
Das Kapitel über Knebelbärte setzt Folksänger Robert Coyne in seinem Song | |
„Whiskers“ musikalisch um – er leitet Teil sechs des Hörspiels ein. | |
Die Fabulierfreude des Textes hat sich auf das Sprecherensemble übertragen, | |
das sich lustvoll in jede noch so absurde Textpassage wirft: Peter Fricke | |
ist ein enervierend weltfremder Vater Shandy, Hans Kremer verleiht Onkel | |
Toby etwas mitleiderregendes Manisches, die Ignoranz von Tristrams Mutter | |
erhält durch Anna Drexler eine leicht hysterische Note, und Stefan Merki | |
spricht die Hauptfigur Tristram mit ausgesuchter Spitzfindigkeit. | |
## … im Internet | |
An jenem Nachmittag im Juli 2015 erscheint Merki noch einmal im Studio, um | |
eine Passage erneut aufzunehmen, beim ersten Take hatte er das Wort | |
„Parameter“ falsch betont. Als er sich im reflexionsarmen Raum ans Mikrofon | |
setzt, ist er sofort präsent und macht Tristram Shandy lebendig. Anfangs | |
sei ihm der Text relativ fremd gewesen, sagt Merki. „Man muss sich auf die | |
Satzlängen und Bögen einlassen, aber man findet auch ganz viel, das einen | |
heute anspricht.“ | |
Ein im Roman vorkommendes Lied, der Lilliburlero, ein Marsch, den Onkel | |
Toby pfeift, wenn er aufgeregt ist, wird leider nicht erklärt, sondern | |
etwas abgekanzelt. Die Verwendung heute bekannter Gassenhauer wie „Stand by | |
your Man“, um die damalige Allgegenwärtigkeit des Liedes zu verdeutlichen, | |
macht aber wieder Sinn. | |
Die bewusst thematisierte Zerfaserung, das absichtliche Fadenverlieren | |
findet seine heutige Entsprechung beim Surfen im Internet. Und darin liegt | |
auch der Reiz für die Hörer: an einem fast neunstündigen | |
satirisch-humorvollen Ausflug teilzunehmen. Ohne Ziel. | |
11 Oct 2015 | |
## AUTOREN | |
Sylvia Prahl | |
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