| # taz.de -- Kevin Coyne zum 75. Geburtstag: Same same but different | |
| > Eine Hommage an den britischen Singer-Songwriter und Maler Kevin Coyne | |
| > (1944–2004), Er würde am 27. Januar seinen 75. Geburtstag feiern. | |
| Bild: Kevin Coyne bei einem Konzert in Regensburg, 1986 | |
| Das Leben von Robbie Williams hat auf den ersten Blick wenig gemein mit dem | |
| Leben von Kevin Coyne: Boy Group versus Art School, Bravo-Poster versus Job | |
| in der Psychiatrie, Stadion-Tourneen versus kleine Vorort-Bühnen, | |
| Charts-Erfolge am laufenden Band versus einst ein kleiner Hit in Belgien, | |
| Millionenvorschüsse versus ewiger Kampf um ausstehende Tantiemen. | |
| Und doch: Die Geschichte ließe sich auch anders erzählen. Zwei | |
| Kleinbürgerkinder aus der englischen Provinz würden da die Hauptrolle | |
| spielen, zwei etwas schräge Vögel, die Musik aus Amerika hören, Musik, die | |
| ihr Leben verändern wird, zwei noch unsichere Sänger, die sich in falschen | |
| Bands wiederfinden, zwei Solokünstler, die nie den Durchbruch in den USA | |
| schaffen werden, zwei Trinker, zwei Fußballfans, zwei Expats … | |
| Wenn wir Pop als Gauß’sche Glockenkurve zeichnen, dann ist Kevin Coyne, der | |
| kleine, dickliche Weißschopf aus Derby, irgendwo links in der aufsteigenden | |
| Kurve zu suchen, vielleicht so nach einem Viertel der Gesamtstrecke. | |
| Robbie, der Popstar, ist ganz weit rechts draußen, wo es so flach ist, wie | |
| man werden muss, um dort hinzugelangen. „Let Me Entertain You“. Ein Punkt. | |
| Ein Niemand. Ein Star. | |
| ## Quark mit Schimmel | |
| Beide fangen trotzdem bei null an: Kevins Vater ist Anstreicher, Robbies | |
| Vater ist Wirt, verlässt aber bald Frau und Kind, um in englischen | |
| Ferienorten US-Schlager zum Vortrag zu bringen. Robbie wird selbst Sinatra | |
| singen, will Sinatra werden, also den Job des Vaters erfolgreich zu Ende | |
| bringen; Kevin dagegen singt für und über Robbies Vater, etwa wenn er den | |
| Glanz beschreibt, den ein Jukebox-Song in die trüben Labour-Fünfziger | |
| bringen konnte, aber der Protagonist heißt wie sein Vater, wie sein Bruder | |
| – Arthur: „Down the Trocadero, every Saturday night, Martha and Arthur | |
| dancing away/To the big beat, the roaring sound“. | |
| Nie ist etwas einfach und Psychologie sieht oft aus wie Quark mit Schimmel | |
| oben drauf, wenn sie aus der Küche kommt, aber schon hier zeigt sich der | |
| Unterschied zwischen Robbie und Kevin: Robbie Williams kommt im Prinzip | |
| nicht über den Lebenstraum seines Vaters hinaus; Popmusik bleibt ihm | |
| Surrogat und Droge – Kevin Coyne findet sofort den archimedischen Punkt, um | |
| die Popwelt aus den Angeln zu heben: Autor und Interpret werden darin eins. | |
| Die Sechziger bringen diesen Singer-Songwriter- Typus hervor und Kevin | |
| Coyne ist der avancierteste britische Vertreter dieser neuen Zunft. Seine | |
| Songs sind bevölkert von fiesen Schulhof-Bullies, von alten, aber | |
| lebenslustigen Weibern, von gefährlichen Messerstechern, von schüchternen | |
| Buben, die lieber mit den Mädchen spielen wollen, mit, wie es einmal bei | |
| ihm heißt, „komischen Menschen“, was sie aber keinesfalls zu schlechten | |
| Menschen macht. Sondern zu interessanten. | |
| ## Ein Blues-Fraktal | |
| Das ist kein weißer Blues, aber nicht ohne den Blues denkbar, ein | |
| Blues-Fraktal. Wie ungelenk dies anfangs ist, ja, sein muss, hört man auf | |
| seinen Platten mit Siren, entstanden um 1969: Da sind die beschriebenen | |
| Figuren in den Texten noch schematisch, die Botschaften einfach, die Musik | |
| ebenso – stumpfer, handwerklich unreifer Boogie, standardisierter British | |
| Blues Boom. Led Zeppelin ist Siren damals um Lichtjahre voraus. Aber der | |
| Bandname ist bereits Programm: Es ist der Gesang, dieses Heulen, das man | |
| aus Shakespeares Hexenszenen kennt, aus dem Wind über Nordenglands | |
| verwüsteten Landschaften, diese Schreie, nachts im Irrenhaus, dieses | |
| schlecht gelaunte Knarzen, das schiere Gegenteil also von „Let Me Entertain | |
| You“, der einen hinhören lässt. Kevin kann gar nicht anders, als Kevin zu | |
| sein. | |
| Darum ist auch die oft kolportierte Geschichte mit der Morrison-Nachfolge | |
| bei den Doors so unwichtig: Was hätte der kleine Mann aus Derby mit seinem | |
| viel zu großen Kopf und dem schmächtigen Körper einem Publikum zu sagen | |
| gehabt, das einen esoterisch eingefärbten Sex-Gott verloren hat? In einem | |
| seiner späten Lieder heißt es: „I could have been something, I could have | |
| been anybody, if I had fought and put my mind to it […] I could have gone | |
| to London in a big train, gone in the smoke and make myself into a big | |
| star.“ Es gab die Momente, in denen Kevin Coyne bereut hat, diesen Zug | |
| nicht genommen zu haben, aber das war nur eine scheinbare Reue, ein kurzer | |
| Moment des Selbstmitleids. | |
| Denn er ist ja aufgesprungen, als Richard Branson die Fahrkarten verteilt | |
| hat, und ist betrunken aus einer Luxuslimousine gefallen, wie er erzählt | |
| hat, er aus der einen Tür, Captain Beefheart aus der anderen. Er hatte Andy | |
| Summers in der Band, wie bald darauf The Police. Er hatte ein Haus in | |
| London, eine Frau und Kinder und Menschen, die ihn bewundert haben, wie man | |
| als Popstar bewundert werden will. Aber in dem großen Kopf ging es immer | |
| noch so zu wie im Wittingham Mental Hospital oder wo Kevin sonst so mit den | |
| Außenseitern, nein, den Weggeworfenen der Gesellschaft zu tun hatte. | |
| ## Hits und Street Credibility | |
| Gleich und gleich gesellen sich nicht unbedingt gern, aber dann doch. Seine | |
| Alben für Virgin versuchen manchmal, dem neuen Selbstbildnis als | |
| Rockmusiker zu entsprechen, manchmal wird der Freiraum genutzt, den die | |
| Firma gewährt, die selber noch nicht so genau weiß, wie das ist: Ein | |
| wichtiger Player im Medienrummel zu sein. Kevin soll Hits liefern, aber | |
| auch etwas street credibility parat haben; er darf mit Robert Wyatt und | |
| Dagmar Krause (seinerzeit beides Virgin-Künstler) die Grenzen des | |
| Verkaufbaren ausloten, aber irgendwie funktioniert es nicht so recht: Die | |
| Alben ernten gute Kritiken, aber liegen meist wie Blei in den Läden. | |
| Hier ist sie wieder, die eingangs schon beschrieben Dichotomie: Pop | |
| einerseits als Ware, andererseits als Glückskonzept. Pop konnte das eine | |
| Weile, Robbie Williams vielleicht auch: Das eine tun, das andere nicht | |
| lassen. Kevin konnte es nicht so gut. Er trank. Er soff. Seine | |
| Livekonzerte, eben noch magisch, auf des Messers Schneide, wurden zu | |
| mitleiderregenden Brabbelnummern. Sein Leben wurde nicht gerettet durch | |
| Rock ’n’ Roll, sondern durch eine evangelische Religionslehrerin, aber das | |
| ist eine andere Geschichte. | |
| Die Alben, die immer noch regelmäßig erschienen, litten in den Achtzigern | |
| unter zweierlei: Zum einen schreckte Kevin nicht davor zurück, den | |
| klangästhetischen Äquivalenten zu Besenfrisur und Schulterpölsterchen | |
| nachzugeben (Linn Drums etwa), zum anderen ließ er jetzt seiner Abneigung | |
| gegen Produzenten freien Lauf. Er hasste es, Songs mehrmals aufzunehmen, an | |
| der Musik zu arbeiten, überhaupt sich groß vorzubereiten, sondern spielte | |
| Musik ein, wie andere eine Bank überfallen: rein, rumschreien, raus, | |
| fertig. Schließlich war das seine Stärke – mit der Hand in die Luft zu | |
| greifen und aus ein paar wenigen Wörtern einen Charakter schaffen, der das | |
| Gegenüber faszinieren konnte. Eine Figur, die sofort zu leben anfing, wenn | |
| Kevin den Mund aufmachte. | |
| ## Exil auf dem Lebkuchenplaneten | |
| Die Werke aus Kevins Nürnberger Zeit, also ab Mitte der Neunziger, hatten | |
| wieder etwas Ruhe zurückgewonnen, etwas Stil, dank der Sicherheit, die ihm | |
| sein Exil auf dem Lebkuchenplaneten gab, die befreundeten Musiker, die | |
| Frau. Es waren vermutlich immer zu viele Lieder auf einer Platte, aber hey, | |
| auch das ist Pop: keine Verknappung des Angebots, nur nicht nachlassen. | |
| Nicht wie Robbie, der eine Weile Konzerte gab, bei denen er nur sechs | |
| Lieder sang. Und zwischendrin das Meisterwerk: Vorher und nachher hat Kevin | |
| Coyne keine Platte mehr gemacht wie „Life Is Almost Wonderful“ mit Brendan | |
| Croker. | |
| Der Zufall hatte die beiden zusammengeführt. Offenbar ließ sich Kevin von | |
| der filigranen Seite Crokers etwas bändigen, fasziniert von dem, was | |
| möglich war – seine Häßliches-Entlein-Texte zu schönster Schwanenmusik zu | |
| stellen. Nicht die Neuerfindung des Rads, aber ein Werk wie Randy Newmans | |
| „12 Songs“ oder Dylans „World Gone Wrong“. Lässig. Gelassen. Mit „Li… | |
| …“ (und einigen weiteren Alben) hat Kevin Coyne etwas geschaffen, was ein | |
| Robbie Williams nicht hinkriegen wird in seinem goldenen Käfig. | |
| Er hat die Naturgesetze des Mediengeschäfts ad absurdum geführt. Er hat | |
| Gold gesponnen aus dem Stroh der Dummheit, emotionales Gold. Er hat der | |
| Wahrheit Gehör verschafft. Er hat die Spielregeln geändert, indem er sie | |
| einfach nicht beachtet hat. Er hat Menschen berührt. Er war Mensch. Und | |
| dann kam der Tod, die eifersüchtige Sau … | |
| Eine längere Fassung dieses Textes erscheint in dem Band „The Crazy World | |
| of Kevin Coyne“, der im Oktober begleitend zu einer Werkschau in der | |
| Nürnberger Kunstvilla veröffentlicht wird. | |
| 26 Jan 2019 | |
| ## AUTOREN | |
| Karl Bruckmaier | |
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