Introduction
Introduction Statistics Contact Development Disclaimer Help
# taz.de -- Konzert von Peter Blegvad in Köln: Morgenröte der Utopie
> In den 1970ern waren Peter Blegvad und Anthony Moore das internationale
> Salz in der Krautrock-Ursuppe. Am Mittwoch spielen sie in Köln.
Bild: Peter Blegvad ist sehr groß, Anthony Moore ist sehr klein!
Wenn man sich mit den Zehenspitzen auf die im Vorjahr erschienene „Peter
Blegvad Bandbox“ stellt – alles in allem sieben CDs umfassend, also knapp
fünf Zentimeter hoch, dank Booklet – und den Kragen arg reckt, dann sieht
man … nein, doch noch nicht! Drum legen wir noch die vier Schachteln
[1][Henry Cow] drunter, die anlässlich des Vierzigjährigen der längst noch
nicht zu Ende gemolkenen Avantgarde-Kuh erschienen sind … nein, immer noch
nicht?
Vielleicht braucht es noch ein [2][Slapp-Happy]-Album mit einem rückwärts
zu lesenden Titel (schlauer Karriere-Move!) und alle Alben mit John Greaves
und dann noch die paar Vinyl gewordenen Anläufe auf den Pop-Olymp, die
einst bei Richard Bransons Virgin-Label in London erschienen sind?
Nein, die Karriere von Peter Blegvad ist immer noch nicht in Sicht, nur wir
befinden uns auf immer wackligerem Unterbau. Und sind damit selbst
varietéreife Gleichgewichtskünstler geworden, zu den wenigen Equilibristen
gehörend, welche es bis zum heutigen Tage verstehen, zwischen all den
Stilen und Moden so zu balancieren, dass sie nicht auf Schnauze und Plauze
fallen.
## Scheinriese des Pop
Wenn wir allerdings die beachtliche Körpergröße dieses Scheinriesen des Pop
besäßen – Blegvad braucht dereinst einen überlangen Sarg –, dann würden…
jenseits der für unsereins einfach zu hoch geratenen Wall of Sound am 2.
Oktober zu Köln ein Event zu hören und zu sehen bekommen, das im Duo mit
Anthony Moore eine siebenteilige Text- und Musik-Collage verspricht: „Human
Geography US“ – Heiliger Pataphysikus, hilf! Oder wenigstens die
Schutzheilige aller Rocklexika, Sankta Indolentia: Moore und Blegvad,
eigentlich gebürtiger Amerikaner, kennen sich seit den frühen Siebzigern.
Der Hamburger Autor Uwe Nettelbeck, im Sauseschritt unterwegs vom braven
Zeit-Redakteur zum literarischen Unruhestifter, hatte damals den lustigen
und gut dotierten Auftrag, Rockmusik aus Deutschland zu erfinden, und so
verschanzten sich einige Musiker in einem aufgelassenen Schulhaus im
niedersächsischen Rotenburg an der Wümme, nannten sich mal [3][Faust,] mal
Slapp Happy, und Moore und Blegvad waren irgendwie das internationale Salz
in der Krautrock-Ursuppe.
Das teils brachiale, teils naive Gebräu schwappte schnell über den Kanal
und mit der linksradikalen Combo Henry Cow schien man genau die Richtigen
kennenzulernen, um dem Großkapital gerade so viele Golddollaros aus dem
dicken Säckel ziehen zu können, wie man als Rock-’n’-Roll-Bohemien so
brauchte.
## Langhaarige Geldvernichter
Doch, ach, im Lauf der Jahre kam Richard Bransons Buchhaltung den
langhaarigen Geldvernichtern auf die Schliche und vorbei war’s mit der
Avantgarde für die Massen. Henry Cow und Slapp Happy zellteilten sich in
diverse Unterprojekte; Labels wurden gegründet, eigene Vertriebsstrukturen
aufgebaut – in den frühen Post-Punk-Tagen schien Veränderung möglich, nein,
unumgänglich. Nur der gebürtige New Yorker Peter Blegvad, der 1965 mit
seiner Familie aus Furcht vor der Einberufung zur US-Army nach England
gezogen war, galt im sich ungesund aufblähenden Virgin-Imperium als Mann
mit Pop-Appeal, und so entstanden zwei Alben mit etwas überproduzierten
Rocksongs zwischen Esoterik und Chartspotenzial – im Nachhinein gar nicht
mal so übel, aber unter betriebswirtschaftlichen Gesichtspunkten sicherlich
ein Albtraum.
Wie etwas vermarkten, das dreißig Dinge auf einmal war? Was blieb, waren
keine Goldenen Schallplatten, sondern: Freundschaften. Ob mit [4][Andy
Partridge] von der britischen Band XTC, den ehemaligen Cow-Musikern Chris
Cutler oder John Greaves, ob die Kameraderie mit US-Indie-Größen wie Peter
Holsapple oder Chris Stamey, ob Arbeiten mit dem Jazz-Solitär [5][Carla
Bley] oder deren Tochter Karen Mantler – in der Steuererklärung mochte Pop
keine große Rolle mehr spielen (Blegvad mutierte zum Zeichner, zum Autor,
zum Anglisten), in grauen Morgenstunden, wenn irgendwo ein Aufnahmestudio
leer stand, fanden sich immer ein paar Songs, die Peter Blegvad mithilfe
der Genannten einspielen und auf kleinen Labels veröffentlichen konnte.
Persönlich habe ich das Album [6][„Downtime“] (1989) immer wie eine Hostie
des Eigensinns vor mir hergetragen; sie scheint mir die Substanz des
Schaffens von Peter Blegvad zu sein, vielleicht sogar die Transsubstanz. Zu
manchen Liedern kann man jedenfalls tanzen.
## Nudelsieb des Pop
Peter Blegvad ist kein Originalgenie des Pop. Er kann nicht auf diese eine
Idee verweisen, die so viel Kraft in sich birgt, dass eine ganze,
lebenslange Karriere darauf fußen kann. Peter Blegvad ist eher ein
Nudelsieb des Pop. Jahrzehnte bester Musik sind durch ihn
hindurchgeflossen, und was hängenbleibt, kommt scharf abgeschmeckt auf den
Tisch und wird genossen. Oder, um beim Bild des Scheinriesen zu bleiben,
aus der Nähe betrachtet erkennt man die Handschrift und den Einfluss von
Ray Davies und Bob Dylan und Merle Haggard, aber eben auch Sun Ra oder John
Cage – und den Willen, die einen nicht wegen der anderen zu verraten.
Darum heißt es, etwas zurückzutreten, und schon ragen vor einem wahre
Song-Monster auf, klassische, makellose Rockmusik – nichts scheint derzeit
altmodischer, ich weiß – mit geißbockhaften Sinnsprüngen in den Texten,
elegant ausgeführter Musik, aus dem Moment oder der Not geborenen
Arrangement-Ideen: „We’ll meet again. Yeah, someday our day will come! And
not just for some, but a SOMEDAY for everyone, from the crème de la crème
to the crumb de la crumb“. Also doch! Morgenröte der Utopie! Hoffnung für
uns alle!
Und jeder an seinem Platz: So pilgern auf Peter Blegvads letztem Album „Go
Figure“ die Rolling Stones, „those famous men“, zum kleinen Peter und
wollen von ihm wissen, wie man den Blues spielt. Der große Blegvad
antwortet ihnen mit einem Zitat von John Cage: „I have nothing to say and I
am saying it.“ An anderer Stelle zitiert er Ezra Pound, es seien Kräfte
hier am Werk, Kräfte in der Luft, Kräfte – diese Luftkräfte sind es, die
seine Texte höher hinaustragen als die Melodien und Rhythmen.
Sind es nicht die eigenen Worte, dann hilft ein Leben als Lesender:
Sternstunde der Blegvad’schen Kunst ist seine Vertonung des
Richard-Huelsenbeck-Textes „End of the World“ zum Hörspiel [7][„Dr.
Huelsenbecks mentale Heilmethode“], die selbst einen Greil Marcus wimmelig
werden ließ und Eingang fand in seine geheime Kulturgeschichte des 20.
Jahrhunderts, „Lipstick Traces“. Aber, ach, in der Zwergenwelt gilt der
Scheinriese wenig; zu mühsam ist es, seiner flüchtigen Spur zu folgen. Oder
doch, felix Colonia, einfach am Stadtgarten die Treppe rauf und rein ins
Vergnügen.
2 Oct 2019
## LINKS
[1] https://www.youtube.com/watch?v=4iVbYmx9UVU
[2] https://www.youtube.com/watch?v=C3DG5jY1Tdo
[3] ttps://www.youtube.com/watch?v=Epuga2JoF8A
[4] https://www.youtube.com/watch?v=Pykvmsr-g_U
[5] https://www.youtube.com/watch?v=AVohwSlaeKU
[6] https://www.youtube.com/watch?v=taoDn3-hVN8
[7] http://hoerspiele.dra.de/vollinfo.php?dukey=1377538&vi=3&SID
## AUTOREN
Karl Bruckmaier
## TAGS
Peter Blegvad
Anthony Moore
Henry Cow
Jazz
Singer-Songwriter
Jeffrey Lewis
USA
Kevin Coyne
James Joyce
## ARTIKEL ZUM THEMA
US-Jazzerin Carla Bley ist tot: Gesellschaftsverändernde Musik
Die Jazzkomponistin und Bandleaderin Carla Bley ist eine wichtige Stimme
der US-Avantgarde. Nun ist die 87-jährige gestorben. Ein Nachruf.
US-Songwriterin Rickie Lee Jones: Manierismen und all that Jazz
Die Frau mit dem Barett: US-Singer-Songwriterin Rickie Lee Jones
veröffentlicht das Album „Pieces of Treasure“. Würdigung einer großen
Künstlerin.
Neues von Jeff Lewis und Adam Green: Antifolk allein zuhaus
Die US-Antifolkies Jeffrey Lewis und Adam Green haben neue Alben mit je
bestechender Eigenlogik veröffentlicht. Und ein Comic gibt’s obendrauf.
Neues Album der Band Wilco: Geradlinige Freude
Wohin marschiert dieser Zug? Die Band Wilco aus Chicago testet in „Ode to
Joy“, was in ausufernder US-Rockmusik noch für Leben steckt.
Kevin Coyne zum 75. Geburtstag: Same same but different
Eine Hommage an den britischen Singer-Songwriter und Maler Kevin Coyne
(1944–2004), Er würde am 27. Januar seinen 75. Geburtstag feiern.
Experimentelles Hörspiel: Die Lust an der Abschweifung
„Tristram Shandy“ gilt als Vorläufer der experimentellen Literatur. Und als
nicht vertonbar. Der Bayerische Rundfunk hat es trotzdem gewagt.
You are viewing proxied material from taz.de. The copyright of proxied material belongs to its original authors. Any comments or complaints in relation to proxied material should be directed to the original authors of the content concerned. Please see the disclaimer for more details.