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# taz.de -- Vorwärts & nicht vergessen: Ein Journalist nimmt Anstoß
> Als Kurt Nelhiebel Nachrichten-Chef bei Radio Bremen werden sollte,
> intervenierte Innensenator Hans Koschnick. Über einen Journalisten mit
> Haltung
Bild: Kurt Nelhiebel in der Zeit des Auschwitz-Prozesses
Kurt Nelhiebel hört nicht auf, Anstoß zu nehmen. „Alles, was ich höre oder
sehe“, sagt er, „zwingt mich zur Parteinahme.“ Denn „als Journalist bra…
man eine Haltung.“ Und solange die wach ist, kann auch der Journalismus
nicht aufhören, das Bedürfnis, die Stimme zu erheben: Einen
Helmut-Kohl-Nachruf hat er gerade erst auf [1][weltexpresseo.de]
veröffentlicht, in der Artikelserie „Anatomie eines Lügenkomplotts“ die v…
der zeitgenössischen Presse verstörend verschwiegene Geschichte des Philipp
Müller rekonstruiert. Den hat die Polizei 1952 bei einer Friedensemo in
Essen erschossen, 15 Jahre vor Benno Ohnesorg.
Und es gibt noch so viel zu tun: Auf Nelhiebels Sofa türmen sich
Zeitungsseiten mit Anstreichungen, keine Kissen. Auch der Flatscreen auf
dem Schreibtisch ist nur in den Ruhemodus gewechselt, einmal auf die
Tatstatur getippt, da ist die Arbeitsoberfläche schon wieder.
Im Ordner liegen die Bilder parat: Hier, die Karikaturen, oh Mann, das sind
wirklich schöne Federzeichnungen! Und dort das Gruppenfoto in Schwarz-Weiß,
„das waren meine Lehrer“, sagt er. „Der hier, immer mit Parteiabzeichen u…
Scheitel, das war mein Deutschlehrer.“ Nelhiebel tippt auf einen Mann, der,
soldatisch-gerader Rücken, in die Kamera starrt. „Bei dem hatte ich immer
eine Fünf.“ Und tatsächlich hat ja Nelhiebel die Art Deutsch, die dieser
Nazilehrer ihm hätte beibringen können, nie gelernt.
Zum 90. Geburtstag [2][veranstaltet die Buxus-Stiftung] in der Bremer Villa
Ichon am heutigen Mittwoch ein Symposion und einen Festakt für Nelhiebel.
Der war, in einer Welt, in der das Angestelltenverhältnis das Sein
bestimmt, jahrzehntelang Nachrichten-Chef bei Radio Bremen. Außerdem sprach
und verfasste er Kommentare. Das war damals etwas ganz Unerhörtes, dass der
Nachrichten-Chef im öffentlich-rechtlichen Rundfunk auch eine eigene
Meinung vertreten wollte. Das Recht dazu hatte sich Nelhiebel 1965 extra in
den Vertrag schreiben lassen.
Zugleich hatte die Neuverpflichtung den Argwohn des Innensenators geweckt:
Hans Koschnick (SPD) marschierte ins Büro des Intendanten Heinz Kerneck,
um der Leitung der Anstalt Erkenntnisse des Verfassungsschutzes zu
unterbreiten: Ob man denn wisse, was für einen linken Vogel man sich da ins
Nest geholt habe? Dass er zuvor für eine antifaschistische Zeitung
gearbeitet hätte?
Kerneck wusste es. „Der hat sich für mich verbürgt“, sagt Nelhiebel. „D…
bedeutete für mich: Ich darf mir nichts zuschulden kommen lassen.“ Also
nutzt er weiter sein Pseudonym, Conrad Taler. Unter dem publiziert er bis
heute Bücher und Essays. Und unter dem, tief prägende Erfahrung, hatte er
bereits 1963 vom Frankfurter Auschwitz-Prozess berichtet – „nach bestem
Wissen und Gewissen“, wie er Jahre später resümiert, als die 21 Reportagen
in einem Band erscheinen – aber ausdrücklich nicht als neutraler
Beobachter: „Wenn mir jemand wegen meiner Parteinahme für die Opfer
mangelnde Objektivität vorwirft, dann ehrt mich das.“
Radiojournalist Klaus-Jürgen Schmidt ist Jahrgang 1944 und muss als
Nelhiebel-Fan bezeichnet werden. Als sein Mentor vor drei Jahren den
Friedenspreis der Villa Ichon erhielt, fand es Schmidt unerträglich, dass
„niemand bei Radio Bremen auf die Idee gekommen ist, den medialen Schatz
vor der Haustür zu heben“. Also machte er es eben selbst, im Bürgerradio,
und die Sendung „Nelhiebels Welt“ gibt’s noch als Podcast zum Nachhören.
„Als Kurt Nelhiebel in die Nachrichten-Redaktion Radio Bremens kam“,
[3][erzählt Schmidt darin], „war ich ein Anfänger in diesem Metier.“
Er, Schmidt, und seine Generationsgenossen hätten eher den Befreiungskampf
in der Dritten Welt im Kopf gehabt als die Befreiung vom faschistischen
Erbe. „Um dieses Erbe kümmerte sich der Kollege Nelhiebel.“ Und das stimmt.
Das treibt Nelhiebel um, erst recht seit der Begegnung mit Fritz Bauer, dem
hessischen Generalstaatsanwalt, dem Ankläger im Auschwitz-Prozess.
Bauer wird ihm ein Leitstern. Tief verinnerlicht hat Nelhiebel dessen
Sentenz, nach der nichts der Vergangenheit angehöre, alles Gegenwart sei
und wieder Zukunft werden kann – ein Menetekel. Nelhiebel nimmt das
Erstarken des Rechtsradikalismus ab Mitte der 1990er-Jahre wahr. Er macht
dessen systemische Verharmlosung kenntlich, einen „Skandal ohne Ende“, wie
er schreibt.
Die Senderchronik weiß davon nichts. Dabei wäre das ja zu bedenken: Zehn
Jahre hat der NSU in Deutschland unerkannt gemordet. Wäre es nicht möglich
gewesen, wenigstens diese Tatmuster früher zu erkennen, mit einem
Journalismus, der das Qualitätsmerkmal Haltung hochhält?
Die Frage stellt sich nicht: Für die Senderhistorie ist Nelhiebel bloß
Erfinder der plattdeutschen Nachrichten. „Das ist das Einzige“, sagt er,
legt eine eigentümliche Mischung von Spott und Panik in die Stimme und
rollt im Bürostuhl ein wenig nach hinten.
Aber immerhin: Das ist ein Anknüpfungspunkt, auch wenn Nelhiebel es nicht
als das, was sein „eigentlicher Einsatz für den Sender war“, sieht. Und am
29. Juni hat er Gelegenheit, das Bild geradezurücken, denn da will
Nordwestradio ab 13.05 Uhr den Jubilar mit der einstündigen
Gesprächssendung „2 nach 1“ ehren. Und am Abend wird dann das regionale
TV-Magazin „buten un binnen“ fragen, was denn eigentlich Kurt Nelhiebel
mache.
Die Antwort fällt leicht. Was er immer getan hat. Anstoß nehmen.
Recherchieren. Schreiben. Veröffentlichen. Damit hört er nicht auf, das
Tagesgeschehen bringt ihn auf Trab: Ihn verblüfft, dass Kanzlerkandidat
Martin Schulz dem französischen Präsidenten Emmanuel Macron überaus
herzlich zu Erfolgen gratuliert, die die französische Schwesterpartei der
SPD ruiniert haben.
Und immer wieder vertieft er sich in zeithistorische Themen, sichert
Fakten, beschneidet Legenden. Gerade erst hat er auf weltexpresso.de einen
Mythos dekonstruiert – eine Geschichte, die das Leid, das Sudetendeutsche
bei der Vertreibung erfahren haben, extragrell illustriert hätte. Und die
sich als Schauermärchen erwiesen hat, als bestenfalls verzerrte Erinnerung,
der er akribisch nachgegangen ist. Schließlich weiß er, dass es Unrecht
gab. Und wichtig ist ihm, dessen genaue Umrisse zu kennen: Er selbst stammt
aus Jablonné v Podještědí. Fast wäre er auf der Flucht aus Böhmen
erschossen worden.
Nelhiebel aber hat die überlebte Gefahr, das eigene Leid nicht blind
gemacht dafür, dass der Hass, der ihm als Deutschem entgegenschlug, Gründe
hatte. Gerade wer kommunistisches Unrecht und nationalsozialistisches
Menschheitsverbrechen gleichsetzen will, neigt dazu, das zu verdrängen.
Er wird sich damit Nelhiebel zum Feind machen, wie Ex-Bundespräsident
Joachim Gauck. Analytisch-scharfsinnig hat Nelhiebel dessen
geschichtspolitisches Wirken seziert, ein echter Abgesang. Online ist
dieser alternative Zapfenstreich im Februar [4][erschienen], Überschrift:
„Auf der Schleimspur des Zeitgeistes“. Und das ist ein passender und
schöner Titel, gerade auch weil er so gehässig klingt, wie er gemeint ist.
Denn „nil nisi bene“– das gilt schließlich nur für Tote. Und nur wer
fühllos ist, bleibt immer höflich.
20 Jun 2017
## LINKS
[1] https://www.weltexpresso.de/index.php/zeitgesehen/10135-heuchler-und-meuchl…
[2] http://www.buxus-stiftung.de/index.php/de/kontakt
[3] http://www.radiobridge.net/HEIMATBRUECKE1.mp3
[4] http://www.kurt-nelhiebel.de/index.php/ns-prozesse/zweierlei-mass
## AUTOREN
Benno Schirrmeister
## TAGS
Fritz Bauer
Radio Bremen
Konrad Adenauer
Journalismus
Hans Koschnick
Schwerpunkt Nationalsozialismus
Peter Weiss
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