# taz.de -- Historiker Stickler über Vertriebene: "Enorme Konflikte verhindert" | |
> Die Vertriebenen nach dem Zweiten Weltkrieg hätten sich radikalisieren | |
> können, sagt Historiker Stickler. Doch ihre Lobby habe erreicht, dass sie | |
> integriert wurden. | |
Bild: Fahnen des Bundes der Vertriebenen beim "Tag der Heimat" in Berlin | |
taz: Herr Stickler, wie viel polititischen Einfluss hat der Bund der | |
Vertriebenen BdV noch? | |
Matthias Stickler: Er hat bei weitem nicht mehr so viel Einfluss wie in den | |
50er- oder 60er-Jahren. Der Einfluss der Vertriebenen ist vor allem dadurch | |
zurückgegangen, dass die Integration der Vertriebenen in die deutsche | |
Gesellschaft erfolgreich verlief. Aber ein Rest an Einfluss ist noch da - | |
auch wieder in die SPD hinein: Die Rede des damaligen Bundeskanzlers | |
Gerhard Schröder auf dem "Tag der Heimat" 2000 war die erste eines | |
SPD-Vorsitzenden seit Willy Brandt. | |
Aber viele Wählerstimmen kann man nicht mehr gewinnen, wenn man sich um die | |
Vertriebenen bemüht. | |
Ja, das ist richtig. Früher war das anders. In den 60er-Jahren kamen | |
Politiker aller Parteien überhaupt nicht an den Vertriebenenverbänden | |
vorbei. | |
Die BdV-Vorsitzende Erika Steinbach ist zwar in Westpreußen geboren, aber | |
wohl doch nur, weil ihr Vater da als Wehrmachtssoldat stationiert war. Ist | |
es da nicht absurd, dass sie für die Vertriebenen spricht? | |
Das hat es bei den Vertriebenen-Verbänden immer wieder gegeben. Der | |
Bundesvertriebenenminister Theodor Oberländer etwa stammte eigentlich aus | |
Thüringen. Aber selbst bei den Mitgliedern der Verbände, die noch in den | |
früheren ostdeutschen Gebieten geboren wurden, kann man nicht ohne weiteres | |
davon ausgehen, dass eine wirkliche Verwurzelung in den ehemaligen | |
Heimatgebieten heute noch vorhanden ist. Das trifft möglicherweise auch auf | |
Erika Steinbach zu. | |
In Politikerreden hört man häufiger, die Vertriebenen hätten einen Dienst | |
zum Frieden in Europa geleistet, weil sie sich de facto mit dem Verlust | |
ihrer Heimat abgefunden und sich in die Bundesrepublik integriert hätten - | |
stimmt das? | |
Im Grunde schon. Es gab nach 1945 ein enormes Konfliktpotenzial in der | |
bundesdeutschen Gesellschaft. Die Millionen Vertriebenen hätten sich auch | |
radikalisieren können - im links- oder rechtsextremen Sinne. Dazu ist es | |
nicht gekommen, auch wegen der totalen Niederlage von 1945 und der | |
Verbrechen der Nationalsozialisten, die eine Anknüpfung an eine "nationale" | |
Politik überkommenen Typs nicht mehr zuließen. Aber wenn man zum Beispiel | |
vergleicht, welches Radikalisierungspotenzial es bei den palästinensischen | |
Flüchtlingen im Nahen Osten gibt, kann man schon sagen, dass die | |
Integration der deutschen Vertriebenen eine Erfolgsgeschichte war. | |
Kritiker werfen dem BdV vor, sich nicht von Mitgliedern zu distanzieren, | |
die rechtsextreme oder revisionistische Ideen vertreten. Müsste sich da der | |
BdV klarer abgrenzen? | |
In der Vergangenheit hat er das ja vielfach getan und auch heute ist dies | |
sehr wichtig. Erika Steinbach hat sich etwa von den | |
Entschädigungsforderungen der "Preußischen Treuhand" distanziert. Vor 20 | |
Jahren trennte sich die Landsmannschaft Schlesien von ihrer | |
Verbandszeitschrift Der Schlesier wegen rechtsextremer Tendenzen. Aber das | |
nimmt die Öffentlichkeit nicht immer wahr. Die Vertriebenen wurden nach | |
1945 überwiegend in das Spektrum der demokratischen Parteien eingebunden. | |
Auch heute ist nach meinem Eindruck die übergroße Mehrheit der in den | |
Verbänden organisierten Vertriebenen keineswegs rechtsextremistisch oder | |
revisionistisch orientiert. | |
Spätestens seit Anerkennung der Oder-Neiße-Linie als deutsche Ostgrenze | |
durch die Regierung Kohl kann doch niemand mehr annehmen, dass die früheren | |
ostdeutschen Gebiete irgendwann zu Deutschland gehören: Machen sich | |
Vertriebene da wirklich noch Hoffnungen? | |
Dieses Thema ist, wenn ich recht sehe, abgeschlossen - der BdV war damals | |
zwar mehrheitlich gegen die Anerkennung der Oder-Neiße-Linie, aber man fand | |
sich schließlich damit ab. Ich habe den Eindruck, dass die Vermögensfrage, | |
die seit einigen Jahren wieder hochkocht - Stichwort: "Preußische Treuhand" | |
-, im Grunde eine Ersatzhandlung ist. Das kam auf, weil die Grenzfrage | |
gelöst ist. Mir scheint, dass es nur bei marginalen Restgruppen im BdV noch | |
Hoffnungen gibt, da sei etwas rückgängig zu machen. | |
Sollte es ein "Zentrum gegen Vertreibungen" in Berlin geben - trotz der | |
schweren diplomatischen Probleme, die in den Beziehungen zu Warschau und | |
Prag die Folge wären? | |
Es sollte schon eine Form der öffentlichen Erinnerung an Flucht und | |
Vertreibung geben - und zwar in europäischer Perspektive. Es existieren ja | |
auch im Koalitionsvertrag von CDU/CSU und SPD entsprechende Vereinbarungen. | |
INTERVIEW: PHILIPP GESSLER | |
21 Oct 2007 | |
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Fritz Bauer | |
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