# taz.de -- Neuer Roman von Karl Ove Knausgård: Schwelende Konflikte | |
> Der Starautor Karl Ove Knausgård erweist sich als extrem guter Erzähler, | |
> der sich Probleme einhandelt. „Der Morgenstern“ heißt sein neuer Roman. | |
Bild: Ein Charisma wie die Nordsee selbst, tief und rau und überhaupt: Karl Ov… | |
Ein neuer Planet am Himmel verheißt selten was Gutes, das weiß man | |
spätestens seit [1][Lars von Triers Endzeitfilm „Melancholia“]. Auch in | |
„Der Morgenstern“, dem neuen Roman des norwegischen Autors Karl Ove | |
Knausgård, starrt die Welt staunend nach oben: Ein Feuerball ist am Himmel | |
erschienen. | |
Knausgård schreibt nun also Science-Fiction, könnte man denken. Das ist neu | |
für den 53-Jährigen, der dafür berühmt wurde, sein Leben in autofiktionalen | |
Riesenromanen zu sezieren. Seit seinem sechsbändigen Zyklus „Min Kamp“ | |
(„Mein Kampf“) gilt er als einer der letzten Vertreter eines aussterbenden | |
Typus: des männlichen „Autorengenies“. | |
Knausgård inszeniert sich als Typ mit einem Charisma wie die Nordsee | |
selbst, tief und rau und überhaupt, dazu selten verlegen um eine | |
Provokation. Vor Jahren lobte er die rechte Partei „Fremskrittspartiet“ als | |
„Segen“. | |
In seinem neuen Roman bricht Chaos auf der Welt aus, während der besagte | |
Stern am Himmel leuchtet. Ein klinisch totes Unfallopfer erwacht wieder zum | |
Leben, die Mitglieder einer Metal-Band werden bestialisch ermordet, | |
komische Vögel kreisen am Himmel. Der Sommer flirrt – je nach Lichteinfall | |
– melancholisch oder dystopisch. | |
Ganze neun Ich-Erzähler:innen werden auf fast 900 Seiten eingeführt. | |
Knausgårds Fans verehren den Viel- und Langschreiber als großen | |
Entschleuniger, [2][seine Kritiker:innen unterstellen ihm | |
„literarisches Manspreading“]. | |
## Meister der Selbsterkundung | |
Dabei ist es nicht mal so, dass der Erzähler Knausgård die Bühne | |
breitbeinig betritt. Eher gesellt er sich unaufdringlich zur Leserin und | |
erzählt sie am Stuhl fest, indem er auch fürs Nebensächlichste gute Bilder | |
findet: „[…] ihr Gesicht war irgendwie entflammt, nachdem sie draußen | |
gewesen war, war noch zu groß für die kleinen Zimmer im Haus.“ | |
Ein wenig ähnelt er als Erzähler seinen männlichen Figuren, die sogar | |
Fremde zum Bleiben (und Trinken) überreden können. Erst geht es dabei meist | |
ums akute Überwinden der Einsamkeit, dann folgen die gewichtigen Gespräche. | |
In „Morgenstern“ ist es vor allem die Figur des Egil, ein Dokumentarfilmer, | |
der Knausgård als Ventil für Essay-Einschübe über die Suche nach Glauben | |
und Sinnhaftigkeit dient. | |
Es ist keine Überraschung, dass ein Schriftsteller, der als Meister der | |
Selbsterkundung berühmt wurde, vor allem männliche Figuren mit Tiefe | |
schreibt. „Der Morgenstern“ ist bewohnt von jungen Frauen, die älteren | |
Männern verfallen, und nicht mehr ganz jungen Frauen, die sich mit einem | |
Leben ohne Höhepunkte abgefunden haben; von wütenden Kindern und räumlich | |
oder emotional abwesenden Vätern. Der Literaturprofessor Arne, der | |
zerrieben wird zwischen familiären Verpflichtungen und der Sehnsucht nach | |
Laisser-faire, ist einer von ihnen. | |
## Orientalistische Fantasien | |
Andere Charaktere überzeugen weniger. Der jungen Iselin schiebt Knausgård | |
orientalistische Fantasien unter, die kaum zu einer weiblichen Figur im | |
Studentenalter passen. Später denkt Kathrine, eine Figur um die 40, beim | |
Kauf eines Schwangerschaftstests über die großen Brüste der Verkäuferin und | |
das Vorurteil nach, dass „Frauen mit runden Formen fruchtbarer waren als | |
schlanke Frauen“. | |
Trotz solcher Momente ist vor allem die erste Hälfte des Romans, die den | |
ersten Tag nach Auftauchen des Morgensterns beschreibt, ziemlich | |
faszinierend. Knausgård wühlt Konflikte auf, deutet Verbindungen zwischen | |
seinen Figuren an, legt Fährten. Viele werden ins Leere laufen. | |
Vor Problemen steht man allerdings, sobald man sich fragt, wie der Erzähler | |
Spannung und Grusel erzeugt. Oder vielmehr: auf wessen Kosten. Unbehagen | |
bereitet die Geschichte von Turid, die in einer Einrichtung für behinderte | |
Menschen arbeitet. Die Bewohner dieses Heims schauen ihre Pflegerin mit | |
„bösen Augen“ an, onanieren permanent. Keiner dieser eigentlich vulnerablen | |
Männer ist ein Charakter mit Geschichte, jeder ein demonstrativ | |
unheimlicher Statist, der die verkehrte Welt im Bann des Morgensterns noch | |
verkehrter erscheinen lassen soll. | |
## Er zitiert sich selbst | |
Ähnlich sieht die Sache mit Tove aus, die eine bipolare Störung hat. Im | |
Studium, sei sie ein Faszinosum gewesen; viel mehr erfährt man nicht über | |
die Künstlerin und dreifache Mutter. Im Romanverlauf verschlechtert sich | |
ihr psychischer Zustand: Wie ein Gespenst wandelt sie durch das Ferienhaus | |
der Familie, tötet in ihrer Unrast Kätzchen und ängstigt ihre Kinder. Die | |
Frau ohne Eigenschaften ist kaum mehr als ein Effekt, ein besonders | |
dissonanter Ton im Grundrauschen aus schwelenden Konflikten und Ereignissen | |
wider der Natur. | |
Besonders bemerkenswert ist diese Figur, wenn man tut, was man nicht lassen | |
kann (oder lassen soll): mit voyeuristischem Interesse nach Bezügen zu | |
Knausgårds Leben suchen. In seiner „Min Kamp“-Reihe hatte Knausgård | |
ausführlich die bipolare Erkrankung seiner früheren Ehefrau Linda Boström | |
Knausgård thematisiert. Dem Guardian erzählte sie 2020, wenige Jahre nach | |
ihrer Scheidung, wie wütend und verletzt sie über die Darstellung ihrer | |
Person war. | |
Trotzdem fährt Knausgård erneut eine manisch-depressive Frauenfigur auf. | |
Auch an anderer Stelle wiederholt oder zitiert er sich selbst: Einmal mehr | |
wird in „Morgenstern“ ein romantisches Verhältnis zwischen Lehrer und | |
Schülerin angedeutet. Schon Knausgårds Debütroman „Aus der Welt“ von 1998 | |
handelte von einem Lehrer, der eine 13-jährige Schülerin missbraucht. | |
## Ausbeuterisches Schreiben | |
Im deutschen Feuilleton wurde der Roman 2020 recht freundlich aufgenommen. | |
In Schweden hingegen, wo „Aus der Welt“ schon fünf Jahre zuvor erschienen | |
war, galt das Buch als Skandal. Die Literaturwissenschaftlerin Ebba | |
Witt-Brattström warf Knausgård „literarische Pädophilie“ vor. Auf die | |
Vorwürfe reagierte der Autor mit einem wütenden Verteidigungsartikel. | |
In „Morgenstern“ ist es die junge Iselin, die Gefühle für ihren | |
Lieblingslehrer hegt. Jahre nach ihrem Abschluss wird sie von ihm zu einem | |
Treffen eingeladen, das schwer nach Date aussieht – um dort von der | |
Anwesenheit seiner Partnerin überrascht zu werden. Hier ist Iselin | |
diejenige, die einen beschämten Abgang macht. | |
In der Debatte um „Aus der Welt“ bescheinigte die Autorin Berit Glanz | |
Knausgård ein „ausbeuterisches“ Schreiben: Dem Roman fehle die | |
Gegenperspektive zur Männerfigur, dazu die Ambivalenz, die etwa Nabokovs | |
„Lolita“ ausmache. Falls Iselins Geschichte Knausgårds Versuch ist, | |
diesmal der Schülerinnenperspektive mehr Raum zu geben, dann ist es ein | |
sehr halbherziger. | |
## Ambivalenz bis zum Äußersten | |
Überhaupt präsentiert sich Knausgård in „Der Morgenstern“ als extrem gut… | |
Erzähler, der sich durch Ignoranz neben moralischen auch ästhetische | |
Probleme einhandelt. Und das, obwohl er die Sache mit der Ambivalenz sonst | |
bis zum Äußersten treibt: Anders als Lars von Trier im Film „Melancholia“ | |
lässt er die Welt nicht mit einem Knall untergehen, sondern auf einen | |
Jüngsten Tag mit unklarem Ausgang zusteuern. Der titelgebende Morgenstern | |
kann in der Bibel schließlich sowohl für Jesus als auch für den Teufel | |
stehen. | |
Mark Fisher hat mal geschrieben, es sei einfacher, sich das Ende der Welt | |
vorzustellen, als das Ende des Kapitalismus. Für Knausgård gilt vielleicht | |
auch: als eine Welt, in der andere kein Material sind, über das ein | |
Schöpfer unbegrenzt verfügen kann. | |
10 Apr 2022 | |
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## AUTOREN | |
Julia Lorenz | |
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