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# taz.de -- Romanprojekt von Karl Ove Knausgard: Eines Menschen Herz
> Die Biografie, die einen gerade voll drauf sein lässt: Überlegungen einer
> Leserin, die an Karl Ove Knausgard verloren ging.
Bild: Karl Ove Knausgard erhebt sein eigenes Leben zum Thema, mit einer Versess…
Vor einigen Wochen, an einem Sonntag, sang in meinem Kopf Robbie Williams.
Unentwegt wiederholte sich die Zeile „I look like kiss without the
make-up“. Ich fühlte mich unleidlich. Ratlos starrte ich auf den Stapel
ungelesener Bücher.
Karl Ove Knausgards „Spielen“ mit seinem harmlosen Umschlag spielender
Jungs wirkte nicht gerade einladend. Doch wenn ich mich recht erinnere,
dachte ich, sieht Knausgard aus wie „kiss without the make-up“: zottelige
Haare, zerfurchtes Gesicht. Also, es sollte der Norweger sein, der gerade
alle Kritiker, Autoren und Leser mit seinem sechsbändigen, radikal
autobiografischen Mammutwerk verrückt macht, schloss ich aus der Stimme in
meinem Kopf. Mehr wusste ich nicht, als ich an Knausgard verloren ging.
„Spielen“ beginnt mit dem Umzug der Familie Knausgard auf die Insel
Tromoya, als Karl Ove noch ein Baby ist. Es erzählt von Kindertagen während
der siebziger und frühen achtziger Jahre in einem vermeintlich modernen
Elternhaus. Von Anfang an fürchtet sich der Junge Karl Ove vor dem Vater,
dessen Wutausbrüchen und Strenge. So isst Karl Ove eines Morgens einen
ganzen Teller Cornflakes mit saurer Milch, weil er vom Vater nicht hören
will, dass er sich nicht so haben soll.
Als sich der Vater hinsetzt und die Milch über die Flakes gießt, sagt der
Junge keinen Ton. Es folgt kein Wutanfall, beschämt gießt der Vater die
Milch in die Spüle. Ähnliches passiert Karl Ove noch einige Male und wir
ahnen, dass dieser Junge im weiteren Leben kein großes Geschick entwickeln
wird, heikle Situationen zu meistern. Und dass er keiner ist, der auffallen
will, einer, dem sein späterer Schriftstellerruhm unangenehm sein wird.
## Ein Leben in HD
Vieles, was man in „Spielen“ liest, geht ganz von selbst eine Verbindung
mit eigenen Kindheitserlebnissen ein. Wäre es aber nur diese Art von
Stellvertreterbiografie, bliebe es bei der reinen Identifikation. Zu wenig
für große Literatur, zu wenig für Knausgard.
Mich faszinierte und berührte dieses Leben durch seine Versessenheit auf
Details, an die sich beim besten Willen kein Mensch erinnern kann, die
zuerst banal wirken, aber schließlich mehr offenbaren. Wenn dies an Proust
erinnert, dann nicht an die Madeleine, sondern subtiler – oder wie Proust
selbst schreibt: „ein letzter Moskito beweist, dass Italien und der Sommer
noch nicht so ferne sind“.
Knausgard ist nicht der Einzige und Erste, der sein eigenes Leben zum
Gegenstand seines Schreibens erhoben hat, aber er hat dies so radikal
getan, dass nicht wenige Menschen den Büchern den Status der Literatur
aberkennen wollen. Bei Knausgard musste man fürchten, dass ein
Achtsamkeitstheoretiker ihn beim Schreiben beraten hat und er deshalb den
kleinen Dingen des Alltags alle Aufmerksamkeit schenkte. Doch warum hatten
gerade jetzt pseudodokumentarische Arbeiten – von Richard Linklaters
„Boyhood“ über Per Leos Creative-non-fiction-Debütroman „Flut und Boden…
bis eben Knausgard – Konjunktur?
Ein Hinweis des Kunsthistorikers und Autors Tom Holert half mir weiter.
Wohlmöglich würde ich eine Antwort im Bedürfnis nach einem „Leben in HD“…
wie er es nannte – finden. High Definition macht jede Falte um die Augen
sichtbar, jede Bewegung im Raum, hochaufgelöst präsentiert sich die
Bilderwelt. Alles wirkt so echt, dass man die gestaltete Form, die dahinter
liegt, nicht mehr erkennen kann. Aber genau das geht HD voraus: ein enormer
technischer Aufwand. Knausgard musste einen immensen Aufwand betrieben
haben, die Details aus dem Material seines Lebens auszuwählen, und er hat
es in eine Form gebracht, die über die Einzelbände hinaus miteinander
kommuniziert. Es wirkt echt, aber ist es keinesfalls.
## Immer der richtige Ton
Allein schon das Gedächtnis ist ein Problem, dessen Unschärfen jeder kennt.
Freimütig räumt Knausgard ein, dass Erinnerung wenig mit Wahrheit zu tun
haben muss. Doch er betritt noch ein weit unsicheres Terrain: unser Wissen
ohne Erinnerung, gespeist aus Unbewusstem und Vorstellungen. Über seine
Mutter sagt er an einer Stelle, nachdem er gerade von ihr das Bild der
perfekten, fürsorglichen Frau entworfen hat: „Sie war immer da, das weiß
ich, trotzdem kann ich mich einfach nicht erinnern. Ich entsinne mich
nicht, dass sie mir jemals vorlas, ich kann mich nicht erinnern, dass sie
mir ein einziges Pflaster auf meine Knie geklebt oder an einer einzigen
Feier am letzten Schultag teilgenommen hat.“
Ich hatte „Spielen“ nach fünf Tagen beendet und wandte mich einem anderen
Autor zu. Aber nach einer Woche begann Knausgard mir zu fehlen. Nicht weil
ich darauf brannte, zu erfahren, wie es mit dem 13-jährigen Karl Ove
weiterging, sondern mich hatte diese detailscharfe-unscharfe,
unwahr-wahrhaftige Beschreibung von Kindheit unruhig zurückgelassen. Und
mir fehlte seine Stimme. Knausgards Prosa ist schmucklos und präzise. Der
elegante, schlichte Ton passt dennoch wie ein gut geschnittenes
Kleidungsstück. Wie man Letzteres überwirft und sich wohlfühlt, kehrt man
in die Prosa von Knausgard zurück. Mich hatte es erwischt. Ich kaufte
„Sterben“ und „Lieben“ und las und las.
„Für das Herz ist das Leben einfach. Es schlägt, solange es kann.“ Die
ersten beiden Sätze von „Sterben“ hat der Verlag auf die Rückseite
gedruckt. Was fehlt, ist der entscheidende anschließende Satz: „Dann stoppt
es.“ Ist Sterben so einfach? Vermutlich.
Auf Englisch heißt der Band weniger bedeutungsschwer „A Death in My
Family“. Und darum geht es in der ganzen zweiten Hälfte, als Karl Ove und
sein Bruder die Beerdigung des Vaters vorbereiten und sich dessen Leben und
Versagen stellen müssen. Dem vorangestellt hat Knausgard seine
Teenager-Jahre voller Träume, unglücklichen Verliebtseins, Mädchen, Partys
und Musik. Über 70 Seiten schildert er den heillosen Versuch zweier
15-Jähriger, heimlich Alkohol für eine Silvesterparty zu besorgen, und wie
sie dann stundenlang durch Schnee und Kälte irren. Aber dieses Silvester
durfte auf gar keinen Fall verpasst werden, es war lebenswichtig und die
Trostlosigkeit würde man sich erst Jahre später eingestehen können.
## Der „knausgardsche Moment“
Wieder und wieder nickt man unmerklich beim Lesen solcher Szenen, die
inzwischen von Lesern und Kritikern „knausgardscher Moment“ genannt werden:
Geschehnisse, die jeder erlebt hat und uns normalerweise nur ein paar Sätze
wert gewesen wären. Doch es braucht schon einen herausragenden Erzähler.
Knausgard ist so ein Beobachtungs- und Beschreibungstalent. Auch wenn er
davon überzeugt ist, dass die menschliche Natur gegensätzlich funktioniert.
Erst nimmt man das Neue um sich herum noch wahr, aber bald schon gewöhnt
man sich so sehr daran, dass man anfängt, es zu übersehen. Alles
verschwindet.
„Schreiben“, sagt Knausgard an einer Stelle, „heißt, das Existierende aus
den Schatten dessen zu ziehen, was wir wissen. […] Nicht was dort
geschieht, nicht welche Dinge sich dort ereignen, sondern es geht um das
Dort an sich. Dort ist der Ort und das Ziel des Schreibens.“ Eindringlicher
kann man nicht formulieren, was Literatur ist. Kein Plot, kein noch so
raffinierter Aufbau, keine noch so fantastische Schilderung von Natur oder
eines Menschen ist notwendig.
Für Knausgard gibt es ohnehin zu viel Fiktion, er sieht unser Leben
bestimmt von fiktionalen Beziehungen. Schreibt er deshalb so minutiös,
stets den Dingen, Landschaften und engsten Freunden zugewandt, um all
diesem Wissen zu entkommen? Jenem Wissen, was so oft eingefordert wird,
wenn es um Romane geht: sei es, dass ein Stück Vergangenheit bearbeitet
werden soll oder ein moralischer, politischer Imperativ. Der Literatur ist
dies selten zuträglich.
## Alles an Karl Ove interessierte mich
„Lieben“ ist, oberflächlich betrachtet, das große Buch übers Scheitern o…
das gewöhnliche Drama eines Lebens um die vierzig in einem westeuropäischen
Land: Ehe, Kinder, beruflicher Erfolg oder Misserfolg. Doch daran dachte
ich nicht, während ich die 800 Seiten verschlang. Alles an Karl Ove
interessierte mich inzwischen – wie er durch Straßen läuft, Tomaten kauft,
Wäsche aufhängt. Das Buch hatte mich zu dem Dort mitgenommen.
Als ich Freunden begann, von meiner Obsession mit Karl Ove Knausgard zu
erzählen, gab es unter jenen, die ihn kannten, sich wiederholende
Reaktionen: Bin gerade auch voll drauf und: Knausgard rettet mich. Sucht
und Erlösung – schon lange hatte ich das im Zusammenhang mit Literatur
nicht mehr gehört, und vor allem war es mir selbst lange nicht mehr so
ergangen.
Literatur kann alles sein, die gestaltete Form ist nur die hinreichende
Bedingung. Für mich galt immer, dass sie wahrhaftig sein und den Menschen
verstehen sollte. Wenn dies nicht gelingt, beschleicht mich immer das
unangenehme Gefühl der Kolportage. Knausgards narzisstischer und
emphatischer, egomaner und gütiger Umgang mit sich selbst und anderen
strebt im besten menschlichen, unvollkommenen Sinne nach Wahrhaftigkeit.
Und am Ende dachte ich: Mein Herz schlägt wieder, solange es kann.
22 Jun 2014
## AUTOREN
Birgit Schmitz
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Rainald Goetz
Sibylle Lewitscharoff
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