# taz.de -- Nobelpreis für Literatur: Der Sound des Unsagbaren | |
> Seit Langem schon galt Jon Fosse als Favorit. Jetzt bekommt der Norweger | |
> den Literaturnobelpreis 2023. Trotzdem ist das Nicht-Gesagte ihm am | |
> Wichtigsten. | |
Bild: Sohn eines Obstbauern und Gelehrter: Jon Fosse, geboren 1959, in Haugesun… | |
Älter (na ja, er ist 64), weißer und männer als Jon Fosse: Das wäre | |
schwierig geworden. Identitätspolitisch also eine problematische Wahl, die | |
entsprechenden Reflexe auf Ex-Twitter kamen auch prompt. Das politisch | |
erfreulichere Signal wäre Rushdie gewesen, die Chinesin Can Xue, zuletzt | |
Buchmacherfavoritin, hätte in die Reihe der Entdeckungen gepasst, die die | |
breite Öffentlichkeit noch nicht kennt. | |
Fosse dagegen, wenngleich kein Populärliterat: [1][ein Veteran, auch als | |
Nobel-Mitfavorit], der in allen Formen und Genres erfolgreich agiert. Es | |
gibt viele Bände mit Gedichten und Romanen von ihm, Essays dazu, seine mehr | |
als dreißig Stücke werden seit Jahrzehnten auf den Bühnen Europas gespielt | |
und in unzählige Sprachen übersetzt. Diesen weltweiten Erfolg hat Jon Fosse | |
selbst in einem Interview mit der taz 2006 einmal so erklärt: „Ich verstehe | |
mich als eine Art Songwriter und gute Songs kann man in allen Sprachen | |
singen. Mit unterschiedlichen Orchestern, in unterschiedlichen Stilen.“ | |
Was seine Heimat Norwegen angeht: Platz zwei hinter dem Klassiker Henrik | |
Ibsen. Der deutsche Regisseur Romuald Karmakar hat vor auch schon Längerem | |
eines davon, „Die Nacht singt ihre Lieder“, polarisierend verfilmt. Und in | |
seinem Geburtsort Strandebarm arbeitet eine Fosse-Stiftung seit geraumer | |
Zeit an der Verklassikerung des Autors. | |
Zuletzt war ein Schüler Fosses allerdings berühmter geworden als er: | |
[2][Karl Ove Knausgård], gelegentlich auch schon für den Nobelpreis | |
gehandelt, der 1988 nach Bergen an der Westküste Norwegens kam und bei Jon | |
Fosse an der Akademie für Schreibkunst studierte. Fosse ist durchaus ein | |
poeta doctus, also ein theoretisch und philosophisch (und überdies | |
theologisch) gelehrter Dichter, aber es war ihm weder das Schreiben noch | |
gar das Lehren der Schreibkunst an der Wiege gesungen. | |
## Hypnotisch heraufbeschworene Sprachlandschaft | |
Als Sohn eines Obstbauern fern von bildungsbürgerlichen Milieus | |
aufgewachsen am Hardangerfjord, einer Landschaft, in die er in seinen | |
Texten immer wieder zurückkehrt, oder vielleicht besser noch: die er in | |
seinen Texten in eine in hypnotischen Sätzen heraufbeschworene | |
Sprachlandschaft transformiert. | |
Als Fosse den Job an der Bergener Akademie bekam, war er selbst noch keine | |
dreißig, hatte Vergleichende Literaturwissenschaft studiert und schon zwei | |
Romane und viele Gedichte publiziert, und zwar, anders als Knausgård, in | |
Nynorsk, der um Bergen herum konzentrierten und ländlicher konnotierten der | |
zwei offiziellen Schriftsprachen, die es in Norwegen gibt. | |
Wer sich für einen Eindruck des jungen Fosse interessiert, findet in | |
Knausgårds notorisch genauem Vielbänder „Mein Kampf“ – und zwar in | |
„Träumen“, Band fünf – ein knappes literarisches Porträt, das den Lehr… | |
als zwar etwas zergrübelt im Vortrag, in der Sache seiner selbst aber schon | |
sehr gewiss zeichnet. | |
In der Begründung der Akademie heißt es, Jon Fosses „innovative Stücke und | |
Prosa“ gäben „dem Unsagbaren eine Stimme“. Das klingt floskelhaft, aber | |
macht mit der Floskel ex negativo immerhin klar, dass es bei Fosse nicht um | |
engagierte Literatur geht, nicht um Politik, Fortschritt, den Willen zur | |
Veränderung von Gesellschaft. | |
## Ein Sog, aus dem man nicht mehr herauskommt | |
Inhaltsangaben zu seinen Stücken und seiner Prosa klängen schrecklich | |
klischeehaft, nach Beziehungsdrama, Abteilung: zerquält, nach Alkohol, | |
Depression. All das hat Fosse, bis zum Zusammenbruch, auch selbst erlebt, | |
ohne daraus aber dieselbe kunstvolle Form autobiografischer Prosa des | |
Banalen zu destillieren wie Knausgård. | |
Kunstvoll ist die Prosa Jon Fosse allerdings schon, aber auf andere Art. | |
2015, nach dem Zusammenbruch, hat er mit dem Schreiben seines | |
Prosa-Hauptwerks begonnen, den sieben Bänden der schlicht (wenn auch auf | |
altgriechisch) benannten Heptalogie. 2021 war er fertig damit, in der | |
brillanten deutschen Übersetzung von Hinrich Schmidt-Henkel fehlt noch der | |
Schluss. | |
Und wer sich in diese Prosa begibt, ist schnell hineingesogen und kommt | |
nicht mehr raus. Es ist eine Sprache von atemberaubenden Rhythmusgefühl, in | |
der es einen gar nicht wundert, sich verschiedene gleichnamige Figuren in | |
der ersten und dritten Person übereinanderschieben zu sehen. | |
Zwei Männer namens Asle, die nicht nur der eine wie der andere, sondern | |
beide auch so ziemlich wie Jon Fosse selbst aussehen. Sie sind Maler, und | |
in wie stets gleichen und doch zugleich nicht gleichen Pinselstrichen | |
beschreibt die Erzählinstanz, sich spaltend und sich wieder zusammenfügend, | |
die sich verschiebende, sich wiederholende Wahrnehmung des einen und des | |
anderen Asle, die Erinnerungen an eine geliebte, verstorbene Frau, die | |
Gespräche und Nicht-Gespräche mit dem einzigen Freund, die mystische | |
Entstehung der Bilder, als Entbergung und Offenbarung der Wahrheit | |
beschrieben, die sich in der Sprache als Nachentbergung vollzieht. | |
## Das Alltägliche trifft auf das Schreckliche | |
Fosse selbst sagte im Interview mit der taz dazu: „Und das kann Literatur: | |
aufzeigen, wie wenig die Sprache enthüllt, indem man das Gesprochene oder | |
mittels der Sprache Verschwiegene ins Verhältnis setzt zu dem, was andere | |
sagen oder verschweigen.“ Für ihn sei ohnehin das Nicht-Gesagte das | |
Wichtigste, so der damals 47-Jährige gegenüber der taz. | |
Man muss einen Sinn dafür haben, für die Rhythmen der Prosa, man hat sie | |
treffend mit dem leisen Schaukeln eines Boots auf sanften Wellen | |
verglichen; man muss offen sein für das Traumhafte und das für theologische | |
Ahnungen und kunstreligiöse Gewissheiten Offene, das aber auf das | |
Alltäglichste und am Alltäglichsten auch auf das Schreckliche trifft; man | |
muss also auf diesem Ohr musikalisch sein, um mit Jon Fosse glücklich zu | |
werden. Oder wie er selbst in der taz sagte: „Wir trauen eher dem | |
poetischen, musikalischen Kern der Sprache als der Bedeutung.“ | |
Man kann also, wie die Schwedische Akademie, der Ansicht sein, dass diese | |
Musikalität eine ausgezeichnete und der höchsten Preise würdige Form des | |
Literarischen ist. | |
5 Oct 2023 | |
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## AUTOREN | |
Ekkehard Knörer | |
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