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# taz.de -- Horror-Roman von Karl Ove Knausgård: Gift der Ewigkeit
> Karl Ove Knausgårds auf sieben Bände angelegte Horror-Romanserie ist beim
> „Dritten Königreich“ angekommen: Ein Clash der Vernunft und des Obskuren.
Bild: Steht den Menschen in Knausgårds Roman nach dem Ende des Todes die Höll…
Auch im dritten Band dieser Romanserie ist es brütend heiß im norwegischen
Bergen, von Septemberkühle keine Spur. Seit sechs Tagen steht ein neuer
Stern am Himmel, der ungewöhnlich helle Morgenstern, nach dem Karl Ove
Knausgård den ersten von vermutlich sieben Bänden benannt hat.
Langsam realisieren einige der zahlreichen Protagonist:innen, aus deren
Perspektive der mittlerweile in Großbritannien lebende Norweger abwechselnd
erzählt, dass seltsame Dinge geschehen: Im Bestattungsinstitut von Syvert
Loyning laufen keine Toten mehr ein, auch an anderen Orten überleben
Menschen eigentlich tödliche Unfälle, scheinen vielleicht sogar tot, weisen
aber klinische Lebenszeichen auf.
Und dann war da noch kurz vor Erscheinen des Sterns der grotesk brutale
Mord an drei von vier Mitgliedern der Black-Metal-Band Kvitekrist, deren
Leichen gehäutet und mit um 180 Grad verdrehten Köpfen im Wald gefunden
wurden.
Sonderbares, ja zutiefst Unheimliches hatte sich schon in den ersten beiden
Bänden, „Morgenstern“ und „Die Wölfe aus dem Wald der Ewigkeit“,
angedeutet, allerdings erstmal gut versteckt hinter den detailliert
erzählten Alltagskonflikten ganz normaler Leute, etwa der Krankenschwester,
die sich zwischen ihrem Beruf, der Pflege ihrer dementen Mutter und der ihr
entglittenen studierenden Tochter aufreibt, dem ins Feuilleton
strafversetzten Polizeireporter oder der Pastorin, die anlässlich ihrer
dritten Schwangerschaft plötzlich alles in Frage stellt – Ehe, Familie und
ihren Glauben an Gott.
Auch einen Schriftsteller gibt es, vielleicht ein Alter Ego Knausgårds, der
versucht, das Familienleben zwischen drei Kindern und seiner bipolaren Frau
auszubalancieren. Sie alle und noch viele mehr erzählen in mit ihrem
Vornamen überschriebenen Kapiteln aus der Ich-Perspektive und nehmen einen
mit in ihr von kleinen Lügen und Ausbruchsversuchungen gekennzeichnetes
Leben. Zu vielen Perspektiven aus „[1][Der Morgenstern“] erfahren wir zwei
Bände später das Gegenstück.
## Die Fäden der ersten beiden Bände weitergeführt
In Band zwei allerdings gestattete sich Knausgård einen Exkurs in die
Vergangenheit – ans Ende der Militärzeit des späteren
Bestattungsunternehmers Syvert Loyning; zeitlich gut 15 bis 20 Jahre vor
dem Auftauchen des neuen Himmelskörpers. Hunderte Seiten lang breitete
Knausgård minutiös aus, wie Syvert sich um seine krebskranke Mutter und den
hochbegabten, aber verschlossenen Bruder Joar kümmert – beider Vater kam
bei einem Autounfall ums Leben, als Syvert zehn war.
Wie er sich in Lisa verliebt und zugleich auf dem Dachboden des
Elternhauses Briefe findet, die vom Doppelleben des Vaters als sowjetischer
Kundschafter künden, wie er schließlich Kontakt zu einer russischen
Halbschwester Alevtina aufnimmt, einer Biologin, die sich wiederum mit
einer befreundeten Lyrikerin über russische Ewigkeitsrevolutionäre
austauscht: vom Philosophen Nikolaj Fjodorow, der im 19. Jahrhundert
sämtliche in der Menschheitsgeschichte Gestorbene wieder zum Leben erwecken
wollte, über die Blutaustauschsexperimente des russischen
Science-Fiction-Autors Alexander Bogdanov, der in den 1920er Jahren das
Institut für Bluttransfusion in Moskau leitete und ironischerweise genau
daran starb, bis hin zu Transhumanisten und Kälteschlafapologeten aus dem
superreichen Umfeld von Silicon Valley.
In „Das dritte Königreich“, das in der direkten Übersetzung aus dem
Norwegischen eigentlich „Das dritte Reich“ heißen müsste (Übersetzer Paul
Berf vermeidet wie schon bei Knausgårds [2][sechsbändiger Autobiografie]
nationalsozialistisch konnotierte Begriffe), greift der Autor die Fäden der
ersten beiden Bände auf und führt sie weiter. Neue Figuren tauchen auf,
etwa der charismatische Black-Metal-Guru Valdemar, der der
Philosophiestudentin Line in aller Form den Hof macht und sie zu einem
Geheimkonzert seiner Band Domen in der schwedischen Provinz einlädt.
Dort müssen alle Teilnehmenden ihre Handys abgeben, damit nichts von den
Todesverehrungsritualen an die Öffentlichkeit dringt. Wie Knausgård dabei
minutiös Lines Perspektive einnimmt, ihr Angezogen- und Abgestoßensein von
Valdemar, einer virtuosen „Musik“ des Bösen und seiner rechtsradikalen
Philosophie des Sinns durch Schmerzen schildert, löst ganz ähnliche
Ambivalenzen auch bei der Lektüre aus.
## Zwischen Depression und Euphorie
Die bipolare bildende Künstlerin Tove, die in Band eins nur aus der Sicht
ihres Mannes, des Schriftstellers Arne, beschrieben wurde, wird derweil
selbst zur Protagonistin und Ich-Erzählerin, die hin- und hergerissen ist
zwischen Depression und Euphorie, zwischen an sich selbst verzweifelnder
Mutterliebe und rücksichtslos triebhafter Schaffenskraft.
Auch hier arbeitet Knausgård mit kleinen zeitlichen Verschiebungen und
ungeheurem Einfühlungsvermögen, was ihre psychischen Schwankungen, zu ihr
sprechende Stimmen und Begegnungen mit dämonischen Gestalten angeht, die
die hypersensitive Tove während des Urlaubs mit Mann und drei Kindern
erlebt. Sind sie nur Ausgeburten ihrer Krankheit – oder doch ganz real?
Der Germanist Moritz Baßler hat Knausgårds Prosa nicht ganz zu Unrecht als
„international style“ gelabelt, eine Literatur [3][ohne sprachliche
Experimentierfreude] und allzu ambitionierte Konstruktionskomplexität.
Tatsächlich klingt in Ton und Farbe ganz ähnlich, was die so
unterschiedlichen Ich-Erzähler:innen in den bisherigen Bänden der
Romanserie beschreiben und reflektieren, oft in retardierender
Ausführlichkeit; die Perspektiven unterscheiden sich allein auf der
Handlungs- beziehungsweise Erlebnisebene.
Man könnte auch sagen: Die Kamera bleibt dieselbe, egal, wen sie ins Visier
nimmt. Und doch eignet sich dieses Verfahren vorzüglich, um nicht nur Stück
für Stück die Verbindungslinien zwischen den Protagonist:innen zu
enthüllen, sondern zugleich auch immer neue Spannung aufzubauen und einen
sehr speziellen Horror in jedes einzelne Mitglied dieser Gesellschaft zu
träufeln wie süßes Gift: Was, wenn der Tod abgeschafft wäre? Bricht dann
das Paradies an – oder die Hölle aus?
## Die teuflischen Motive begleiten ihn schon lange
Er habe den Eindruck, die Menschen hätten der Natur den Rücken gekehrt, so
der Schriftsteller in einem Interview. Dieses apokalyptische Gefühl
grundiert seine Horrorromanserie, und es wirkt umso eindrücklicher, als es
ja nicht sonderlich weit hergeholt scheint. Aber auch die christlichen oder
vielmehr teuflischen Motive, die Karl Ove Knausgård in der Morgensternserie
in eine Art magischen Realismus überträgt, begleiten ihn schon lange.
Ob in der protestantischen Aufrichtigkeitsanstrengung seiner
sechsbändigen Autobiografie „Min Kamp“ oder in seinem Roman „Alles hat
seine Zeit“, der sich auf die Spur alttestamentlicher Engel begibt – Karl
Ove Knausgård ist zutiefst fasziniert vom Pathos der großen Gegensätze und
letzten Fragen. Fast noch spannender als die Entwicklung des konkreten
Plots in all seinen Verzweigungen ist daher die Frage, wohin Knausgård den
Clash der Vernunft und des Obskuren treibt – und ob die Apokalypse mehr ist
als ein Moodboard im Hintergrund.
Bis dahin bleiben wir allerdings wohl noch drei bis vier Jahre auf die
Folter gespannt.
27 Jun 2024
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## AUTOREN
Eva Behrendt
## TAGS
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