# taz.de -- Norwegen als Gastland auf der Buchmesse: Die ganze nordische Erzäh… | |
> Literatur aus Norwegen findet kaum irgendwo so viele Abnehmer:innen | |
> wie hierzulande. Dafür sorgt auch eine staatlich geförderte | |
> Exportagentur. | |
Bild: Grübelkulisse? Der Aurlandsfjord nördlich von Bergen | |
Das Gastland Norwegen eröffnet am Donnerstag seinen Stand auf der Leipziger | |
Buchmesse unter dem Motto „Traum im Frühling“. An den vier Besuchertagen | |
werden Stars wie [1][Maja Lunde] („Die Geschichte der Bienen“) und Karl Ove | |
Knausgård („Min Kamp“) auf der Messe zu hören sein. Letzterer wird | |
pünktlich zur Messe auch [2][einen neuen Teil seiner „Morgenstern“-Reihe] | |
veröffentlichen, „Die Schule der Nacht“. | |
Der Verlag Luchterhand kündigt den Roman mit den Worten an: „Was geschieht, | |
wenn der Mensch sich aller Moral entledigt und nur noch um sich selbst | |
kreist? Über die Kräfte, die uns formen, sowohl die dunklen als auch die | |
hellen.“ | |
Es ist schon gekonntes Marketing des Verlags, sofort liegt da die ganze | |
nordische Erzählwelt im Anschlag. In sich versunkene Figuren, die an einem | |
weiten Fjord stehen und über die schweren Fragen des Lebens nachdenken. Die | |
Natur, von der es reichlich in Norwegen gibt, ist dabei nicht nur Szenerie, | |
sondern oft auch Taktgeberin des Denkens, Projektionsfläche des Inneren. | |
## Gewaltige Berge, tiefblaue Fjorde | |
Wie viel schon geschrieben wurde über gewaltige Berge, alles verschluckende | |
Wälder und tiefblaue, fast schwarze Fjorde! Und das stimmt ja auch alles. | |
Aber woran liegt es, dass diese Umgebung so viele Geschichten mit | |
introvertierten, mitunter gequälten Figuren produziert? Und warum ist die | |
ganz bestimmte Mischung aus Melancholie, Schaurigkeit und Heimeligkeit bei | |
deutschen Leser:innen so erfolgreich? | |
Dazu muss man einen Blick auf die Kulturlandschaft Norwegens werfen. Das | |
Land hat zwar gemessen an den gerade einmal 5,5 Millionen | |
Einwohner:innen extrem viel Platz. Die Literaturszene drängt sich aber | |
auf einer Handvoll Kulturorte vor allem in der Hauptstadt Oslo und in | |
Bergen an der Westküste. | |
In Bergen bildet die Skrivekunstakademiet seit 1985 junge Autor:innen | |
aus. Knausgård war Ende der Achtzigerjahre selbst einer ihrer Schüler und | |
lernte unter anderem bei [3][Jon Fosse, dessen mystisches, melancholisches | |
Werk 2023 mit dem Literaturnobelpreis ausgezeichnet wurde.] | |
Das Gebäude der Schreibakademie ist direkt am Fjord gelegen, von wo aus | |
sich jedes Jahr Tausende von Hurtigruten-Kreuzfahrer:innen den Traum von | |
einer Fahrt zum Nordkap erfüllen, sicher auch mit der ein oder anderen | |
norwegischen Urlaubslektüre im Koffer. | |
## Café Oper in Bergen | |
Schlängelt man sich an den Touristen vorbei bis ins Stadtzentrum zum | |
berühmten Café Opera und probiert dort zum Beispiel von der hervorragenden | |
Fischsuppe, kann es sehr gut passieren, dass früher oder später namhafte | |
Autor:innen wie Tomas Espedal vorbeischauen. In Bergen, wie in der | |
norwegischen Literaturszene überhaupt, liegt vieles sehr nah beieinander. | |
Ein anderer solcher Kulturort ist das kleine Dorf Ulvik, zumindest für ein | |
paar Tage im Jahr, wenn sich die norwegische Lyrikszene zum Poesiefestival | |
trifft. Das Treffen würdigt den Schriftsteller Olav H. Hauge (1908–1994), | |
der sein Leben dort am Hardangerfjord als Landwirt, Übersetzer und Dichter | |
verbrachte. Von ihm stammt das Gedicht „Der Traum in uns“, eine | |
erwartungsfrohe und robuste Versaufzählung über die Hoffnung darauf, „dass | |
die Zeit sich öffnet“, „dass der Berg sich öffnet“ und „dass die Quel… | |
springen“. | |
Das passt gut zum „Traum im Frühling“, mit dem sich Norwegen jetzt in | |
Leipzig präsentieren will. Versteht man darunter mehr als eine saisonale | |
Verlegenheitsentscheidung, geht es um Erwartung und Erkenntnis, die auf die | |
Natur übertragen wird. Sie öffnet eine Tür im Denken und im Leben, deren | |
Schwelle zu übertreten beides bedeuten kann: Aufbruch und Ankunft, Schauer | |
und Heimeligkeit. | |
Das Motiv findet sich nicht nur bei Knausgård oder Fosse, sondern auch in | |
weiblicher Gegenwartsliteratur aus Norwegen wie zum Beispiel in Vigdis | |
Hjorths „Wiederholung“, das gerade bei S. Fischer erschienen ist. Dort ist | |
es die plötzlich hereinbrechende Dunkelheit im Wald, die ein verborgenes | |
Trauma der Protagonistin heraufholt: „Wir atmeten Dunkelheit, der Hund mit | |
aufmerksam zum Wald hin gerichteten Sinnen, ich auf mein Inneres lauschend, | |
wo sich etwas rührte, aus der Tiefe emporstieg, aber es verschwand wieder, | |
ehe ich es zu fassen bekam.“ | |
## Moderner Stoff, altes Motiv | |
Die Naturerfahrung stößt eine Aufarbeitung ihrer Jugend und des sexuellen | |
Missbrauchs in ihrer Kindheit an. Moderner Stoff, altes Motiv. | |
Das Motto und die Literatur passen auch deshalb so gut, weil klug | |
gewirtschaftet wurde. Hinter dem Gastlandauftritt in Leipzig steht eine | |
staatlich geförderte Exportagentur für Literatur, Norla. Sie sorgt seit | |
ihrer Gründung im Jahr 1978 dafür, dass mehr als 8.700 Titel in 76 Sprachen | |
übersetzt wurden. | |
Einer ihrer größten Abnehmer ist der deutsche Buchmarkt, weshalb sie | |
Norwegen schon den Gastlandauftritt bei der Frankfurter Buchmesse 2019 | |
sicherte. Das damalige Motto lieferte besagter Olav Hauge: „Der Traum in | |
uns“. Die Mystik, die Natur, die Introspektion, das alles ist also auch | |
Produkt einer ausgefeilten Marketingstrategie, die schon einmal für gut | |
befunden wurde und nun in die zweite Runde geht. | |
Dabei sind die Mitarbeiter:innen bei Norla sehr darauf bedacht, auf | |
die Vielfalt der norwegischen Bücher hinzuweisen. Die sei besonders | |
ausgeprägt, weil mit dem „Innkjøpsordningen“ auch Autor:innen abseits | |
des Mainstreams gefördert werden. Durch jene Ankaufsregelung verpflichtet | |
sich der norwegische Kulturrat dazu, von jedem neu erscheinenden Buch knapp | |
tausend Exemplare zu kaufen, die anschließend an die Bibliotheken verteilt | |
werden. Im Vergleich zur deutschen Literaturbranche ist das ein | |
komfortabler finanzieller Grundstock, durch den weniger bekannte | |
Schriftsteller:innen überhaupt erst die Möglichkeit zur | |
Veröffentlichung bekommen. | |
## Das moderne Norwegen | |
Es stimmt deshalb keinesfalls, dass norwegische Literatur nur aus traurigen | |
alternden Männern bestünde. Im Gegenteil, mit Linn Strømsborg („Verdammt | |
wütend“) und Oliver Lovrenski („bruder, wenn wir nicht family sind, wer | |
dann“) werden bei der Buchmesse auch zwei Autor:innen ihre Bücher | |
vorstellen, die vom modernen Norwegen und seiner pluralen Gesellschaft | |
erzählen. | |
Woran liegt es dann, dass die Inszenierungen von und nach Fosse und | |
Knåusgard für das deutsche Publikum so hervorstechen? Einer, der die beiden | |
Erzählwelten, die einsame Natur und das moderne Leben in der Großstadt, | |
schematisch gegenüberstellt, ist Matias Faldbakken. Dessen im Herbst | |
vergangenen Jahres erschienener Roman „Armes Ding“ handelt von einem jungen | |
Mann auf einem abgelegenen Bauernhof. Im Wald findet er ein wildes, fast | |
schon animalisches Kind, das er einfängt und um das er sich kümmert. Das | |
Kind erholt sich schnell und entpuppt sich als junge Frau. | |
Es beginnt eine Liebesgeschichte zwischen beiden, die schließlich dazu | |
führt, dass sie vom Hof fliehen müssen. Sie landen in Oslo, wo sie sich in | |
intellektuellen Kreisen bewegen und einander schnell fremd werden, bis | |
Horror und Gewalt über sie kommen und die junge Frau verhaftet wird. | |
## Kontrast der Welten | |
Faldbakken kontrastiert diese beiden Welten, Land und Stadt, Romantik und | |
Moderne, in allen Feinheiten der Sprache und Symbolik. Sie trennt ein | |
Sündenfall, der die einfache Welt auf dem Land für immer verschließt. In | |
der Stadt erscheint dagegen alles zäh und verschwommen, das Leben so | |
unbefriedigend wie das Ende des Buchs. Faldbakken führt die Lesenden | |
meisterhaft vor, denn man wird ertappt darin, wie vermeintlich klar die | |
Dinge in der ursprünglichen Welt doch lagen und wie gut sich das anfühlte. | |
Vielleicht ist es das, was mit norwegischer Literatur hierzulande | |
assoziiert wird, also vor allem ein Gefühl der Leser:innen. Es ist eine | |
möglicherweise sehr deutsche Sehnsucht danach, die Schwere des Lebens zu | |
erfassen – in ferner Abstraktion, versteht sich. Das passt schon alles sehr | |
gut zusammen mit der Literatur und vor allem der Natur Norwegens, die man | |
auf Luxuskreuzfahrtschiffen schmökernd an sich vorüberziehen lässt. Die | |
Buchmesse ist eine gute Gelegenheit, dieses Traumbild einmal zu überprüfen. | |
26 Mar 2025 | |
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## AUTOREN | |
Jette Wiese | |
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