# taz.de -- Hamburger Autor: „Man muss es erzählen“ | |
> Der Hamburger Gunter Gerlach schreibt Krimis, die keine sind. In seinem | |
> neuen Roman „Der Mensch denkt“ erlebt ein Mann die Gedanken der anderen. | |
Bild: Manchmal packt ihn auch mal Mitleid mit seinen Protagonisten: der Hamburg… | |
Nebenan im Haus soll es die schlechteste Pizzeria der Stadt geben, | |
gegenüber schaut man auf Balkons mit Wäscheleinen, Blumentöpfen und | |
Getränkekisten. Auf dem Glasschreibtisch liegt sein neues Buch: „Der Mensch | |
denkt“, Untertitel: „Kriminalroman“. Doch wer auch nur eines seiner | |
mittlerweile über dreißig Bücher kennt, weiß, dass Gunter Gerlach nicht | |
wirklich Krimis schreibt. Obwohl: „Es gibt zahlreiche Tote, es gibt einen | |
Serienmörder – das wird doch immer gern genommen“, wendet er ein. „Und d… | |
ersten Toten gibt es auf Seite zwanzig – so wie es sein soll. Es gibt auch | |
einen wahnsinnigen Ermittler. Und wenn man will, geht die Geschichte zurück | |
bis in die Nazizeit.“ | |
Gunter Gerlach lacht. Er lacht viel an diesem Vormittag. „Das Buch zu | |
schreiben, hat sehr viel Spaß gemacht“, sagt er. Vier Monate hat er | |
gebraucht. Das Buch erzählt von Fred, der seit frühester Kindheit mit einer | |
seltsamen Gabe geschlagen ist: Wann immer er auf Menschen trifft, nimmt er | |
sofort an deren Gedankenwelt teil. Nichts bleibt ihm verborgen. Er kann | |
wenig dagegen ausrichten: fünf Meter Abstand zum Nächsten halten, das hilft | |
ein bisschen. Ansonsten greift er zu Kopfschmerztabletten und vor allem zum | |
Alkohol. | |
Gerlach kam auf die Idee, als er über die NSU-Morde nachdachte: „Ich habe | |
mich gefragt, wie hätte eigentlich ein Ermittler beschaffen sein müssen, | |
der diese NSU-Morde aufklärt. Der hätte eine Art Gedankenleser sein müssen, | |
denn wenn zwischen Opfer und Täter überhaupt keine persönliche Beziehung | |
existiert, wie sollst du jemals den Täter finden?“ | |
Gerlach setzt sich hin und überlegt systematisch, was mit einem passiert, | |
der die Gedanken der anderen pur erlebt: „Das geht natürlich nicht wie im | |
Science Fiction, wo der Held mittels einer speziellen Technik ganz gezielt | |
die fremden Gedanken erst filtern und dann analysieren kann.“ Fred wird | |
dagegen schier überschwemmt von den fremden Assoziationen, Erinnerungen und | |
auch Wünschen aller derer, die um ihn herum sind. Sein Erfinder Gerlach | |
sieht für einen kurzen Moment bekümmert aus: „Das zu erleben, muss | |
grauenhaft sein.“ Wie man merkt, als in der Gegend, in der Fred wohnt, ein | |
erster Mord geschieht. Und dann noch einer und dann noch einer. | |
Bald hat Fred noch ein weiteres Problem: Er verliebt sich in die | |
ermittelnde Polizistin, in Inez, auch genannt: „die Kartoffel“. Und die | |
verliebt sich in ihn. Geht das gut? Gunter Gerlach schüttelt energisch den | |
Kopf: „Das geht natürlich auf Dauer gar nicht! Du kannst, wenn du die | |
Gedanken der anderen empfängst, nicht mit jemanden zusammen leben.“ Auch | |
beruflich lasse sich eine solche Fähigkeit nicht nutzen: „Optimal wäre das | |
Feld der Industriespionage. Aber was passiert, wenn die, die ihn | |
beauftragen, die Gedanken der anderen zu lesen, realisieren, dass er | |
genauso gut ihre Gedanken liest? Also: Er darf das niemals in seinem Leben | |
sagen, sonst ist er praktisch tot.“ So bleibt für Fred nur eine so hilflose | |
wie obskure Berufsbezeichnung: Er arbeite als freier Journalist. Da fragt | |
keiner mehr nach. | |
Immer wieder steht er kurz davor, sich zu offenbaren: den Nachbarn, den | |
Freunden, seiner noch frischen Freundin, dem langjährigen Wirt seiner | |
Stammkneipe. „Niemand kann ein Geheimnis für sich behalten. Man muss es | |
einfach irgendwann erzählen!“, sagt Gerlach. Noch kann sein Held der | |
Versuchung, reinen Tisch zu machen, widerstehen. Es würde ihm nichts | |
helfen. Aus gutem Grund: Vielleicht muss Fred noch mal los, muss nochmal | |
sein Gedankenchaos durchleben. Fred wäre nicht der erste Held, dem Gerlach | |
ein zweites Buch schenkt. | |
Zugleich ist „Der Mensch denkt“ eine Hommage an das Hamburger | |
Karolinenviertel, ohne dass es im Text so benannt wird. Gut: Die | |
„Marktstraße“ heißt „Marktstraße“. Und wer sich vor Ort auskennt, wi… | |
eine oder andere Lokalität locker wiedererkennen. „Ich hab ja mal vier | |
Hamburg-Krimis geschrieben, und davon wollte ich dringend wieder weg“, sagt | |
Gerlach. „Das ist ja literarisch der unterste Bereich des Marktes, da sitzt | |
man tief in einem Loch. Es sind mit die schlechtesten Autoren, die sich | |
dort tummeln.“ Also – was soll er dort? Zugleich konnte Gerlach seine | |
Beobachtungen im Karo-Viertel nutzen, hat er doch dort zuletzt ein paar | |
Jahre gewohnt – und zwar professionell, als Autor. Denn das ist sein | |
Prinzip: Drei, vier Tage in der Woche sitzt er in einer eigens angemieteten | |
Schreibwohnung irgendwo zwischen dem Schanzenviertel und St. Pauli. Das | |
Wochenende verbringt er privat, am Stadtrand von Hamburg. So hält er es | |
seit Jahrzehnten. | |
Geboren ist er 1941 in Leipzig. Seine ersten fassbaren Kindheitseindrücke: | |
die Nächte, dann Tage im Luftschutzkeller. Auf abenteuerliche Weise | |
verschlägt es die Familie nach Bremen: „Wir lebten dort in einem Hotel, das | |
kein Hotel mehr war, sondern ein Puff. Wir durften nicht aufs Außenklo | |
gehen, auf dem Balkon stand stattdessen ein Eimer, mit Blick auf Bremens | |
damals verkehrsreichste Kreuzung – absurd und schön, im Nachhinein.“ | |
Die Familie zieht nach Hamburg-Barmbek. Nach der Schule lernt er | |
Elektromechaniker. Kein Beruf, mit dem er sein Leben verbringen will. „Ich | |
hatte einen Freund, dessen Bruder war in der Fotografieklasse auf der HFBK. | |
Der hat mir erzählt, was ich tun muss, damit ich dort aufgenommen werde.“ | |
Er studiert an er Kunsthochschule am Ende Gebrauchsgrafik, wie man | |
Kommunikationsdesign damals weniger großspurig nannte. Verlässt die | |
Hochschule ohne Diplom, bewirbt sich als Grafiker bei diversen | |
Werbeagenturen: „Als ich mich vorstellte, haben die mich gefragt, wer denn | |
die Texte zu den Bildern gemacht hat und ich: ’Na, ich.‘ Und die: ’Na, da… | |
fangen sie doch bei uns als Texter an!‘ Meine grafischen Künste waren | |
offenbar sehr beschränkt.“ Nach dem dritten Vorstellungsgespräch lenkt er | |
ein: „Ich sagte: ’Na gut, von mir aus.‘ Ich wusste zwar nicht, was man als | |
Werbetexter macht, aber war mir sicher, das wird man mir schon irgendwie | |
beibringen.“ | |
So ist es dann auch. Anfang der 1990er reicht es mit der Werbung, er hört | |
auf und macht sich als Schriftsteller selbstständig. Schreibt seitdem Buch | |
für Buch, tummelt sich in der Hamburger Literaturszene, hat | |
Veranstaltungsreihen konzipiert, wie aktuell den „Literaturquickie“, zu | |
Kaffee und Kuchen. Zurzeit bereitet er einen „Directors Cut“ seines 2004 | |
erschienenen Romans „Irgendwie in Hamburg“ vor, eine typische | |
Gerlach-Geschichte: Ein junger Mann entdeckt eher zufällig, dass er in ein | |
Haus gezogen ist, dessen Mieter alle im Knast saßen; die meisten sind | |
Mörder. Und er fragt sich, was man wohl mit ihm vorhat. „Vielleicht | |
schreibe ich noch mal eine Autobiografie“, sagt Gerlach, „wo ich aber den | |
größten Teil erfinde.“ | |
Doch erstmal muss er schauen, wie gut das neue Buch läuft und ob es einer | |
Fortsetzung bedarf. Dabei sitzt er schon längst an einem neuen Manuskript, | |
das von einem Bewohner St. Paulis erzählt, der … – aber was der genau und | |
höchst professionell des Nachts in wessen Auftrag erledigt, wird jetzt | |
nicht verraten. Nur, dass sein Autor schon auf Seite 200 ist. | |
## Lesung: Do, 19. Juni, 20 Uhr, Kirche St. Gertrud, Immenhof 10, Hamburg | |
16 Jun 2014 | |
## AUTOREN | |
Frank Keil | |
## TAGS | |
Hamburg | |
Literatur | |
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