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# taz.de -- Demenz des Krimiautors Gunter Gerlach: Zum Abschied ein Buch
> Der Autor Gunter Gerlach hat in der Hamburger Literaturszene viel bewegt
> und ist an Demenz erkrankt. Seine Weggefährten würdigen ihn in
> Abwesenheit.
Bild: Da konnte er noch die Literatur-Quickies moderieren: Gunter Gerlach vor e…
Hamburg taz | In seiner Schreibwohnung im tiefsten St. Pauli [1][habe ich
ihn zuletzt besucht], nachdem er aus seiner Schreibwohnung im Karoviertel
dorthin gewechselt war: in ein schmuckloses Wohnhaus mit Blick auf eine
Pizzeria, die eine Bundeskegelbahn im Keller hatte. Gunter Gerlach hatte
dort schon einmal gewohnt, vor 14 Jahren, hatte den Kontakt zu der
Vermieterin nie abreißen lassen.
Und als er etwas Kleineres und Günstigeres brauchte, war er wieder dort
gelandet, wo er in nur vier Monaten einen neuen Krimi fertigschrieb: „Der
Mensch denkt“; ein Krimi, der das Genre wieder einmal sprengte: Einen Mann
überschwemmen die Gedanken der anderen, er kann sie nicht filtern, sie
nicht ausblenden, es sei denn, das Gegenüber hält fünf Meter Abstand. Der
Mann muss das natürlich streng für sich behalten; darf nicht mal seiner
Freundin davon erzählen, denn was würde die tun, wenn sie wüsste, dass er
in jedem Moment alles über sie weiß?
Wir lachten viel an diesem Vormittag; lästerten über die schon damals nicht
endende Schwemme an Regionalkrimis. Dort tummelten sich nicht die
schlechtesten Autoren, sagte er und erzählte, dass er bei der
Wasserschutzpolizei einen kenne, der ihm hin und wieder Details aus der
Polizeiarbeit verrate. Etwa, dass sie eine Wasserleiche mit Stöcken ans
Ufer schöben, wenn sie sie fänden, damit nicht sie sich darum kümmern
müssen, sondern die „normale“ Polizei an Land. „Das darfst du aber nicht
schreiben“, sagte er damals, und das tat ich auch nicht.
Und zum Abschied, als die Kaffeetassen leer und die meisten Fragen
beantwortet waren, sagte er vergnügt: „Vielleicht schreibe ich noch mal
eine Autobiografie – wo ich aber den größten Teil erfinde.“
Nun wird noch einmal ein Buch von Gunter Gerlach erscheinen, eine Art
Abschiedsbuch – denn Gerlach, der viele Jahre verlässlich pro Jahr einen,
manchmal zwei Romane in die Welt schickte, ist dement. Keine Schreibwohnung
gibt es mehr, in der er wochentags sitzt, um zum Wochenende in sein
eigentliches Heim in Hamburg-Jenfeld am Stadtrand zu wechseln. Jetzt lebt
er in einer Demenz-WG.
„Ein falsches Wort und du bist tot“ ist der Titel einer Sammlung mit 33
Kurzgeschichten, die sein langjähriger Freund, literarischer Weggefährte
und nun Verleger Lou A. Probsthayn jetzt auf den Weg gebracht hat. „Was ich
tunlichst vermeiden wollte, war, etwas posthum zu machen, ich mag posthum
nicht“, sagt er. Es sollte ein gegenwärtiges Buch werden.
Finanziert hat er es durch ein Crowdfunding, knapp 140 Menschen haben
gespendet. „Zum Glück hat Gunter noch wahrgenommen, dass dieses Buch
erscheint, hat die Farbvariationen des Covers bestimmt und den Titel
abgesegnet.“ Und er sagt: „Er nimmt Tag für Tag Abschied, und ich kann und
darf ihn begleiten.“ Sagt: „Manchmal ist er sehr abwesend und manchmal ist
er sehr anwesend, und ich erzähle ihm dann vom Leben.“
Einer der 33 Texte ist die Geschichte über einen Mann, dessen Freundin am
liebsten in Kakao badet und nur Kakao trinkt. Es gibt eine Geschichte über
einen Krimischriftsteller, der mangels literarischen Erfolgs bei der
Presseabteilung der Polizei anfängt, denn die hat gerade ein ernstes
Problem: Es gibt immer weniger Verbrechen, also müsste man Polizisten
entlassen, es sei denn, man schmückt die weniger werdenden Kriminalfälle so
detailreich aus, dass die Leute weiterhin Angst haben und mehr Polizisten
fordern.
Und es gibt die Geschichte von einem Mann, der seine Wohnung aufschließt,
aber da wohnt schon jemand, ein Fremder, der ihn gut zu kennen scheint, und
unser Mann denkt: „Möglicherweise ist jetzt genau das passiert, was ich
immer befürchte: Ich bin dement, habe Alzheimer oder einen anderen
Morbus-Dings im Kopf. Als Schriftsteller wäre ich damit erledigt.“
„Ich wollte noch mal auf seine Anfänge hinweisen, auf das Groteske, das
seine ersten Romane und Texte haben; auf die surrealen Welten, in die man
eintaucht“, sagt Probsthayn. „Ich habe sehr darauf geachtet, dass das
Krimi-Sujet nur am Rande gestreift wird, denn wenn man sich an ihn erinnern
möchte, sollte man sich an den Autoren erinnern, der er zwischen 1984 und
1989 war.“ Auch wenn er später hervorragende Krimis geschrieben habe, und
er verweist auf Gerlachs Roman-Serie über einen hyperallergischen
Amateur-Detektiv: von „Kortison“ über „Katzenhaar und Blütenstaub“ bis
„Melodie der Bronchien“.
Begegnet sind sich Gerlach und Probsthayn Mitte der 1980er-Jahre: „Ich habe
ihn in einem Lebensabschnitt kennengelernt, wo es mir monetär gesehen nicht
so gut ging“, erzählt er. „Gunter ist alle vier Wochen vorbeigekommen, hat
mir 500 Blatt Papier zum Schreiben vorbeigebracht, 500 Gramm Kaffee, dazu
zwei Flaschen Wein und eine Stange Zigaretten – das war schon sehr nett.“
Es war eine nicht nur materielle, sondern mehr noch eine moralische
Unterstützung, durchaus als Prinzip: „Immer, wenn er junge Literaten und
auch wenn er junge Maler getroffen hat, wo er dachte, da muss geholfen
werden, hat er es getan.“ Gerlach habe nie eine Gegenleistung erwartet –
allenfalls, dass man gemeinsam neue Ideen entwickle – und umsetze.
1986 gründet sich so die Autorengruppe PENG, ein Akronym aus den Nachnamen
der Hamburger Schriftsteller Lou A. Probsthayn, Reimer Eilers, Nicolas
Nowak und Gunter Gerlach. Ihre Spezialität: Lesungen jenseits weihevoller
Hallen vor halbvollem Wasserglas.
Stattdessen klettern sie in den Alsterwiesen auf Bäume und lesen von oben
herab auf die Leute. Sie lesen in den Kabinen von Peep-Shows auf der
Reeperbahn, wo man für eine Minute Text eine Mark einwerfen muss. Sie lesen
und betrinken sich dabei, wobei Probsthayn einräumt, dass man heute gut und
gern geteilter Meinung darüber sein könne, ob das so eine gute Idee gewesen
sei. Aber Spaß habe es gemacht.
Später entwickeln Gerlach/Probsthayn den Literatur-Quickie, die kürzeste
Lesung der Welt. 2007 als sonntägliche Nachmittagslesung in der Bar „439“
gestartet, gründet sich zwei Jahre später der gleichnamige Verlag, der bis
heute kleine, quadratische Bücher verlegt, alle mit Kurzgeschichten. So gut
wie alle Hamburger AutorInnen sind vertreten; die Liste reicht von Michael
Weins über Katrin Seddig bis zu Karen Köhler; Juli Zeh und Friedrich Ani.
Anfangs managen sie den Verlag zu zweit, dann will Gerlach nur noch Autor
sein, seit Anfang 2010 ist der Verlag allein in Probsthayns Händen, jüngst
mit dem Deutschen Verlagspreis bedacht. Dazu kommen die
Literatur-Quickie-Lesungen zu Kaffee und Kuchen, die sie lange abwechselnd
moderieren – bis es nicht mehr geht. „Ich habe Gunter angeboten, die Reihe
einzustellen, aber davon wollte er nichts wissen, sie sollte weiterleben.“
Und so wird es auch zum Buch eine Lesung geben, wie es zu seinen Büchern
immer Lesungen gab, nur diesmal eben ohne ihn. „Ich möchte nicht, dass es
eine Erinnerungslesung wird, wo alle Abschied nehmen; das kann jeder
hinterher für sich tun“, sagt Probsthayn. Sondern es soll ein
Spätnachmittag werden, an dem seine Figuren durch den Raum rauschen, den
Halt verlieren und wiederfinden und überhaupt Dinge erleben, die alles von
ihnen verlangen – und von uns auch.
11 Jun 2021
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## AUTOREN
Frank Keil
## TAGS
Hamburg
Literatur
Krimi
Krimis
Demenz
Literatur
Justiz
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