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# taz.de -- Demenzkranke vor Gericht: Vergessenes Verbrechen
> Am Kieler Landgericht wird über eine Gewalttat entschieden, an die sich
> weder Täter noch Opfer erinnern können. Beide sind an Demenz erkrankt.
Bild: Optische Hilfe: Sich auf Demenzkranke einzustellen, ist schon jenseits de…
Kiel taz | Ein mutmaßlicher Täter, der sich kaum an seinen Namen erinnert,
ein mutmaßliches Opfer, das nicht vernommen werden kann – gehört so ein
Fall vor ein Gericht? Und wie geht der Staat um mit Menschen, die Gewalt
ausüben, ohne es zu wollen? Bei einem Prozess gegen einen
[1][Demenzkranken] muss das Landgericht Kiel diese Fragen ausloben.
Eine Pflegerin begleitet Ernst Niemann (Name geändert) in den
Verhandlungssaal mit den holzgetäfelten Wänden. Niemann, grauhaarig,
schlank, Goldbrille, schaut sich um, scheint aber rasch das Interesse zu
verlieren. Die Pflegerin führt ihn zur Anklagebank, wo der 83-Jährige
folgsam Platz nimmt. Während der Verhandlung steht er einige Mal auf und
will gehen, offenkundig ist ihm langweilig: „Wann hören Sie auf zu
quatschen?“, fragt er den Richter.
Im Dezember 2020 soll Niemann, der in einem [2][Pflegeheim] in der Gemeinde
Osdorf nahe Kiel lebt, eine Mitbewohnerin in seinem Zimmer schwer verletzt
und gewürgt haben. „Das Zimmer war blutüberströmt“, beschreibt die für …
Station zuständige Pflegekraft, die als erste ins Zimmer kam. Niemann habe
wohl auf die Frau eingeschlagen, die sei „grün und blau, ganz verbeult“
gewesen, so die Zeugin.
Dann habe er offenbar versucht, die Frau aus dem Zimmer zu ziehen – an
seinen Hosenträgern, die er ihr um den Hals geschlungen hatte. Eine
„lebensgefährliche Handlung“, sagt die Staatsanwältin. Niemann habe den T…
der Frau, die ebenfalls an Demenz erkrankt ist, in Kauf genommen. Wäre sie
gestorben, hätte Niemann „getötet, ohne Mörder zu sein“.
## Sinnvolle Kommunikation unmöglich
Als der Vorsitzende Richter der 8. Strafkammer ihn fragt, ob er sich „zur
Sache äußern“ möchte, sagt Niemann: „Jederzeit redet man mich an. Ich ha…
Leute, wo ich grade bin. Wir sind bisher ganz gut durchgekommen. Ich will
Sie nicht verrückt machen.“ Mit zitternden Händen fasst er sich an die
Stirn. „Okay“, sagt der Richter und gibt zu Protokoll: „Eine sinnvolle
Kommunikation ist nicht möglich.“
Eben das mache aber auch einen Prozess unmöglich, sagt Axel Höper, der
Niemann vertritt. Er ist überzeugt: „Wenn der Angeklagte nicht versteht,
worum es geht, muss das Verfahren eingestellt werden, sonst wird er zum
Objekt staatlichen Handelns.“ Allerdings sei diese Grundsatzfrage von
Landgerichten unterschiedlich entschieden worden, sagt der Fachanwalt für
Medizinrecht am Rand des Prozesses.
Für die Staatsanwältin geht es um die Frage, ob Niemann in der Forensik,
also einer Haft für psychisch kranke Täter, unterzubringen sei. Im Raum
steht eine Sicherheitsverwahrung nach dem [3][PsychHG], dem Gesetz zur
Hilfe und Unterbringung infolge psychischer Störungen, die angesichts von
Niemanns Alter und Gesundheitszustandes wohl lebenslänglich wäre.
Denn nicht zum ersten Mal wurde der alte Mann handgreiflich: Berichte aus
dem Pflegeheim und Krankenhäusern beschreiben, wie er mit seinem Handstock
auf einen Nachbarn einprügelte, eine Pflegerin schlug, einen Pfleger grob
wegstieß.
Doch ist eine forensische Anstalt, gesichert wie ein Hochsicherheitsknast
und für Besuche schwer zugänglich, der richtige Ort für einen
Demenzkranken? Und auf welcher Basis wird so ein Urteil gesprochen?
## Klassische Methoden versagen
Die Frage ist über den Kieler Fall hinaus relevant: Rund 1,6 Millionen
Menschen in Deutschland leiden unter Demenz, teilt die [4][Alzheimer
Gesellschaft] mit. Jeden Tag kommen rund 900 dazu, im Jahr 2050 könnten
rund 2,8 Millionen Demenzkranke in Deutschland leben. In einem späteren
Stadium der Krankheit sind sie, wie Niemann, durch klassische Polizei- und
Gerichtsmethoden kaum zu erreichen.
So wird sich nicht klären lassen, was an jenem Dezembertag geschah. Das
mutmaßliche Opfer, das neben der Demenz eine weitere geistige Behinderung
hat, wurde nicht einmal vernommen. Spuren konnte die Polizei nicht sichern,
das Zimmer war bereits geputzt, als die Beamt*innen eintrafen. Offen
ist, ob Niemann die richtigen Medikamente erhielt.
Sabine M., die den Witwer betreute, bevor er ins Heim kam, berichtet von
Besuchen im Heim, bei denen Niemann „träge, schläfrig, zurückgezogen“
wirkte. Offenbar hatte ein Neurologe gegen den Willen von Niemanns Tochter
und dessen langjährigem Hausarzt andere Medikamente verschrieben, dieser
Konflikt blitzt in der Pflegedokumentation auf, die der Richter vorlas.
Am Montag wird der Gutachter, der den Prozess beobachtet und vor allem zu
den Medikamenten nachfragte, seine Einschätzung abgeben, ein Urteil wird am
kommenden Mittwoch erwartet. Für Ernst Niemann wird es wie aus heiterem
Himmel fallen.
22 Jul 2021
## LINKS
[1] /Roman-ueber-Demenz/!5758595
[2] /Pflegerinnenmangel-in-Heimen/!5700955
[3] http://www.gesetze-rechtsprechung.sh.juris.de/jportal/?quelle=jlink&que…
[4] https://www.deutsche-alzheimer.de/
## AUTOREN
Esther Geißlinger
## TAGS
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Alzheimer
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