| # taz.de -- Pfleger*innenmangel in Heimen: 40 Minuten mehr am Tag | |
| > Pflegeheime brauchen mehr Personal, um die Menschen würdig zu versorgen – | |
| > das bestätigt ein Gutachten. Doch die Umsetzung verzögert sich. | |
| Bild: Personalmangel: „Für Gespräche ist oft zu wenig Zeit da“, sagt Pfle… | |
| Berlin taz | Es ist Alltag in Tausenden von Pflegeheimen: Die demenzkranke | |
| Dame sitzt am Abend teilnahmslos vor ihrem Teller mit klein geschnittenem | |
| Brot, einer Schale Grießbrei und einer Tasse mit Kräutertee. Eigentlich | |
| müsste eine Pflegerin sie jetzt ermuntern, ein paar Brotstücke zu nehmen, | |
| und sie anleiten, den Löffel zu ergreifen, mit Grießbrei zu füllen und zum | |
| Mund zu führen. | |
| Aber die Pflegerin im Dienst muss noch neun weitere BewohnerInnen in der | |
| Spätschicht versorgen. Sie spricht kurz mit der Dame, füttert sie mit ein | |
| paar Löffeln Grießbrei und hält ihr die Tasse Tee an den Mund, die | |
| Bewohnerin nimmt einen Schluck. | |
| „Für die Anleitungen und für Gespräche ist oft zu wenig Zeit da“, sagt d… | |
| Bremer Pflegeökonom Heinz Rothgang, der solche Beispiele gut kennt. | |
| Rothgang hat im Auftrag der Pflegekassen, Sozialhilfeträger und | |
| Berufsverbände und im Einvernehmen mit dem Bundesministerium für Gesundheit | |
| eine umfassende Studie zum Personalmehrbedarf in Pflegeheimen erstellt. | |
| Laut dem Pflegestärkungsgesetz II sollte dieses „wissenschaftlich fundierte | |
| Verfahren“ zur „einheitlichen Bemessung des Personalbedarfs“ in Heimen bis | |
| zum 30. Juni 2020 „entwickelt und erprobt“ sein. Doch davon kann nicht die | |
| Rede sein. | |
| Ein [1][Zwischenbericht] der Studie wurde bereits vor Monaten vorgestellt, | |
| doch der Abschlussbericht kreist noch durch die Abstimmungen mit Kassen, | |
| Sozialhilfeträgern und Branchenverbänden. Das Gutachten werde derzeit noch | |
| „beraten“, sagt eine Sprecherin des Bundesgesundheitsministeriums. Einen | |
| konkreten Zeitplan könne man nicht übermitteln. | |
| ## 99 Minuten pro Person am Tag | |
| Die Voraussetzungen für eine Pflegereform haben sich durch Corona | |
| verschlechtert. Die Beitragseinnahmen der Kranken- und Pflegekassen sind | |
| durch die Arbeitslosigkeit und Kurzarbeit wegen der Covid-19-Prävention | |
| gesunken, während die Gesundheitsausgaben stiegen. Überall in der | |
| Wirtschaft wird nach staatlicher Hilfe gerufen. „Das Risiko besteht, dass | |
| die Pflegereform aufgrund der schlechten Einnahmesituation wegen Corona | |
| hinten anstehen muss“, sagt Rothgang. | |
| Dabei hatte Bundesgesundheitsminister Jens Spahn (CDU) noch bei Vorstellung | |
| der „Konzertierten Aktion Pflege“ erklärt: „Pflege muss wieder attraktiv… | |
| werden. Das geht nur mit mehr Personal.“ | |
| Rothgang und seine MitarbeiterInnen haben den Personalmehrbedarf genauer | |
| errechnet. Sie schickten ForscherInnen in 62 ausgewählte Pflegeheime, die | |
| das Personal im Alltag genau beobachteten. Sie registrierten und | |
| dokumentierten, welche Unterstützungen aufgrund des Zeitmangels nicht | |
| geleistet werden konnten, obwohl sie eigentlich zu den in der Studie | |
| genannten pflegerischen Zielen gehörten, die „Unabhängigkeit und das | |
| Wohlbefinden“ der Pflegebedürftigen zu erhalten, zu erlangen oder wieder zu | |
| erlangen. | |
| Im Schnitt stehen laut Studie pro BewohnerIn am Tag etwa 99 Minuten an | |
| Pflegezeit zur Verfügung. Den Pflegezielen entsprechend müssten aber im | |
| Schnitt 141 Minuten am Tag an Pflegezeit aufgewendet werden, ergab die | |
| Studie. Darin enthalten ist ein gutes Viertel an „indirekten“ Tätigkeiten, | |
| wozu organisatorische, hauswirtschaftliche und andere nicht | |
| personengebundene Tätigkeiten zählen. | |
| ## „Ein Dschungel“ | |
| Der Personalmehrbedarf sollte laut Zwischenbericht vor allem durch | |
| Assistenzkräfte gedeckt werden, also durch PflegerInnen, die nur eine ein- | |
| oder zweijährige Ausbildung haben. Den Abschluss als „examinierte“ | |
| Pflegekraft bekommt man hingegen erst nach dreijähriger Ausbildung. Diese | |
| Zuweisung an Assistenzpersonal sei „äußerst kritisch zu sehen“, urteilt | |
| Christel Bienstein, Präsidentin des Berufsverbandes DBfK. Die | |
| Fachkraftquote, dass nämlich 50 Prozent des Personals in Pflegeheimen | |
| „Examinierte“ mit dreijähriger Ausbildung sein müssen, würde damit | |
| aufgehoben. | |
| Heute haben die Pflegeheime schon die größten Probleme, diese | |
| Fachkraftquote einzuhalten, da es an Examinierten mangelt. „Die | |
| Fachkraftquote ist in den 90er Jahren einmal festgelegt worden, um ein | |
| Signal zu setzen, dass die Qualität in der Pflege gesichert sein muss. Sie | |
| ist aber nie wissenschaftlich überprüft oder belegt worden“, sagt Stefan | |
| Görres, Alters- und Pflegeforscher in Bremen. Die vergleichsweise geringe | |
| Zahl der Examinierten auf dem Arbeitsmarkt stellt die Heime vor große | |
| Probleme. „Manche Heime müssen Abteilungen schließen, weil sie die | |
| Fachkraftquote sonst nicht sicherstellen können“, schildert Görres. | |
| Unter den Assistenzkräften herrscht wiederum eine Vielfalt an Ausbildungen, | |
| teilweise unterschiedlich in den Bundesländern. „Das ist ein Dschungel“, | |
| sagt Görres. So gibt es HelferInnen, die nur einen Grundpflegekurs von 200 | |
| Stunden absolviert haben, dann MitarbeiterInnen mit einer einjährigen | |
| Ausbildung als AltenpflegehelferIn oder einer mindestens zweijährigen als | |
| [2][Gesundheits- und PflegeassistentIn.] Es ist eher möglich, auf dem | |
| Arbeitsmarkt PflegehelferInnen zu finden als examinierte Fachkräfte, zeigt | |
| sich in den [3][Statistiken] der Bundesagentur für Arbeit. Die | |
| Ausbildungsgänge zur examinierten Alten- oder KrankenpflegerIn wurden seit | |
| dem 1. Januar 2020 in eine dreijährige generalistische Pflege-Ausbildung | |
| mit Examen zusammengelegt. | |
| Mehr Personal kostet mehr Geld. Würde man die Zahl der Beschäftigten in | |
| Pflegeheimen von derzeit rund 760.000 Menschen nur um 20.000 Vollzeitkräfte | |
| aufstocken, so würde das bei tariflich bezahlten [4][PflegehelferInnen mit | |
| einjähriger Ausbildung] und mehrjähriger Berufserfahrung, die etwa 2.800 | |
| Euro brutto im Monat verdienen, 870 Millionen Euro im Jahr zusätzlich | |
| kosten. | |
| ## Der Handlungsdruck steigt | |
| Das Geld kann nur durch höhere Beiträge zur Pflegekasse, durch Steuermittel | |
| oder über die Eigenanteile der BewohnerInnen zusammenkommen. Die | |
| [5][SPD-Bundestagsfraktion] hat den Vorschlag gemacht, die Eigenanteile der | |
| Pflegebedürftigen zu deckeln und einen Steuerzuschuss für die Pflegekosten | |
| zu gewähren. Doch um zusätzliche Steuermittel konkurrieren viele | |
| Unternehmen, Selbstständige, Städte und Gemeinden. | |
| In der Pflege allerdings steigt der Handlungsdruck. Denn inzwischen geht es | |
| nicht mehr allein darum, die Pflegequalität für die BewohnerInnen zu | |
| verbessern, sondern den Pflegeberuf so attraktiv zu gestalten, dass sich | |
| überhaupt noch genug Personal dafür findet. | |
| „Die Sicherstellung der pflegerischen Versorgung ist nicht mehr | |
| flächendeckend gegeben“, sagt Herbert Mauel, Geschäftsführer des | |
| Bundesverbandes privater Anbieter sozialer Dienste (bpa). Heute könne, wer | |
| etwa eine Kurzzeitpflege oder einen Platz in einem Pflegeheim suche, sieben | |
| oder acht Absagen bekommen, bevor man endlich einen Platz finde. | |
| Pflegeheime führen zum Teil lange Wartelisten. Die Tatsache, dass heute | |
| Familienangehörige oft pflegerische Arbeiten ausführen, für die sie keine | |
| gelernten Kräfte in den ambulanten Diensten mehr finden, zeigt den Mangel. | |
| Überall fehlt Personal, während gleichzeitig die Zahl der Pflegebedürftigen | |
| zunimmt. | |
| Der Pflegeschlüssel in den Heimen allein sagt aber noch nicht alles aus | |
| über die Zufriedenheit des Pflegepersonals. Umfragen hätten ergeben, dass | |
| in Mecklenburg-Vorpommern, wo der Pflegeschlüssel eher niedrig ist, sich | |
| die Beschäftigten trotzdem zufriedener zeigten als in Bayern, wo der | |
| Pflegeschlüssel vergleichsweise hoch ist, sagt Mauel. | |
| ## „Liebevoll und wertschätzend“ oder „lieblos und unwürdig“ | |
| In der Rothgang-Studie berichten die ForscherInnen, dass die Stimmung in | |
| den Heimen und der Umgang mit den BewohnerInnen sehr „heterogen“ sei, | |
| teilweise „liebevoll und wertschätzend“, aber eben auch „lieblos und | |
| unwürdig“. Das hängt offenbar nicht nur mit den Personalschlüsseln | |
| zusammen. Die Verlässlichkeit eines Dienstplanes und der freien Tage sei | |
| für die Beschäftigten sehr wichtig, erklärt Mauel. „Wenn eine Pflegekraft | |
| weiß, dass sie jedes zweite Wochenende frei hat, dann erhöht das die | |
| Attraktivität des Berufes.“ | |
| Dass man bei Krankheitsausfällen der KollegInnen früh am Morgen von der | |
| Pflegedienstleitung angerufen wird und dann einspringen muss, obwohl man | |
| einen freien Tag hat, sorgt für Unzufriedenheit vieler Pflegekräfte. | |
| Zeitarbeitsfirmen werben um examinierte Kräfte auch damit, dass die | |
| Arbeitszeiten verlässlich im Vorhinein vereinbart werden. | |
| „Es müsste Pools geben in den Einrichtungen mit Vertretungskräften, womit | |
| man dann beispielsweise Krankheitsausfälle ausgleichen könnte“, sagt Mauel. | |
| Ständig „aus dem Frei“ geholt zu werden in einem Beruf, der ohnehin | |
| Schichtarbeit verlangt, das sorgt bei den Beschäftigten für extra Stress | |
| und ein Gefühl mangelnder Wertschätzung. | |
| Doch jede Verbesserung, um den Pflegeberuf auch für Jüngere attraktiv zu | |
| machen, wird nicht ohne höhere Kosten möglich sein. Ob diese Kosten dann | |
| von den Pflegebedürftigen und ihren Familien getragen werden müssen und | |
| damit das Pflegerisiko zum individuellen biografischen Risiko wird oder ob | |
| man die Versichertengemeinschaft oder die Steuerzahler damit belastet, das | |
| ist die politische Frage. | |
| Görres erinnert sich noch an die 70er Jahre des vergangenen Jahrhunderts, | |
| als die Grauen Panther mit rotbefleckten Bettlaken gegen die Zustände in | |
| Pflegeheimen protestierten, in denen es damals noch Acht-Bett-Zimmer gab. | |
| Die „Abschiebung“ ins Heim galt damals als eine Art Höchststrafe. Heute | |
| sollen die stationären Einrichtungen akzeptierte Alternativen sein zur | |
| familiären Versorgung, die die Töchter und Schwiegertöchter wegen der | |
| eigenen Berufstätigkeit nicht mehr leisten können und wollen. „Da gibt es | |
| auch kein Zurück mehr“, sagt Görres. | |
| 3 Aug 2020 | |
| ## LINKS | |
| [1] https://www.gs-qsa-pflege.de/wp-content/uploads/2020/02/2.-Zwischenbericht-… | |
| [2] https://berufenet.arbeitsagentur.de/berufenet/faces/index;BERUFENETJSESSION… | |
| [3] https://statistik.arbeitsagentur.de/Statischer-Content/Arbeitsmarktberichte… | |
| [4] https://caritas-dienstgeber.de/publikationen/faktenblaetter-neu/verguetung-… | |
| [5] https://www.spdfraktion.de/themen/pflege-solidarisch-gestalten | |
| ## AUTOREN | |
| Barbara Dribbusch | |
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