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# taz.de -- Kapitalisierung des Pflegesektors: Kurze Lebenserwartung
> Börsenorientierte Aktienunternehmen machen sich im Pflegesektor breit.
> Doch hohe Rendite verträgt sich nicht mit einer würdevollen Pflege.
Bild: Symbolfotos zur Pflege, davon gibt es mindestens so viele wie private Alt…
In keiner anderen Gruppe fordert das Coronavirus so viele Todesopfer: Mehr
als ein Drittel der Todesfälle in Deutschland betreffen die Bewohnerinnen
und Bewohner von Pflegeheimen. Die Pandemie wirft ein Schlaglicht auf die
zentrale gesellschaftliche [1][Frage der Pflege]. Rhetorisch herrscht hier
Einigkeit – würdevoll soll der Lebensabend unserer Großeltern und Eltern
sein. Doch unter welchen konkreten Voraussetzungen lässt sich dieses Ziel
umsetzen?
In der öffentlichen Diskussion wird viel über Finanzierung und Mangel an
Pflegekräften gesprochen. Unter den Tisch fallen dabei oft die
voranschreitende Kommerzialisierung und Finanzialisierung der Pflege. Dabei
lässt sich das öffentliche Gut Pflege nur zu hohen Kosten privatisieren.
Das gesellschaftliche Ziel einer würdevollen Pflege ist mit dem privaten
Ziel der Gewinnmaximierung unvereinbar. Deshalb brauchen wir nicht nur eine
angemessene finanzielle Ausstattung der Pflege, sondern auch eine robuste
„Industriepolitik“, die dem neuen Pflegekapitalismus Einhalt gebietet.
Wer trägt in Deutschland die Verantwortung für die [2][Pflege]? Hier ist es
wichtig, zwischen Finanzierung und Trägerschaft zu unterscheiden. Die
Finanzierung erfolgt über die Eigenanteile der Pflegebedürftigen und, seit
1995, über die Soziale Pflegeversicherung. Bei Pflegegrad 3 deckt die
Soziale Pflegeversicherung knapp die Hälfte der stationären Pflegekosten.
Das Geld aus den Pflegeversicherungen fließt an die Betreiber von
Pflegediensten und [3][Pflegeheimen]. Unterschieden werden hier
öffentliche, freigemeinnützige und private Träger. Öffentliche, überwiegend
Kommunen, spielen als Träger von Pflegeheimen nur noch eine Nebenrolle: Ihr
Anteil sank bis 2017 von 8 auf 5 Prozent. Führend sind mit einem Anteil von
53 Prozent freigemeinnützige Träger wie der Deutsche Caritasverband.
Deutlich vergrößert hat sich hingegen der Anteil der privaten Träger – von
35 auf 43 Prozent bei den Pflegeheimen und von 26 auf 40 Prozent bei den
Pflegeplätzen.
Da sich Kostenvorteile vor allem durch Größe realisieren lassen, überrascht
es nicht, dass der private Sektor eine zunehmende Konzentration
verzeichnet. Im vergangenen Jahr entfielen knapp 40 Prozent der Plätze in
der vollstationären Pflege auf die 30 größten Pflegeunternehmen.
Entscheidend ist hier die Eigentumsform: In der Vergangenheit handelte es
sich bei profitorientierten Pflegeheimen um Unternehmen im Familien- oder
Privatbesitz. Zunehmend dominieren hier jedoch börsennotierte
Aktienunternehmen. Derzeit kontrollieren Privat-Equity-Gesellschaften etwa
13 Prozent der privaten Pflegeplätze in Deutschland.
PE-Gesellschaften konkurrieren darum, das Kapital von institutionellen
Investoren und vermögenden Individuen gegen hohe Gebühren zu verwalten. Sie
investieren dieses Kapital, indem sie Unternehmen aufkaufen, die
aufgenommenen Schulden auf die Zielunternehmen übertragen und dort
drastische Kosteneinsparungen durchsetzen. Nach vier bis fünf Jahren werden
die Zielunternehmen mit möglichst hohem Gewinn wieder abgestoßen.
Dieses Geschäftsmodell ist schwer vereinbar mit einer qualitativ
hochwertigen Betreuung. Es ist jedoch überaus kompatibel mit der
Gewinnmaximierungsstrategie im Pflegesektor, der Kostenminimierung. Die
Vergütung der Träger ist durch die Verhandlungen mit Kassen und Staat
weitgehend geregelt. Die wichtigsten Stellschrauben, um den Gewinn zu
erhöhen, sind deshalb Kostensenkungen bei Personal, Ausrüstung und
Qualität. PE-Gesellschaften können dabei besonders skrupellos vorgehen.
Anders als für lokal oft langfristig gebundene Unternehmerinnen stellt
verbrannte Erde für Heuschrecken kein Problem dar.
Studien zu den Auswirkungen von PE-Übernahmen auf die Pflegequalität in den
USA lassen wenig Raum für Zweifel. Zwei Studien aus den Jahren 2015 und
2020 zeigen, dass PE-Pflegeheime weniger und schlechter ausgebildetes
Personal beschäftigen und die PatientInnen signifikant schlechtere
Gesundheitswerte aufweisen. Der Übergang in andere private Eigentumsformen
verursache hingegen keine Qualitätseinbußen.
Vergleichbare Studien für Deutschland liegen bisher nicht vor. Bekannt ist,
dass die höchsten Renditen nicht im Luxussegment, sondern mit Pflegeheimen
am unteren Ende der Qualitätsskala erwirtschaftet werden. Recherchen zeigen
außerdem, dass PE-Übernahmen auch hierzulande zu Lasten des Personals und
der Patienten gehen. So etwa im Fall des Alloheims Ludwigsburg. Nach zwei
Eigentümerwechseln im Jahr 2015 beanstandete die Heimaufsicht Schimmel,
Fixierungen sowie fehlendes Fachpersonal.
## Stellschraube Kostendruck
Wie könnte eine Politik aussehen, die solchen Entwicklungen entgegentritt?
Eine entscheidende Stellschraube ist der Kostendruck, den der Staat bisher
selbst verordnet: Nur Heime, die ausreichend „wirtschaftlich“ sind,
bekommen einen Versorgungsvertrag und können damit von der Pflegekasse oder
Sozialversicherung bezahlt werden. Ein staatlicher Rahmen, der Effizienz
belohnt, ist grundsätzlich nicht falsch. Doch er nährt auch den
Pflegekapitalismus, da er große Ketten begünstigt. Stattdessen sollte der
Staat seine Kostenvorgaben an dem orientieren, was auch kleinere
Pflegeanbieter einhalten können.
Zudem könnten Bund und Länder Kapital bereitstellen und die Rolle der
Kommunen in der Pflege wieder stärken. Schon heute stellt der Bund Kapital
bereit, indem die staatliche Kreditanstalt für Wiederaufbau die
Finanzierung von Pflegeimmobilien unterstützt.
Pflege ist keine Anlageklasse für Investoren, sondern eine zentrale
gesellschaftliche Herausforderung. Die Zahl der Pflegebedürftigen ist seit
der Jahrtausendwende auf 3,7 Millionen Menschen angestiegen und wird bis
2050 auf 5,9 Millionen ansteigen. Statt diese Herausforderung an
profitmaximierende, kurzfristig orientierte Finanzinvestoren zu delegieren,
muss die Politik die Pflege nach Kriterien der langfristigen Nachhaltigkeit
aktiv gestalten.
30 Sep 2020
## LINKS
[1] /Pflegekraefte-in-der-Coronakrise/!5713118
[2] /Pflegerinnenmangel-in-Heimen/!5700955
[3] /Coronakrise-im-Pflegeheim/!5700941
## AUTOREN
Philippa Sigl-Glöckner
Benjamin Braun
## TAGS
Gesundheitspolitik
Pflege
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Senioren
Schwerpunkt Coronavirus
Arbeitskampf
Pflegekräftemangel
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