| # taz.de -- Personalmangel in Altenheimen: Gepflegter Notstand | |
| > Wegen Personalmangels muss das Pflegeheim Ulmenhof in Bernau bei Berlin | |
| > zum Jahresende schließen. Dieses Schicksal ereilt immer mehr | |
| > Einrichtungen. | |
| Bild: Qualitative Pflege braucht vor allem ausreichend Personal | |
| Berlin taz | Die Nadeln der Kiefern wehen lautlos auf den Asphalt, der Wind | |
| kämmt den Bäumen die Blätter aus. Wäre das Alter eine Jahreszeit, | |
| vielleicht diese: Herbst. Im Pflegeheim Ulmenhof in der Waldsiedlung bei | |
| Bernau sitzt die 88-jährige Frau Keller an einem Holztisch und wartet | |
| darauf, dass das Rommédeck umgedreht wird. „Wir waren hier sehr, sehr | |
| zufrieden. Mit den Räumlichkeiten, mit unseren Zimmern, mit allem | |
| ringsherum.“ | |
| Trotzdem muss die Seniorin nun umziehen. Sie trägt einen roten | |
| Rollkragenpullover, darüber eine beige Strickjacke und streicht sich mit | |
| ihren Fingern über die Hände. Dabei, sagt sie, wollte sie hier sterben. Sie | |
| sagt das geradeheraus, auf den Punkt, wie nur alte Menschen über den Tod | |
| sprechen, ohne Vertuschung. Doch jetzt wird alles anders. Wegen | |
| [1][Personalmangels] muss das Pflegeheim Ulmenhof in der Waldsiedlung in | |
| Bernau zum Jahresende schließen, die 58 Bewohnenden werden auf die | |
| umliegenden Pflegeheime verteilt. Der Betreiber, die | |
| Michels-Unternehmensgruppe, wollte sich auf taz-Anfrage nicht dazu äußern, | |
| auch Gespräche mit den Bewohner*innen sind nicht erwünscht. | |
| Keller ist eine von rund fünf Millionen Pflegebedürftigen in Deutschland. | |
| Ihre Interessen und die Interessen derer, die sie pflegen, werden in der | |
| Politik immer wieder diskutiert. Denn fehlendes Pflegepersonal wird | |
| zunehmend zum Problem: Allein in den nächsten zehn bis zwölf Jahren gehen | |
| rund 500.000 Pflegefachkräfte in Rente. Laut der Hans-Böckler-Stiftung | |
| dauert es 230 Tage, bis die Stelle einer Krankenpflegefachkraft besetzt | |
| werden kann, bei einer Altenpflegefachkraft sind es 210. Der Mangel an | |
| Pflegekräften entwickelt sich angesichts der alternden Gesellschaft zu | |
| einer der größten sozialpolitischen Herausforderungen unserer Zeit. | |
| Die Caritas-Recruiterin Erika Prinz sitzt in einem Büro vor einer Dose mit | |
| dänischem Buttergebäck. Hinter ihr an der Wand hängt ein Holzkreuz. Um den | |
| Hals hat sie einen Schlauchschal gebunden, ihre Haare sind kurz, ihr | |
| Brillengestell lila. „Wir können nicht einfach resignieren“, sagt Prinz, | |
| die seit über 30 Jahren in dem Bereich arbeitet. Wie Krankenhäuser [2][sind | |
| Pflegeheime Unternehmen im kapitalistischen Wettbewerb]. In kaum einem | |
| anderen Bereich scheinen so viele Unternehmen so engagiert um so wenig | |
| Personal zu kämpfen wie in der Pflege. Denn wenn zu viele | |
| Mitarbeiter:innen fehlen, führt das früher oder später zur Pleite. | |
| Erika Prinz hat sich zur Aufgabe gemacht, das in der Caritas zu verhindern. | |
| ## Personal dringend gesucht | |
| Seit der Mangel an Fachkräften so rapide angestiegen ist, haben viele | |
| Träger der Altenhilfe, so auch die Caritas, ihr | |
| Bewerber:innenmanagement zentralisiert. Während früher die Leitung | |
| der einzelnen Einrichtungen für Bewerbungen verantwortlich waren, fädeln | |
| Recruiter:innen wie Erika Prinz heute die Bedarfe der Einrichtungen mit | |
| den „unterschiedlichen Bedürfnissen der Bewerber“ zusammen. | |
| Der Vorteil: Prinz kennt alle personellen Bedarfe und Abläufe der 36 | |
| Einrichtungen der Caritas. Sie kann ganz genau sagen, wer wo gebraucht | |
| wird. Wenn eine Bewerbung nicht ins Profil einer Einrichtung passt, | |
| überlegt sie, in welchem anderen Bereich die Person eingesetzt werden | |
| könnte. Sie spricht auch Empfehlungen aus, etwa einen Pflegebasiskurs zu | |
| besuchen oder eine Ausbildung zu machen. „Mitarbeiter zu gewinnen ist gar | |
| nicht so schwer. Sie zu halten ist schwerer“, sagt Prinz. | |
| Eine Blitzumfrage des Bundesverbandes privater Anbieter sozialer Dienste, | |
| an der knapp 2.500 Pflegeheime, ambulante Dienste und teilstationäre | |
| Einrichtungen teilgenommen haben, zeigt: Fast 70 Prozent der | |
| Pflegeeinrichtungen in Deutschland sehen derzeit ihre wirtschaftliche | |
| Existenz gefährdet. Wie viele es in Berlin sind, wurde nicht gesondert | |
| erfasst. Die Gründe für die Existenzangst: Personalnot, steigende Kosten | |
| und Inflation. Wenn Personal fehlt, können die Einrichtungen ihre Betten | |
| nicht belegen: Die Versorgungslücke reißt weiter auf. | |
| Mit der Not machen Leiharbeitsfirmen gutes Geld. Als Reaktion auf die | |
| schlechten Arbeitsbedingungen entscheiden sich Pfleger*innen oft für | |
| eine Anstellung in Leasingfirmen. Träger mit Personalengpässen zahlen dafür | |
| große Summen, die Mehrkosten werden von den Pflegekassen in den meisten | |
| Fällen jedoch nicht übernommen. Die Pflegeheime schreiben also rote Zahlen. | |
| Zusätzlich verhindern Zeitarbeitsfirmen durch Klauseln in ihren Verträgen, | |
| dass Pfleger:innen fest angestellt in einer Einrichtung arbeiten können, | |
| wenn sie das möchten. | |
| Im Seniorenzentrum St. Albertus von der Caritas in Hohenschönhausen werden | |
| Metallwagen mit haufenweise Wäsche durch die Flure geschoben. An der Tür | |
| von Zimmer 2.22 klebt auf Augenhöhe ein winziger Sticker mit Katzenbabys in | |
| einem Flechtkorb. Dahinter wohnt Regina Bujarra. Jahrelang hat sie als | |
| Sozialassistentin und Ehrenamtliche in Altersheimen gearbeitet. Bis sie | |
| selbst in ein Altersheim ziehen musste. Regina Bujarra holt ein kleines, | |
| graues Notizheft hervor. In feiner Schreibschrift steht dort: „Herr B., 1 | |
| Kanne warme Milch, 1 Schusterjunge, Butter, Marmelade. Frau R., 1 Tasse | |
| Kaffee mit Milch, 1 Banane.“ | |
| ## Wenig Bindung zwischen Pflegenden und Gepflegten | |
| „Das Heft war für die Leasing-Kräfte. Sie wussten ja oft nicht, was die | |
| Leute beim Frühstück und Abendessen wollen.“ Also hat sie es ihnen | |
| aufgeschrieben. „Das mit dem Leasing“, findet Regina Bujarra, „das ist | |
| wirklich nichts.“ In ihrer früheren Einrichtung habe sie sich nicht | |
| aufgehoben gefühlt. Es gab zu wenig Bindung zwischen Pflegenden und | |
| Gepflegten, sagt sie. Über ihre eigene Arbeit in Altenheimen sagt die | |
| ehemalige Postangestellte: „Das war toll.“ | |
| Altenpflege wird oft als „Frauenberuf“ bezeichnet: Ab dem 19. Jahrhundert | |
| wird die Kranken- und Altenpflege eng mit Werten verknüpft, die im | |
| traditionellen Familienbild Frauen zugesprochen werden. Aufopferung, | |
| Selbstlosigkeit, „gütige“ Hilfe. Man ging davon aus, dass Zuwendung und | |
| Hilfe unbezahlbar sind. Die Annahme, sie würden von ihrem Ehemann | |
| finanziell versorgt, sorgte zusätzlich für unangemessen geringe Löhne für | |
| die arbeitenden Frauen. | |
| Die Folgen des Bildes der altruistischen Frau spiegeln sich bis heute in | |
| den Lohnverhältnissen. Besonders in Krankenhäusern ist die | |
| Ungleichbezahlung extrem: Frauen erhalten hier im Schnitt 31 Prozent | |
| weniger als ihre männlichen Kollegen. In Altenheimen ist der Frauenanteil | |
| mit 80 Prozent am größten. Hier liegt der Gehaltsunterschied bei 5,9 | |
| Prozent, weibliche Führungskräfte erhalten rund 13 Prozent weniger Gehalt | |
| als Männer. Als ausgebildete Altenpflegerin hingegen verdienen Frauen | |
| geringfügig mehr als ihre männlichen Kollegen. Ihr Gehalt fällt im Schnitt | |
| um 0,7 Prozent höher aus. | |
| Mit der [3][neuen Pflegereform] sollen die Löhne von Pflegekräften steigen. | |
| „Eine Neuerung ist, dass tarifliche Entlohnung gestärkt werden soll“, sagt | |
| der Arbeitswissenschaftler Eike Windscheid. „Der Gesetzentwurf lässt aber | |
| zu viel Spielraum, das zu unterwandern.“ Zwar sollen Pflegekräfte besser | |
| bezahlt werden, jedoch ist unklar, wie das finanziert werden soll. Für 2024 | |
| ist eine Gehaltssteigerung von 16 Prozent vorgesehen. Was auch steigt: Die | |
| Beiträge der Versicherten. Kritiker:innen warnen angesichts der | |
| ungeklärten Finanzierung vor einer Zweiklassenpflege. | |
| ## Ein Beruf mit Sinn | |
| In den Jahren, in denen Erika Prinz in der Pflege gearbeitet hat, stellt | |
| sie immer wieder eine Sache fest: „Menschen wollen einen Beruf mit Sinn. | |
| Den finden sie in der Pflege.“ Dem Personal geht es entsprechend nicht | |
| allein um bessere Bezahlung. Im vergangenen Jahr hat Prinz viele Gespräche | |
| mit Menschen geführt, die aus der Pflege ausgestiegen sind. Oft waren es | |
| die Arbeitszeiten, die sich nicht mit dem Privatleben vereinbaren ließen. | |
| Immer wieder lag es aber auch an einer Leitung, die nicht teamorientiert | |
| gearbeitet hat. | |
| Prinz’ Erfahrungen zeigen sich auch in der Studie „Ich pflege wieder, wenn | |
| …“ von der Hans-Böckler-Stiftung aus dem Jahr 2022. Rund 12.700 | |
| ausgestiegene sowie in Teilzeit beschäftigte Pflegekräfte wurden dafür | |
| online befragt, unter welchen Bedingungen sie in ihren Beruf zurückkehren | |
| würden. An erster Stelle steht mehr Zeit für eine qualitativ hochwertige | |
| Pflege durch eine bedarfsgerechte Personalbemessung. Wichtig ist den | |
| Pflegenden aber auch ein fairer Umgang unter Kolleg:innen sowie | |
| Vorgesetzte, die wertschätzend und respektvoll sind sowie sensibel für die | |
| Arbeitsbelastungen. | |
| Die sind in der Pflege enorm. Räume und Angebote, in denen Pflegekräfte | |
| Zeit für sich haben oder das Erlebte verarbeiten können, hingegen gering. | |
| Dabei lastet das Gefühl, die Menschen aus Zeitmangel nicht angemessen | |
| versorgen zu können, schwer. Anne-Henrijke Seidlein von der Universität | |
| Greifswald forscht zu dem moralischen Belastungserleben, das Pflegekräfte | |
| in ihrem Arbeitsalltag erfahren. „Moral Disstress bedeutet, dass man über | |
| einen längeren Zeitraum immer wieder moralisch belastende Ereignisse | |
| erlebt, durch die irgendwann eine tiefgreifende Schädigung eintreten kann“, | |
| sagt sie. | |
| Die psychischen Folgen reichen von depressiven Verstimmungen über | |
| gesteigertes Suchtverhalten bis hin zu Suizidalität. „Schuldgefühle sind | |
| hier zentral. Pflegefachpersonen machen sich große Vorwürfe, wenn sie ihren | |
| Schutzbefohlenen, Pflegebedürftigen oder Patienten nicht gerecht werden | |
| können“, sagt Seidlein. „Inzwischen weiß man auch, dass es einen | |
| Zusammenhang gibt zwischen der Absicht, den Beruf zu verlassen, und dem | |
| Auftreten von Moral Disstress.“ | |
| Die Engpässe im Pflegesektor können nicht allein durch Menschen aufgefangen | |
| werden, die dort arbeiten. Auch die Rekrutierung von ausländischen | |
| Fachkräften ist keine langfristige Lösung – zumal diese woanders fehlen. | |
| Die Initiative „Care Macht Mehr“ setzt sich für eine umfassende | |
| gesellschaftliche Neugestaltung und Finanzierung der Sorgekultur ein. | |
| „Während in den letzten Jahren immer mehr Frauen in die Erwerbsarbeit | |
| gegangen sind, haben Männer sie nicht im gleichen Maße verlassen“, erklärt | |
| Barbara Thiessen von der Initiative. „Das hat zu einer systematischen Lücke | |
| in der Versorgung geführt.“ | |
| ## Ein System, das absichern würde | |
| Die modernen Arbeitsbelastungen mit einer 40-Stunden-Woche lassen kaum Zeit | |
| für Sorgearbeit – wenn, ist sie unbezahlt. Deswegen haben Mitglieder der | |
| Initiative gemeinsam mit dem Institut für Zeitpolitik das | |
| „Optionszeitmodell“ entwickelt. Es sieht vor, jeder Person in ihrer | |
| beruflichen Laufbahn ein Zeitkontingent von ungefähr neun Jahren zur | |
| Verfügung zu stellen – bezahlt: für Care-Arbeit, Weiterbildung und | |
| Selbstfürsorge. | |
| Das soll den Menschen ermöglichen, ihre berufliche Tätigkeit zugunsten | |
| gesellschaftlich wichtiger Aufgaben zu unterbrechen oder zu reduzieren. „In | |
| einem solchen System würde man nicht benachteiligt, sondern wäre | |
| abgesichert, wenn man Care-Arbeit leistet“, so Thiessen. | |
| Weitere Lösungen seien organisierte nachbarschaftliche Unterstützung, | |
| flexiblere Kostenübernahmen bei Engagement von Angehörigen sowie eine | |
| architektonische Zusammenlegung von Kinder- und Altenhilfe, etwa wenn | |
| ältere Menschen Hausaufgabenhilfe anbieten oder Studierende mit Bewohnenden | |
| im Altersheim kreative Angebote machen. Und natürlich: eine verkürzte | |
| Arbeitszeit in Form einer 4-Tage-Woche, sodass Menschen mehr Zeit für | |
| Care-Arbeit haben. | |
| Die Pflegeheimbewohnerin Regina Bujarra legt das graue Heft zur Seite und | |
| legt ihre Hände auf die Beine. Ihr fehlen vor allem Strukturen wie der | |
| Zivildienst: „Die haben ja auch in der Küche geholfen, das war richtig | |
| gut.“ Aktuell sieht der Haushaltsentwurf in der Förderung des Freiwilligen | |
| Sozialen Jahres und des Bundesfreiwilligendienstes massive Kürzungen vor. | |
| 113 Millionen Euro sollen in den nächsten zwei Jahren gestrichen werden. | |
| Damit ist jede dritte Stelle gefährdet. | |
| Die Initiative Care Macht Mehr fordert ein Care-Mainstreaming, also dass | |
| die Pflege immer mitgedacht wird. „Bei allen Entscheidungen, die auf | |
| kommunaler Ebene, auf Landes- und auf Bundesebene, aber auch in den | |
| Unternehmen getroffen werden, muss immer darüber nachgedacht werden: Was | |
| bedeutet das eigentlich für Menschen, die sorgen?“, fordert Barbara | |
| Thiessen. Bislang geschehe das zu wenig – das habe sich nicht zuletzt in | |
| der Pandemie gezeigt. | |
| Frau Kellers Rommé-Deck ist mittlerweile vollständig, die Runde nicht. Nur | |
| ein weiterer Mitspieler sitzt mit am Tisch. „Die anderen zwei sind gestern | |
| schon umgezogen. Zum Glück sind die drüben im Birkenhof. Wir werden uns | |
| also wiederfinden“, sagt die Seniorin. Bloß ihr Spielpartner weiß noch | |
| nicht, wo es für ihn hingehen wird. „Ach, du wirst schon mitgenommen“, sagt | |
| die 88-Jährige. Die beiden werden nicht im Ulmenhof sterben. Sie werden im | |
| Birkenhof Rommé spielen, in altbekannter Runde, die sich schließlich schon | |
| einmal „gesucht und gefunden“ hat, wie sie sagt. | |
| 25 Oct 2023 | |
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| Anna Kücking | |
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