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# taz.de -- Ambulante Pflegedienste: Schutzlos gegen Gewalt
> Gewalt gegen Pflegebedürftige nimmt seit Jahren zu.
> Patientenschützer fordern mehr Kontrollen, Gewerkschaften einen
> besseren Personalschlüssel.
Bild: 185.000 Pflegebedürftige gibt es in Berlin, 75 Prozent wohnen zu Hause
Berlin taz | Für Angehörige ist es eine Horrorvorstellung: Der
Pflegedienst, dem sie das Wohlergehen ihrer geliebten Menschen anvertraut
haben, versorgt diese nicht richtig, sodass diese leiden oder gar sterben.
So geschehen in Lichtenberg, wo zwischen 2017 und 2023 insgesamt 13
pflegebedürftige Menschen in zwei Senior*innenwohnheimen zu Schaden
gekommen sein sollen.
Pflegekräfte sollen ihnen die falschen Medikamente verabreicht oder diese
eigenmächtig abgesetzt haben, Pflegebedürftige sollen sich wegen
fehlerhafter Lagerung wund gelegen haben und zwei Frauen aufgrund
unsachgemäßer Pflege sogar verstorben sein. So sollen die Mitarbeitenden im
Falle einer 75-Jährigen mit verstopfter Luftröhre nicht adäquat reagiert
haben.
Die Berliner Staatsanwaltschaft ermittelt derzeit gegen sieben Angestellte
eines ambulanten Pflegedienstes wegen fahrlässiger Tötung, gefährlicher
Körperverletzung und Misshandlung von Schutzbefohlenen. Um welches
Unternehmen es sich handelt, will die Staatsanwaltschaft mit Verweis auf
die laufenden Ermittlungen nicht sagen.
Aufmerksam sei man auf die Fälle im Rahmen von Kontrollbesuchen in den
Wohnanlagen geworden, so ein Sprecher auf taz-Anfrage. Neben des
Verdachts des Abrechnungsbetrugs seien dabei auch Missstände in der
Versorgung der Bewohner*innen festgestellt worden, woraufhin das
Bezirksamt Anzeige erstattete.
## Kaum routinemäßige Kontrollen
Senior*innenwohnhäuser sowie verschiedene Formen von Betreutem Wohnen
unterliegen im Gegensatz zu Pflegeeinrichtungen keiner besonderen
Regulierung oder Beaufsichtigung, wie die Senatsgesundheitsverwaltung auf
taz-Anfrage mitteilt.
„Es ist sehr wichtig, sich vor der Entscheidung für eine bestimmte Wohn-
und Pflegesituation gut zu informieren“, so Sprecherin Sarah Oswald.
Allgemein leisteten sowohl Pflegeheime als auch Pflegedienste jedoch „eine
gute und verlässliche Arbeit“. „Wenn gesetzliche Vorgaben an die
Qualifikation von Beschäftigten oder an die Qualität der Pflege nicht
eingehalten werden, dann sind das ernst zu nehmende Mängel und werden auch
als solche geahndet.“
Nur müssen Mängel erst einmal festgestellt werden. So werden ambulante
Pflegedienste lediglich einmal im Jahr routinemäßig kontrolliert – und das
auch nur in ihren Büroräumen. Bei stationären Einrichtungen finden zweimal
im Jahr Kontrollen statt, hinzu kommen anlassbezogene Prüfungen.
Dafür [1][kosten stationäre Einrichtungen] auch sehr viel mehr: Während
ambulante Pflegedienste auch ohne Zuzahlung der Angehörigen auskommen,
kostet ein Platz im Pflegeheim mindestens 3.000 Euro im Monat – für viele
ist das nicht zu stemmen.
## Eigene Ermittlungsgruppe bei Staatsanwaltschaft
„Ambulante Pflegedienste werden nur unzureichend vom Medizinischen Dienst
kontrolliert“, kritisiert die Deutsche Stiftung Patientenschutz. „Deshalb
ist es auch nicht verwunderlich, dass mögliche kriminelle Machenschaften
hier so spät auffallen“, so Vorstand Eugen Brysch zur taz.
Politik und Behörden müssten hier mehr Ermittlungsdruck aufbauen. Brysch
fordert flächendeckend Schwerpunkt-Staatsanwaltschaften für alle Delikte in
Pflege und Medizin. Außerdem brauche es kommunale Senior*innenenämter
ähnlich wie Jugendämter, die im Verdachtsfall eingreifen können. „Die
Schwächsten in der Gesellschaft müssen geschützt werden.“
Obwohl die Misshandlung von Pflegebedürftigen seit Jahren zunimmt, haben
nur drei Bundesländer Schwerpunkt-Staatsanwaltschaften, neben Bayern und
Brandenburg auch Berlin. Seit 2019 gibt es die Ermittlungsgruppe „Pflege
als Risiko“ (PaRis). Ziel ist, dass sich die Strafverfolgungsbehörden mit
allen relevanten Akteur:innen, die am Schutz von stationär und häuslich
gepflegten Menschen beteiligt sind, vernetzen und austauschen.
Seit Februar 2022 haben Amts- und Staatsanwaltschaft rund 190 Verfahren
erfasst, davon 118 im häuslichen sowie 70 im stationären Bereich, also in
Krankenhäusern, Senior*innen- und Pflegeheimen. Von den 118 Verfahren im
häuslichen Bereich wurden bislang erst vier Anklagen erhoben. Eine endete
mit einem Freispruch, eine andere mit einer Geldstrafe für einen
Mitarbeiter eines Pflegedienstes, bei den anderen zwei hat die
Hauptverhandlung noch nicht stattgefunden. In 37 Verfahren dauern die
Ermittlungen noch an, alle anderen wurden eingestellt.
## „Lieber schlecht versorgen als gar nicht“
Gewalt gegen pflegebedürftige Menschen ist oft auch ein Ausdruck von
Hilflosigkeit oder Überforderung. „Es hat viel damit zu tun, wie viel
Personal überhaupt da ist und wie qualifiziert es ist“, sagt Gisela
Neunhöffer, bei der Gewerkschaft Verdi zuständig für Altenpflege in Berlin.
Das habe Einfluss darauf, wie adäquat die Pflegekräfte in kritischen
Situationen reagieren können. [2][Der Pflegenotstand] wirke sich daher für
alle Beteiligten negativ aus.
„Insgesamt haben wir in der Altenpflege einen Teufelskreis aus schlechten
Arbeitsbedingungen und zu wenig Personal“, sagt Neunhöffer. „Es gib eine
enorme Ermüdung des Pflegepersonals, die können einfach nicht mehr.“ Verdi
fordert daher einen „angemessenen Personalschlüssel“. Was das heißt, wird
je nach Bundesland unterschiedlich interpretiert.
Für Berlin fordert Neunhöffer einen deutlichen Personalaufwuchs – und dass
der Personalschlüssel kontrolliert wird. „Wenn nicht, muss das Konsequenzen
haben“, so die Gewerkschafterin. Die Behörden hätten dafür jedoch wenig
Kapazitäten. „Da wird auch nicht so genau hingeschaut nach dem Motto:
Lieber schlecht versorgen als gar nicht.“
## Die meisten werden Zuhause gepflegt
Dabei wird das Problem angesichts der immer älter werdenden Gesellschaft
noch größer. Laut Statistischem Bundesamt gibt es in Deutschland 5
Millionen Menschen, die gepflegt werden, vier Fünftel im häuslichen
Bereich. Als pflegebedürftig gilt, wer gesundheitlich bedingt in seiner
Selbstständigkeit oder anderen Fähigkeiten beeinträchtigt ist.
In Berlin gibt es laut Senatsverwaltung rund 185.000 Pflegebedürftige.
Davon werden 15 Prozent in einer Einrichtung vollstationärer Pflege betreut
und rund 75 Prozent zu Hause. Davon wiederum gut die Hälfte ausschließlich
durch Angehörige und ein knappes Viertel mit Unterstützung durch ambulante
Pflege- und Betreuungsdienste. Mehr als jede*r Zehnte hat nur eine geringe
Beeinträchtigung der Selbstständigkeit und ist daher nicht auf die Pflege
durch Angehörige oder einen professionellen Pflegedienst angewiesen.
Mara Rick ist Projektleiterin der Berliner Beratungsstelle „Pflege in Not“
der Diakonie. Hier können sich Pflegebedürftige und ihre Angehörigen Hilfe
bei Überforderung, Konflikt- und Gewaltsituationen holen. Fälle von
mangelnder Versorgung wie in dem Senior*innenwohnheim in Lichtenberg
gebe es immer wieder, sagt sie. Auch [3][Bereicherung auf Kosten der
Pflegebedürftigen] komme vor. Dies seien jedoch schwarze Schafe, die
Mehrheit der privaten Pflegedienste leisteten tolle Arbeit, sagt Rick.
Zudem passiere Gewalt in beide Richtungen. „Das Problem bei der Pflege zu
Hause ist, dass sie hinter verschlossenen Türen stattfindet.“
Gewaltausübung sei da schwer zweifelsfrei nachzuweisen. Die
Pfleger*innen wüssten zudem oft nicht, was sie hinter der Tür erwartet.
Das kann ein medizinischer Notfall sein oder auch ein Mensch mit
Suchterkrankung, der aggressiv reagiert. Darauf adäquat zu reagieren sei
schwierig, insbesondere für nicht-geschulte Menschen wie Angehörige, die ja
den Großteil der Pflege übernehmen.
## Zeitmangel der Pflegenden großes Problem
Mitarbeiter*innen von mobilen Pflegediensten hätten zudem oft wenig
Zeit, was die Situation zusätzlich erschweren würde. „Stellen Sie sich vor,
Sie kommen in ein Zimmer, haben nur 15 Minuten für die Körperpflege und die
Person schläft noch. Das ist für alle Betroffenen schwierig.“ Solche
Situationen könnten dann leicht eskalieren.
Der Zeitmangel rühre vor allem daher, dass ambulante Pflegedienste im
Gegensatz zu stationären Pflegeheimen nach Leistungen bezahlt werden – und
nicht nach Bedarf, also der Zeit, die sie tatsächlich benötigen. Wenn zum
Beispiel vertraglich nur eine kleine Wäsche à 10 Minuten vereinbart ist,
die zu pflegende Person aber aufgrund von Inkontinenz eine intensivere
Reinigung benötigt, wird das von der Pflegeversicherung nicht übernommen.
Da die meisten Pfleger*innen es jedoch nicht übers Herz brächten, die
Menschen im Stich zu lassen, ginge das auf ihre Kappe. „Die Mitarbeiter in
ambulanten Pflegediensten arbeiten permanent gegen die Uhr“, sagt Mara
Rick.
Eine flexiblere Lösung wäre aber vor allem eins: sehr viel teurer. Dabei
sind die Kosten für die Angehörigen bereits jetzt kaum zu stemmen. Durch
das [4][Tariftreuegesetz in der Pflege], das im September 2022 in Kraft
getreten ist und laut dem alle Beschäftigten nach Tariflohn bezahlt werden
müssen, seien die Kosten massiv gestiegen – die Leistungen der
Pflegeversicherung allerdings nicht in gleichem Maße. Leidtragende sind die
Pflegebedürftigen und die Pfleger*innen.
Höchste Zeit also, den Pflegenotstand aktiv zu bekämpfen, findet
Gewerkschafterin Gisela Neunhöffer. „Es herrscht das Gefühl, dass der
Gesellschaft die Menschen egal sind“, sagt sie. „Das befördert dann auch
unethisches Verhalten.“
29 Nov 2023
## LINKS
[1] /Steigende-Pflegekosten/!5948368
[2] /Protest-der-Pflegerinnen/!5800613
[3] /Kommentar-Pflege-und-Korruption/!5061322
[4] /Tarifvertraege-fuer-Pflegekraefte/!5875201
## AUTOREN
Marie Frank
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