# taz.de -- Pflegenotstand in Deutschland: Die große Kränkung | |
> In der Pflege erleben wir die Grenzen der Solidarität im Sozialstaat. Das | |
> Pflegerisiko wird individualisiert – wer betroffen ist, muss allein | |
> klarkommen. | |
Bild: Viele von uns werden sich im Alter am Rollator durch die Gegend schieben | |
Die Überschriften sagen schon einiges: „Pflege-Reform schrumpft Löhne und | |
Renten“, titelte die Zeitung B. Z., und die Bild warnte: „Lauterbachs | |
Pflegeplan: So schrumpft IHR Gehalt ab Juli“. Die Titel bezogen sich auf | |
das kürzlich verabschiedete sogenannte [1][Pflegeunterstützungs- und | |
-entlastungsgesetz (PUEG).] Damit werden die Beiträge zur | |
Pflegeversicherung erhöht, um ein paar Verbesserungen zu finanzieren und | |
dem steigenden Finanzbedarf in der Pflege Rechnung zu tragen. | |
Die Beitragserhöhung beträgt 0,35 Prozentpunkte vom Bruttolohn, gestaffelt | |
nach der Kinderzahl, beziehungweise 0,6 Prozentpunkte mehr für Kinderlose. | |
Wobei Arbeitnehmer und Arbeitgeber davon jeweils die Hälfte zahlen. | |
Dass solche Erhöhungen schon den öffentlichen Unmut anstacheln, zeigt, wie | |
es um die Pflege steht: Die solidarische Absicherung des Pflegerisikos | |
kippt. | |
Die Pflege entwickelt sich in einer Gesellschaft der Langlebigen zum | |
schwarzen Loch im Sozialstaat. Es gibt von der Sozialversicherung oder vom | |
Staat immer [2][zu wenig Geld für die Betroffenen und die Pflegekräfte]. | |
Die Erhöhungen für Pflegeleistungen um 5 Prozent im ersten und 4,5 Prozent | |
im zweiten Jahr durch das PUEG, nach vielen Jahren der Stagnation, decken | |
nicht mal die Inflation ab. Aber die Einzahlungsbereitschaft der | |
Bürger:innen für die Pflegekasse ist eben auch sehr begrenzt und die | |
Arbeitgeber:innen klagen über die steigenden | |
Sozialversicherungsbeiträge. Würde von den Steuerzahler:innen auch | |
noch eine Art „Pflege-Soli“ eingefordert, wäre das Gejammer groß. | |
Stattdessen wurde das Pflegerisiko schon in den letzten Jahren still und | |
leise zunehmend privatisiert. Die [3][Eigenanteile beim | |
Pflegeheimaufenthalt] liegen inzwischen im Schnitt bei 2.400 Euro im Monat. | |
Wer die ambulanten Dienste der Sozialstationen in Anspruch nimmt, muss | |
ebenfalls mehr aus eigener Tasche zuzahlen. Von | |
Patientenschutzorganisationen, wie der Biva, hört man, dass es in den | |
Pflegehaushalten zu Unterversorgungen kommt. Das liegt am Personalmangel | |
bei den ambulanten Diensten, aber eben auch am fehlenden Geld der | |
Betroffenen für die Eigenanteile. Sie wollen im Alter nicht zum Sozialamt | |
gehen, um dort „Hilfe zur Pflege“ zu beantragen. | |
## JedeR dritte 80- bis 85-jährige wird pflegebedürftig | |
In den sozialen Netzwerken der Pflegekräfte liest man Debatten, ob und wie | |
die sogenannte „Doppel Inko“, also das hautschädigende Übereinanderziehen | |
von zwei Windeln bei Inkontinenz, in Ordnung ist, wenn es der Hochbetagte | |
selbst so wünscht, um Anfahrten und Kosten für die Pflegedienste zu sparen. | |
Das menschenwürdige „Ausscheidungsmanagement“ (heißt wirklich so) ist eine | |
der größten Herausforderungen für den Sozialstaat. | |
Dabei kann es jeden treffen. JedeR dritte 80- bis 85-Jährige wird | |
pflegebedürftig, jeder Siebte in dieser Altersgruppe wird dement. Wir haben | |
nicht die lebenslange Kontrolle über Körper und Verstand. Diese Kränkung | |
muss man akzeptieren. | |
Angesichts der Pflegemisere kann man natürlich versuchen, Schuldige zu | |
benennen: Die Politik ist schuld, der Gesundheitsminister, der | |
Finanzminister, die Pflegeheimbetreiber! Diese Schuldzuweisungen mögen zum | |
Teil ihre Berechtigung haben, aber sie lösen das Problem nicht. In einer | |
Gesellschaft der Langlebigen ist das Thema Pflege zu groß, um es mal eben | |
mit einer Reform bewältigen zu können. Demografisch bedingt gibt es mehr | |
Pflegebedürftige und weniger Pflegekräfte, das verschärft den Mangel. | |
Wir werden mit Unzulänglichkeiten, mit einem gewissen Mangel leben müssen, | |
wir werden mehr improvisieren und uns von Regeln verabschieden müssen. In | |
den Heimen zeichnet sich ab, dass man mehr mit Hilfskräften arbeitet. Mehr | |
Assistenzkräfte in Heimen schlägt auch die sogenannte [4][Rothgang-Studie] | |
vor, Taktgeber für die künftige Personalbemessung. Einige Pflegehilfskräfte | |
werden vielleicht nicht besonders gut Deutsch sprechen können, man wird | |
deren Sprachunterricht mehr auf den konkreten Bedarf in der Alltagspflege | |
ausrichten müssen. | |
Pflegebedürftige aus der Mittelschicht werden mehr Geld von ihrem Vermögen, | |
von ihren Immobilien für die Pflege aufwenden müssen, auch wenn das neue | |
Pflegegesetz die Zuschüsse zu Heimaufenthalten aus der Sozialkasse etwas | |
verbessert. | |
In den Haushalten wird die Pflege individueller gestaltet werden. Manche | |
Babyboomer:innen können ein Lied davon singen, wie die Betreuung für | |
die bedürftigen Eltern zusammengestückelt wird aus Hilfe durch die Kinder, | |
Schwarzarbeit, womöglich halblegaler osteuropäischer Pflegehilfskraft und | |
dem Personal der Sozialstationen. | |
Mit dem neuen Pflegegesetz wurden die Budgets für die Kurzzeit- und die | |
sogenannte [5][Verhinderungspflege] zum sogenannten Entlastungsbudget in | |
Höhe von jährlich 3.539 Euro zusammengelegt. Man kann damit die Betreuung | |
durch Verwandte, Nachbarn oder Bekannte bezahlen, die keine professionelle | |
Vorbildung haben. Solche flexiblen Budgets müsste die Pflegekasse ausbauen. | |
Klar ist aber auch: Mittel- und langfristig sind höhere | |
Pflegeversicherungsbeiträge und auch Steuermittel erforderlich, wenn man | |
eine kollektive Absicherung gewährleisten will. Den Mut, für die Pflege von | |
allen mehr Geld zu fordern, wird die [6][Ampelregierung in dieser | |
Legislaturperiode] aber wohl nicht mehr haben, auch angesichts der anderen | |
Finanzbelastungen. | |
Ein großer Teil von uns wird sich also im Alter, ausgestattet mit „Inko“ | |
und etwas tüddelig, am Rollator durch die Gegend schieben und dabei | |
versuchen, noch etwas Lebensfreude zu bewahren. Unser größter Mut ist | |
vielleicht gar nicht in jüngeren Jahren, sondern am Lebensende | |
erforderlich. Pflege ist eine der aufwendigsten Dienstleistungen und kaum | |
automatisierbar. So betrachtet, wären etwa 20 oder 30 Euro mehr an | |
monatlichen Beiträgen oder Steuern doch eigentlich gar nicht so viel. | |
6 Jun 2023 | |
## LINKS | |
[1] https://www.bundesgesundheitsministerium.de/ministerium/gesetze-und-verordn… | |
[2] /Gesundheitsministerium-unter-Druck/!5915904 | |
[3] https://www.vdek.com/LVen/BRE/Presse/Pressemitteilungen/2023/pflegeheim-eig… | |
[4] https://www.bpa.de/fileadmin/user_upload/MAIN-bilder/SH/testordner/01-22_11… | |
[5] /Umgang-mit-Kindern-mit-Behinderung/!5925365 | |
[6] /Reform-der-Pflegeversicherung/!5937015 | |
## AUTOREN | |
Barbara Dribbusch | |
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