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# taz.de -- Umgang mit Kindern mit Behinderung: Nichts als Märchen
> Im Koalitionsvertrag kommen sie zwar endlich vor. Doch pflegende Eltern
> und ihre Kinder sind von der Politik schändlich vernachlässigt.
Bild: Ein eigenes Kind zu pflegen, ist schwer genug. Der Staat sollte unterstü…
Es gibt fünf Millionen Menschen mit Pflegebedarf in Deutschland. Blickt man
in offizielle Pflegebroschüren, könnte man meinen, dass es sich dabei
ausschließlich um ältere Menschen handelt. Doch circa 3 Prozent von ihnen
sind minderjährig. Diese Kinder und Jugendlichen werden überwiegend zu
Hause gepflegt. Sie leben mit ihren Familien in besonders belasteten,
oftmals prekären Verhältnissen. Das ist längst bekannt und durch Studien
wie [1][die des Kindernetzwerks] aus dem Jahr 2014 belegt. Dennoch werden
pflegende Eltern seit Jahrzehnten übergangen. Weder die Familien- noch die
Pflegepolitik hat sie auf dem Schirm.
Ein Aha-Moment war die Veröffentlichung des Koalitionsvertrags im November
2021. Im Abschnitt zur häuslichen Pflege wurden tatsächlich Familien von
Kindern mit Behinderungen erwähnt. Ein absolutes Novum. Das weckte Hoffnung
auf Veränderungen.
In den vergangenen Jahren haben sich immer mehr pflegende Familien
vernetzt, auch über Social Media. Es gab mehrere erfolgreiche
Petitionen, etwa „Stoppt die Blockade der Krankenkassen“, die sich gegen
mutwillige Hürden in der Hilfsmittelversorgung stellt. Hier geht es um
Essenzielles wie Rollstühle, Laufhilfen oder Geräte zur Kommunikation.
Obwohl diese Hilfsmittel von Fachärzt:innen verordnet werden, lehnen
viele Krankenkassen sie zunächst einmal ab. Dann folgt meist ein
langwieriges Widerspruchsverfahren. Das initiierende Eltern- und Ärztepaar
Lechleutner sammelte über 55.000 Unterschriften. Ein halbes Jahr später
fand sich die Formulierung, dass die Hilfsmittelversorgung ab sofort
unbürokratischer gestaltet und digitalisiert werden soll, als ein gesetztes
Ziel der Ampel.
Aber das waren offensichtlich leere Versprechungen. Spürbare Konsequenzen
gab es bisher keine. Auch das persönliche Budget – eine Geldleistung für
Menschen mit Behinderung oder chronischer Erkrankung, mit der diese
Assistent:innen und Fachkräfte selbst bezahlen können – sollte fortan
leichter gewährt werden. Doch die Antragstellung ist auch heute noch ein
unglaublicher Hürdenlauf. Inklusion funktioniert in Deutschland auch 2023
nur mit guter Rechtsschutzversicherung oder dickem Geldbeutel.
Wichtig für pflegende Familien wäre Entlastung in der häuslichen Pflege.
Denn diese Care-Arbeit ist [2][ein zehrender Knochenjob] nicht nur in
stationären Einrichtungen, sondern vor allem zu Hause, wo 99 Prozent der
minderjährigen Pflegebedürftigen versorgt werden. Viele Mütter und Väter
pflegen und betreuen ihre Kinder rund um die Uhr, die meisten ohne
pflegerische Unterstützung. Der frühere Gesundheitsminister Jens Spahn
hatte mit seiner Pflegereform 2021 das Thema angekratzt. Dabei bediente er
sich zwar des Begriffs Entlastungsbudget – doch der Inhalt fehlte. Das
Konzept war nichts als ein verdecktes Streichkonzert. Der Gesamtbetrag des
neuen Budgets war letztlich geringer als die darunter subsumierten
Einzelbeträge. Die Verhinderungspflege – also eine kurzzeitige Vertretung
der pflegenden Person –, die das meistgenutzte Hilfsangebot für pflegende
Familien darstellt, sollte reduziert werden. Zugleich sollte die Summe für
stationäre Kurzzeitpflege erhöht werden. Deren Nutzung wurde zudem zur
Bedingung für die Verhinderungspflege-Leistung. Allerdings bedeutet
Kurzzeitpflege die Kürzung des Pflegegelds. Das ist eine verdeckte
Refinanzierung auf Kosten der pflegenden Angehörigen. Zudem gibt es viel zu
wenig Angebote zur schnell wachsenden Nachfrage. Im U18-Bereich besteht
seit Jahren vielerorts extremer Mangel. Wer also keinen Kurzzeitpflegeplatz
findet, könnte dann nicht einmal die volle Verhinderungspflege nutzen. Eine
Mogelpackung, die einen lauten Aufschrei und eine weitere
Unterschriftenaktion zur Folge hatte.
Spahn vertagte das Ganze dann einfach – auf unbestimmte Zeit. Die
Coronapandemie diente als willkommene Ausrede. Doch die Ampelregierung
verspricht nun, mehr Entlastungsstrukturen zu schaffen und einen Ausbau der
Kurzzeitpflegeeinrichtungen zu forcieren. Für viele pflegende Familien sind
sie eine unverzichtbare Unterstützung, die oft für eigene
Gesundheitsfürsorge, etwa lange aufgeschobene OPs, benötigt wird. Doch
tatsächlich passiert das Gegenteil: ein Ab- statt eines Ausbaus. Die
Ökonomisierung des Gesundheitswesens macht auch vor der Pflege keinen Halt.
Zahlreiche Einrichtungen werden geschlossen und Projekte, etwa eine
Kurzeitpflege für Minderjährige in Esslingen, abgesagt, da zu teuer.
Weitere Angebote schließen wegen neuer Auflagen den Kinderbereich.
Pflegende Eltern fühlen sich veräppelt.
Während seit Herbst 2022 Fachkräfte der ambulanten Pflege endlich auch
Tariflohn erhalten, wurde das Pflegegeld seit 2017 nicht mehr erhöht. Fakt
ist, dass pflegende Familien genauso wie Menschen mit Behinderung stark von
Armut bedroht sind – und das nicht erst im Alter, was der Paritätische
Teilhabebericht von 2021 belegt.
Was dazu im Koalitionsvertrag steht: Es werde ab 2022 eine Dynamisierung
des Pflegegelds erfolgen. Erneut eine hohle Phrase, denn aus der neusten
Pflegereform Karl Lauterbachs vom April 2023 ist dieser Passus ebenfalls
verschwunden. [3][Die Erhöhung wurde vertagt auf 2024, um magere 5 Prozent
soll das Pflegegeld dann angehoben werden.] Zahlreiche der überwiegend
weiblichen Pflegenden leisten inzwischen auch „Sandwichpflege“, da sie
neben ihren Kindern ältere Verwandte versorgen.
Ein kleiner Etappensieg ist, dass das Intensivpflege und
Rehabilitationsgesetz (IPReG), das von Spahn ins Leben gerufen wurde,
inzwischen nachgebessert wurde. Betroffene und Angehörige hatten sich
zusammengetan mit der Konsequenz, dass die überarbeitete Version nun
weniger ableistisch ist. Dennoch bleibt das IPReG ein Bürokratiemonster,
das allen das Leben unnötig schwer macht. Auch den Ärzt:innen und
unterbesetzten Stationen wird noch mehr aufgebürdet. Allein zur Ausstellung
der neuen Verordnungen der AKI – der ambulanten außerklinischen
Intensivpflege – müssen spezialisierte Fachärzt:innen gefunden werden,
die dazu bevollmächtigt sind. Jede:r Außenstehende müsste sich ausmalen
können, was es bedeutet, wenn man neben der Pflege einer derart
versorgungsintensiven Person noch wochenlang in Warteschleifen hängt. Wird
ambulante Intensivpflege genehmigt, sind die beauftragten Pflegedienste
meist unterbesetzt. Sie begleiten das Kind oft nur eine Schicht, auch wenn
24-Stunden-Pflege verordnet ist.
Die Familien sind oft auf sich gestellt, lernen nahezu alle medizinischen
Handgriffe. Sie überwachen und intervenieren übermüdet, pflegen weit über
ihre Reserven hinaus. Eine Tages- und Nachtpflege würde helfen, doch die
gibt es nur im Erwachsenenbereich. Von den raren U18-Einrichtungen nehmen
die wenigsten Kinder mit Pflegegrad 4 oder 5 auf. Bekommen diese doch einen
Platz im Kinderhospiz oder zur Kurzzeit, wird unmittelbar das Pflegegeld
gekürzt. Eine unfassbare Frechheit, in keinem anderen Beruf gibt es
unbezahlten Urlaub, der sogar noch finanzielle Nachteile mit sich bringt.
Die Familien müssen es sich leisten können, Entlastung anzunehmen. Das ist
unwürdig und steht in keiner Relation zu dem, was pflegende Eltern
tagtäglich leisten – oft lebenslang.
Was pflegende Eltern daher dringend benötigen, ist finanzielle und soziale
Absicherung. Das ginge entweder durch eine Entlohnung im Sinne eines
Care-Gehalts oder durch eine Anstellung als Assistent des Kindes. Denn
genau diese Tätigkeiten, die sonst im Rahmen des persönlichen Budgets der
erkrankten Person vergütet werden, leisten Eltern gratis, es gibt höchstens
Rentenpunkte. Die Pflegekassen sparen so jeden Monat bares Geld auf Kosten
der Eltern.
Wer ohne Feierabend pflegt, ist nicht arbeitslos, sondern leistet wichtige
Care-Arbeit, die die Gesellschaft im Kern zusammenhält. Regelungen für den
Arbeitsmarkt, die die Pflege mitdenken, müssen endlich geschaffen werden,
damit eine Berufstätigkeit parallel möglich wird. Auch ein verschärfter
Kündigungsschutz, ähnlich dem für Menschen mit Behinderung, muss eingeführt
werden. Pflegende Familien brauchen zudem mehr Kinderkrankentage. Und es
fehlen staatliche Kredite für pflegende Angehörige. Die zahlreichen
Anschaffungen, etwa ein rollstuhltaugliches Auto, Aufzüge oder
barrierefreie Umbauten, müssen meist selbst finanziert werden. Mit den
maximal 4.000 Euro pro Maßnahme von der Pflegekasse kommt man nicht weit,
wenn ein günstiger Plattformlift 38.000 Euro kostet. Die Kostenübernahme zu
erstreiten erfordert gute Anwält:innen und Zeit. Doch viele dieser Kinder
sind lebenszeitlimitierend erkrankt, die Eltern können häufig nicht mehr
die Kraft und Nerven für jahrelange Rechtsstreite aufbringen.
Unzählige Alleinpflegende leben bereits am Existenzminium, viele werden
psychisch krank. Doch die Pflegebevollmächtigte Claudia Moll hatte im
Gespräch mit mehreren pflegenden Eltern nichts anzumerken – außer dass sie
den Missbrauch von Entlastungsgeldern befürchte. Die Schieflage könnte
nicht größer sein.
Ähnlich wie beim Elterngeld bekommen die, die am wenigsten haben, auch die
geringste Unterstützung. Eine [4][solide Kindergrundsicherung] wäre gerade
für pflegende Familien ebenfalls unglaublich wichtig. Aber immerhin wird
von unserer Regierung nun [5][Cannabis legalisiert]. Gut für
Schmerzpatient:innen. Und pflegende Eltern? Die können sich künftig
zudröhnen und von Zeiten träumen, in denen die Versprechen der Koalition
als tatsächliche Agenda verfolgt werden, statt einer Märchensammlung zu
gleichen.
16 Apr 2023
## LINKS
[1] https://www.bvktp.de/media/aok-bv_33selbsthilfestudie_web.pdf
[2] /Pflegenotstand-in-der-Praxis/!5574388
[3] /Gesundheitsministerium-unter-Druck/!5915904
[4] /Kinderarmut-in-Deutschland/!5925664
[5] /Legalisierung-von-Cannabis/!5925361
## AUTOREN
Verena Niethammer
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