Introduction
Introduction Statistics Contact Development Disclaimer Help
# taz.de -- Einstufung des Pflegegrads: Hindernis Bürokratie
> Wer Angehörige versorgt, kann finanzielle und personelle Unterstützungen
> beantragen. Oft fehlt dazu aber unter der Belastung Wissen und Kraft.
Bild: Wenn die Eltern oder Partner plötzlich zum Pflegefall werden, muss viel …
Eine zu niedrige oder gar keine Einstufung, Widerspruch, Klage vor dem
Sozialgericht – wenn der Medizinische Dienst (MD) den Pflegegrad von
Menschen einstuft, kommt es häufig zu Problemen für die Betroffenen. Die
Konsequenzen tragen nicht nur die Personen mit Pflegebedarf, sondern auch
die Pflegepersonen, also jene, die unbezahlte Sorge- und Pflegearbeit
leisten. Denn ist eine Person mit Pflegebedarf nicht mehr in der Lage, sich
selbst zu organisieren, übernehmen dies meist Nahestehende oder Angehörige.
Dabei können sie zwar Unterstützung bekommen. Die Schwierigkeit liegt für
viele aber darin, den längeren Atem zu haben, die Kraft, [1][diese Hilfen
einzufordern] – und notwendige Informationen zu sammeln.
Sich selbstständig und aktiv zu informieren, wenn man gerade erst dabei ist
zu realisieren, was mit dem eigenen Kind passiert – für das Paar Anja* und
Flo* war das kaum zu bewältigen. „Das ging alles so schnell, sodass wir uns
nur irgendwann geschockt gefragt haben: Was passiert mit uns?“, sagt Anja.
Mittlerweile hat Emil, das 5-jährige Kind der beiden, den vierten
Chemoblock hinter sich, bald steht eine OP an. Da Emils Gesundheitszustand
schwankt, lebt die Familie auf dem Sprung: morgens gerade noch zu Hause,
abends vielleicht schon wieder auf Station.
Aktuell hofft die Familie auf die [2][Einstufung von Emils Pflegegrad], um
mindestens eine Haushaltshilfe bezahlen zu können. Der ausstehende Termin
mit dem MD bereitet der Mutter Sorgen: „Der Termin liegt genau vor Emils
OP, und gerade hat er ein Hoch. Ich habe Angst, dass er dann zu niedrig
eingestuft wird, sich sein Zustand nach der OP aber verschlechtert.“
Auch die möglichen Umstände der Pflegebegutachtung beunruhigen die Mutter.
Für gewöhnlich kommen dafür Pflegegutachter*innen des MD zu den*der
Versicherten nach Hause und prüfen anhand von Richtlinien, wie
selbstständig diese im Alltag agieren können.
Gilt es, die Pflegebedürftigkeit eines Kindes zu prüfen, würden diese mit
den Fähigkeiten von Gleichaltrigen verglichen, so der MD auf seiner
Webseite. Dort beschreibt er auch seine Funktion als sozialmedizinischer
Beratungs- und Begutachtungsdienst für die gesetzliche Kranken- und
Pflegeversicherung im gesetzlichen Auftrag. Er wird beispielsweise bei der
Begutachtung von Reha-Anträgen hinzugezogen, prüft Qualitätsvorgaben zum
Beispiel in Krankenhäusern und eben auch die Pflegebedürftigkeit von
Personen in der häuslichen Versorgung.
## Falsche Einstufung
„Ich habe ein Herz für alles, was mein Emil noch kann. Mich dann vor ihn zu
stellen und einer fremden Person aufzulisten, was er alles nicht mehr kann
– das zerreißt mich“, sagt Anja. Lieber würde sie sich mit dem oder der
Gutachter*in auf neutralem Boden treffen und berichten. „Manchmal denke
ich auch, das mit dem Pflegegrad einfach sein zu lassen“, sagt Anja. Mit
diesem Gefühl ist sie nicht allein: Auch anderen Pflegepersonen fehlt oft
die Kraft und die Zeit, sich das nötige Wissen im Internet
zusammenzusuchen, geschweige denn reguläre Beratungszeiten wahrzunehmen.
Hinzu kommt, dass manche Betroffene den Eindruck haben, falsch eingestuft
worden zu sein. Eine falsche Einstufung durch den MD kostet Pflegepersonen
Zeit und Energie. Davon berichtet auch Bianca*, deren Eltern 2021
abwechselnd im Krankenhaus waren: „In dieser Zeit habe ich angefangen, den
ganzen Papierkram zu übernehmen, was ich ein wenig bereue, weil das bis
heute noch sehr viel ist“, sagt sie.
Gemeinsam mit ihren Brüdern organisierte Bianca parallel zu ihrer
Erwerbstätigkeit die Pflege der Eltern, kümmerte sich um Vollmachten und
stellte für beide den Antrag auf einen Pflegegrad. „Mein Vater hat
Pflegegrad 1 bekommen. Meine Mutter keinen“, sagt Bianca. Sie empfand diese
Einstufung damals als unpassend und wandte sich daraufhin an die
gerichtlich zugelassene Rentenberaterin im Teilgebiet der
Pflegeversicherung, Karin Svete. Regelmäßig wird die Beraterin von
Pflegepersonen kontaktiert, weil die Anträge pflegebedürftiger Angehöriger
abgelehnt wurden oder sie die niedrige Einstufung des Pflegegrades
bemängeln.
Svete erlebt immer wieder, dass die Stimmen der anwesenden Pflegepersonen
beim Besuch vom MD nicht berücksichtigt werden: „Viele Pflegebedürftige
sagen zum Beispiel: Ich kann mich noch waschen. Und wenn dann die
Angehörigen die Aussage korrigieren, weil sie Hygiene halt doch jeden Tag
übernehmen müssen, gehen die Gutachter vom MD da nicht drauf ein.“
Stattdessen würden diese dann nur die Aussage der versicherten Person
notieren.
## Rücklauf der Fragebögen
Der MD widerspricht der Darstellung, dass Angehörige nicht miteinbezogen
werden, ausdrücklich. Zwar sei es so, dass die Gutachter*innen zunächst
versuchten, mit dem oder der Versicherten zu sprechen. Eine häufige
Abschlussfrage sei jedoch: Ist alles angesprochen worden oder wurde etwas
Wichtiges nicht erwähnt? Die Versichertenbefragung 2021 wurde von dem
Marktforschungsunternehmen M+M Management + Marketing Consulting GmbH
ausgewertet und zeichnet ein positives Bild: 86,7 Prozent der
pflegebedürftigen Menschen und deren Angehörigen, die befragt wurden, seien
mit den persönlichen Pflegegutachten durch den MD zufrieden, 4,1 Prozent
unzufrieden.
Der an ALS erkrankte Wolfgang* gehört zu den Unzufriedenen. Er wurde
bereits vor einigen Jahren eingestuft. Wolfgang wird nichtinvasiv beatmet
und unter anderem von seiner Partnerin Claudia* gepflegt, die auch Teil
seines Assistenzteams ist. Dieses kann er sich dank des sogenannten
Arbeitgebermodells selbst zusammenstellen, sodass Claudia keine
Berührungspunkte mit dem MD haben muss. Wolfgang erleichtert das: „Der
erste Herr vom MD hatte selbst einen Bruder mit ALS und hat mir daher
schnell den Pflegegrad 4 gegeben. Als es dann um die Höherstufung ging, war
eine unfreundliche und meiner Meinung nach inkompetente Dame da, die meinen
Antrag ablehnte.“ Wolfgang wehrte sich und legte mithilfe einer Fachkraft
eines Pflegestützpunktes Widerspruch ein – mit Erfolg.
Woher kommt die große Diskrepanz zwischen Befragung und persönlicher
Erfahrung? Erklären lässt sie sich vielleicht durch den überschaubaren
Rücklauf der Fragebögen der Versichertenbefragung 2021 mit 39,5 Prozent.
## Doppelbelastung der Angehörigen
Im Fall von Biancas Eltern sah Karin Svete Unstimmigkeiten in den Gutachten
sowie zweifelhafte Fragetechniken des MD. „Ich mache das jetzt genau 20
Jahre. Es ist auffällig, dass sich in der zweiten Jahreshälfte die
Widersprüche häufen. Ab jetzt geht’s wieder los und ich kriege einen nach
dem anderen rein“, sagt Svete. Der MD wertet laut eigenen Angaben die Daten
der Pflegegutachten nicht monatlich aus, sodass sich Svetes Vermutung nicht
objektiv prüfen lässt.
Zu einer Neueinstufung von Biancas Mutter kam es noch nicht. Ihr
Gesundheitszustand verschlechterte sich, sodass sie in Kurzzeitpflege gehen
musste. Damit fiel sie aus dem System. Denn der MD begutachtet für einen
Pflegegrad nur im häuslichen Umfeld. Für Bianca entsteht so damit aber erst
einmal keine Entlastung: Auch wenn die Mutter aktuell „gut aufgehoben“ sei,
bleibt die Vereinbarkeit von Pflege und Beruf für Pflegepersonen wie Bianca
eine Herausforderung.
Verschiedene Modelle der Pflegezeit sollen Arbeitnehmer*innen in ihrer
Doppelfunktion durch teilweise oder vollständige Befreiung beziehungsweise
Arbeitszeitreduktion entlasten. Unter bestimmten Voraussetzungen seien
pflegende Personen laut Verbraucherzentrale in der Renten-, Unfall- und
Arbeitslosenversicherung abgesichert – eine davon ist, dass die Person mit
Pflegebedarf mindestens Pflegegrad 2 hat.
Darüber hinaus bildet der Pflegegrad 2 mit eine Voraussetzung für die
Beantragung von Pflegegeld: Personen in einer Pflegesituation können so
entscheiden, wer sie pflegt, und Angehörige für ihre Tätigkeiten
entschädigen. Aktuell liegt das Pflegegeld zwischen 316 Euro (Pflegegrad 2)
und 901 Euro (Pflegegrad 5). „Das, was ich da bekommen würde, ist ein
Tropfen auf den heißen Stein im Vergleich zu dem, was hier täglich
anfällt“, sagt Claudia, die in ihrer Funktion als Assistentin
durchschnittlich dreimal die Woche 24 Stunden offiziell im Einsatz für
Wolfgang ist.
Wenn Kolleg*innen ausfielen, würde sie einspringen, das seien sogar
einmal sieben Tage am Stück gewesen. Das Ende einer Schicht bedeutet für
Claudia aber nicht Feierabend, sondern dass ihr Teilzeitjob anfängt oder
sie in ihre Rolle als Partnerin schlüpft – und jeglichen Schriftverkehr und
organisatorische Aufgaben für Wolfgang übernimmt. Von Institutionen wie dem
MD wünscht sie sich nicht monetäre Unterstützung, sondern praktische Hilfe:
„Ich als Pflegeperson brauche Dinge, dir mir konkret helfen, sei es
Ansprechpersonen oder sei es eine Unterstützung für die Bürokratie. So
klappert man alle möglichen Stellen nach Informationen ab, ohne sicher sein
zu können, ob sie stimmen.“
* Die vollständigen Namen sind der Redaktion bekannt
2 Sep 2022
## LINKS
[1] /Freibetrag-fuer-Pflege-von-Angehoerigen/!5626575
[2] /Pflege-von-Angehoerigen/!5633815
## AUTOREN
Stefanie Schweizer
## TAGS
Schwerpunkt Armut
Care-Arbeit
GNS
Pflege
Familie
Schwerpunkt Stadtland
USA
Pflegekräftemangel
Pflegekräftemangel
## ARTIKEL ZUM THEMA
Umgang mit Kindern mit Behinderung: Nichts als Märchen
Im Koalitionsvertrag kommen sie zwar endlich vor. Doch pflegende Eltern und
ihre Kinder sind von der Politik schändlich vernachlässigt.
Altenpflegerin über die letzten Dinge: „Man darf Demente nicht anlügen“
Constanze Westphal arbeitet in einem Altenheim, wo sie Ausgeliefertsein
erlebt und doch auch Glück. Ihre Zukunft sieht sie darin nicht.
Pflegende Jugendliche in den USA: Hausaufgaben auf dem Heim-Parkplatz
Maggie Ornstein pflegt seit 27 Jahren ihre Mutter – keine leichte Aufgabe.
In den USA gibt es keine staatliche Pflegeversicherung wie in Deutschland.
Personalmangel in Kliniken: Mehr Pflegekräfte – irgendwann
Die Bundesregierung will ermitteln, wie viele Pflegende in den Kliniken
fehlen. Mehr Personal soll aber womöglich erst 2025 eingestellt werden.
Pflege als Wissenschaft: Kümmern, lagern, hinterfragen
Pflege wird am Bremer Gesundheitscampus als Wissenschaft gelehrt. Verkopft
ist das nicht – das Studium ist radikal anwendungsorientiert.
You are viewing proxied material from taz.de. The copyright of proxied material belongs to its original authors. Any comments or complaints in relation to proxied material should be directed to the original authors of the content concerned. Please see the disclaimer for more details.