# taz.de -- Pflege als Wissenschaft: Kümmern, lagern, hinterfragen | |
> Pflege wird am Bremer Gesundheitscampus als Wissenschaft gelehrt. | |
> Verkopft ist das nicht – das Studium ist radikal anwendungsorientiert. | |
Bild: Der Praxisanteil im Pflegestudium ist groß, gearbeitet wird unter andere… | |
BREMEN taz | Eine Dusche: Hoher Einstieg, Brausekopf an Schlauch, Türen, | |
die sich nur halb öffnen lassen – normaler Badezimmerstandard. Trotzdem: | |
Diese Dusche ist ein Ort des Wissens. Studierende waschen hier ihre | |
Kommiliton*innen – denn wie das geht, ohne Schmerzen, Gefahren, | |
Grenzüberschreitungen und ohne selbst komplett nass zu werden, das will | |
gelernt sein von jenen, die Expert*innen der Pflege werden sollen. | |
An der Hochschule Bremen gibt es seit 2019 den Internationalen Studiengang | |
Pflege mit dem Anspruch, Theorie und Praxis zu vereinen; neben dem Bachelor | |
of Science gibt es nach acht Semestern auch die Anerkennung als | |
Pflegefachperson. | |
Der Gesundheitscampus am Brill umfasst dafür neben Hörsälen das | |
deutschlandweit einzigartige „Skills- und Simulationszentrum“ mit acht | |
Räumen, die möglichst realitätsnah verschiedene Pflegesituationen | |
simulieren: Ein Kreißsaal gehört dazu und eine Neonatologie, in der man | |
einem Babysimulator die Fontanelle fühlen und sich mit einem | |
High-Tech-Inkubator vertraut machen kann; eine Intensivstation ist | |
nachgebildet und ein Zimmer eines Altenheims; sogar eines, um die Übergabe | |
an die nächste Schicht nachzustellen. | |
Gearbeitet wird: mit Puppen, menschengroß und lebensschwer, mit | |
fast-wie-echten Adern und eklig-naturgetreuen Wunden. Gearbeitet wird: mit | |
Komiliton*innen, die Mutigeren lassen sich nicht nur duschen, sondern auch | |
Blut abnehmen. Gearbeitet wird: mit Schauspieler*innen, die | |
Pflegebedürftige darstellen, mal voller Schmerzen, mal dement, mal | |
redselig. | |
## International ist Pflege ein Studiengang | |
Doch wofür der Aufwand – war nicht die Anschauung in der Realität über | |
Jahrhunderte gut genug für die deutsche Pflegeausbildung? Eine auf der Hand | |
liegende Antwort hat eine Hebamme, die gerade im Skills- und | |
Simulationszentrum eine künstliche Fruchtblase aufpumpt. Ihre Studierenden | |
sollen später durch einen künstlichen Muttermund erspüren, wo der Kopf des | |
Babys liegt, wie viel Fruchtwasser vorhanden ist. „Gut, dass sie nicht | |
gleich an der Schwangeren üben müssen“, sagt sie. „Ehrlich gesagt waren d… | |
ja doch Versuche am Menschen.“ | |
Dazu kommt: Wer Pflege nur als praktische Anwendung von altem Wissen | |
versteht, vernachlässigt die Bedeutung neuer Erkenntnisse. Im | |
angelsächsischen Raum wird Pflege seit mehr als 100 Jahren wissenschaftlich | |
studiert – und erforscht. Gefährliche Irrglauben, wie der, dass „Föhnen u… | |
Kühlen“ Druckwunden verhindern könne, konnten so revidiert werden. | |
Der Bremer Studiengang ist deshalb international: Studierende müssen ein | |
Semester im Ausland verbringen, auch um zu sehen, dass ihr Zugang zur | |
Pflege nicht exotisch, sondern anderswo der Normalfall ist. Auch die Idee, | |
die akademische und die berufliche Bildung nicht zu trennen, stammt aus dem | |
Ausland. Die Praktiker*innen, die in den USA an den Betten stehen, sind | |
dort oft die gleichen, die auch in der Forschung die Disziplin | |
voranbringen. | |
## Neue Erkenntnisse haben es schwer | |
Gelingen soll so auch der [1][Transfer von neuem Wissen in die Praxis.] Der | |
hat in Deutschland bisher nur mäßig funktioniert. Zwar werden mittlerweile | |
alle paar Jahre neue Erkenntnisse bundesweit als Expertenstandards | |
festgeschrieben. „Aber wenn man genau hinschaut, werden sie in vielen | |
Einrichtungen nur angekreuzt, aber nicht umgesetzt“, so Claudia | |
Stolle-Wahl, Professorin des Studiengangs. | |
Neuere Forschungsergebnisse, die es noch nicht in die Standards geschafft | |
haben, haben es noch schwerer: Englischsprachige Studien verstehen, das | |
Relevante für den eigenen Berufsalltag herausfiltern, und dann auch noch | |
umsetzen, das braucht Vorbildung. | |
## Forschungsfragen aus der Praxis | |
Für ihre Credit Points schreiben die Studierenden deshalb schon jetzt keine | |
Klausuren; vielmehr suchen sie in der Literatur nach Antworten auf Fragen | |
aus der Praxis, die sie für Kooperationspartner aufbereiten: Wie kann die | |
Weglauftendenz von Demenzkranken vermindert werden? Und was ist der | |
[2][Stand der Forschung zu Pflege bei Long Covid?] | |
Und statt Hausarbeiten fürs Archiv zu schreiben, bekommen die Studis die | |
Chance, wissenschaftliche Fragestellungen für deutsche Pflegemagazine zu | |
erörtern. Einer der so entstandenen Artikel wurde schon veröffentlicht, ein | |
weiterer ist im Review. Bald werden die Pflegenden auch selbst zu | |
Forschenden: Die ersten Studierenden kommen jetzt ins siebte Semester; im | |
kommenden Jahr werden sie ihre Abschlussarbeiten schreiben – und die Pflege | |
Stück für Stück besser machen. | |
Für Studieninteressierte werden [3][online Infoabende angeboten:] Am 13. | |
Juli ab 17.30 Uhr und am 19. Juli ab 18 Uhr | |
10 Jul 2022 | |
## LINKS | |
[1] /Pflegekammer-Chefin-ueber-gute-Pflege/!5650038 | |
[2] /ExpertInnenrat-zu-Long-Covid/!5852172 | |
[3] https://www.hs-bremen.de/die-hsb/aktuelles/veranstaltung/pflege-studieren-n… | |
## AUTOREN | |
Lotta Drügemöller | |
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