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# taz.de -- Personalmangel in Deutschland: Neuland auf dem Arbeitsmarkt
> Fachkräfte und Hilfspersonal werden dringend gesucht. Deutschland muss
> bei Berufsabschlüssen flexibler werden, sagen Experten.
Bild: Reisefrust zum Ferienstart in NRW: Personalmangel an Flughäfen wie hier …
Berlin taz | Das neueste Horrorszenario waren die langen Schlangen an den
Schaltern der Flughäfen in Nordrhein-Westfalen am Wochenende:
Personalmangel! Tausende von Hilfskräften sollen nun schnell im Ausland,
etwa in der Türkei, angeworben werden, um zum Beispiel in der
Gepäckabfertigung zu helfen.
Bei den Sicherheitskontrollen der Fluggäste käme der Einsatz kurzfristig
eingereister Kräfte aus dem Ausland wegen der „nötigen Ausbildung und den
geltenden Sicherheitsstandards nicht in Betracht“, sagte ein Sprecher des
Bundesinnenministeriums am Montag. Auch wer in der Gepäckabfertigung
arbeite, müsse aber eine Sicherheitsüberprüfung durchlaufen, betonte der
Sprecher. Deutschkenntnisse des Personals scheinen für die
Gepäckabfertigung am Flughafen keine Rolle zu spielen.
Das Beispiel an den Flughäfen zeigt, was alles möglich ist, wenn keine
hiesigen Arbeitskräfte mehr vorhanden sind, um dringend notwendige
Dienstleistungen zu erbringen. Personalmangel findet sich inzwischen fast
überall. „Es gibt kaum ein Berufsfeld, wo nicht der Mangel an Kandidaten zu
spüren ist“, sagt Martin Heinen, Sprecher des Personaldienstleisters
Adecco, der taz, „man kann nicht mehr nur von einem Fachkräftemangel
sprechen, es ist ein Arbeitskräftemangel, es betrifft alle Levels“.
Marcus König, Oberbürgermeister von Nürnberg, berichtete kürzlich: „Die
Gastronomen erzählen mir: Wir finden keine Servicekräfte mehr. In Hotels in
Nürnberg werden 100, 200 Zimmer nicht vergeben, weil sie nicht
bewirtschaftet werden können, da die Arbeitskräfte dafür fehlen.“ König
sprach in Nürnberg auf einer Veranstaltung des IAB-Forschungsinstituts der
Bundesagentur für Arbeit zum Thema [1][„Deutschland im demografischen
Dilemma] - woher sollen die Arbeitskräfte kommen?“
## Demografie erhöht Personalmangel
Die Expert:innen machten auf der IAB-Veranstaltung mehrere Ursachen für
den Personalmangel aus: Zum einen hat man die Auswirkungen der Demografie,
der Geburtenrückgänge, vielerorts unterschätzt. Hinzu kommt ein Trend zu
höheren Schulabschlüssen, der dem Handwerk Probleme bereitet: Wer im Alter
von 17, 18 Jahren lieber das Abitur oder Fachabitur anstrebt, der geht
nicht als Azubi ins Handwerk, wo man von Anfang an eine anstrengende Woche
mit bis zu 40 Arbeits- und Lernstunden hat. Hinzu kommen die Auswirkungen
der Pandemie: Wer in der Gastronomie seinen Job verlor und woanders anfing,
kehrt jetzt nicht unbedingt wieder dahin zurück.
Wolfram Linke, Sprecher des Interessenverbands Deutscher
Zeitarbeitsunternehmen (IGZ), sagte der taz, dass etwa Beschäftigte, die
vorher im Gastronomiebereich tätig waren, während Corona „zur Post, zu
Lieferdiensten“ gewechselt seien. Viele studentische Jobber seien während
Corona in Verwaltungen gegangen, in Gesundheitsämter, dort wurde Personal
gesucht für die Dateneingabe.
Einige fingen in Impfzentren an, berichtet Heinen. Manche blieben dann in
Bürojobs etwa bei Trägern im Gesundheitsbereich, „wer vorher jahrelang in
der Gastronomie arbeitete, der merkt jetzt, eine Arbeit ohne
Wochenendschichten ist auch nicht schlecht“, so Heinen.
## Ohne Zuwanderung läuft nichts
Aber woher sollen nun die Arbeitskräfte kommen in den Branchen, die
händeringend suchen? Die Zahl der offenen Stellen erreichte im ersten
Quartal dieses Jahres mit 1,74 Millionen einen neuen [2][Rekordwert,]
meldete das IAB.
Nur mit einer jährlichen [3][Nettozuwanderung von 400.000 Personen] bliebe
das Arbeitskräfteangebot bis zum Jahre 2060 konstant, so das Institut.
Diese Zahl wird derzeit längst nicht erreicht. In einer IAB-Studie gingen
die Forscher:innen von einer Nettozuwanderung von 100.000 Personen,
einer steigenden Erwerbsquote der Frauen und der Älteren aus und kamen
dabei immer noch auf einen Rückgang der Erwerbspersonen um etwa ein Fünftel
bis zum Jahre 2060.
Frühere Hoffnungen, dass der Personalmangel weitgehend durch Arbeitskräfte
aus den EU- Nachbarländern behoben werden könnte, werden von den Experten
enttäuscht. „Die Einwanderung aus der EU geht dramatisch zurück“, sagte
Herbert Brücker, Migrationsexperte des IAB.
## Mehr kürzere Ausbildungen gefragt
Brücker und andere Integrationsexperten werben für eine erleichterte
Anerkennung von ausländischen Berufsabschlüssen, für mehr
berufsbegleitenden Deutschunterricht und für mehr Flexibilität bei der
Anwerbung von Arbeitskräften aus dem Ausland.
Bei den Zugewanderten gebe es relativ hohe Anteile von Menschen, die
[4][keine oder keine in Deutschland anerkannte Berufsausbildung] haben,
sagte Brücker. „Man muss darüber nachdenken, was wir Menschen, die keine
abgeschlossene Berufsausbildung im deutschen Sinne haben, für Angebote
machen. Es muss nicht immer das Richtige sein, dass wir dort zur Ausbildung
führen, es kann das Richtige sein, anzulernen“, so Brücker, der sich für
mehr „Teilqualifikationen“ aussprach, „da sind wir im Bereich des
Neulands“.
Unter „Teilqualifikationen“ können zum Beispiel mehrmonatige
Weiterbildungen zur LKW-Fahrer:in verstanden werden, zur
Sozialassistent:in, zur Kassierer:in an Computerkassen, zur
Pflegehelfer:in, zur sogenannten Elektrofachkraft für bestimmte
Anwendungen.
Wer solche Zertifikate hat, landet dann in der Berufsstatistik dennoch in
der Kategorie der „Helfertätigkeiten“, nicht jener der Fachkräfte. „Wir
beobachten, dass im Bereich der Helferberufe die Erwerbstätigkeit fast
doppelt so stark gewachsen ist wie bei den Fachkräften“ sagte Brücker.
Fragt sich, wie die Bezahlung und die Aufstiegschancen in diesen Bereichen
dann ausfallen.
## Zwei Protokolle von suchenden Chef:innen:
1. Die Personalchefin eines Bäckerbetriebs sucht Fachkräfte über Facebook
Stellenausschreibungen? Die veröffentlichen sie auf allen möglichen
Plattformen – sogar auf Facebook, um möglichst viele Menschen zu erreichen,
erklärt Katrin Exner. Als Personalchefin ist sie im Bäckereibetrieb Exner
für mehr als 240 Mitarbeitende verantwortlich.
Im Moment gibt es zehn freie Stellen in der Firma, sagt Exner und ergänzt:
„Wir sind eigentlich immer auf der Suche nach Angestellten.“ Hauptsächlich
suche sie nach Fachkräften, aber es gebe Plätze für Quereinsteiger:innen.
Der tägliche Betrieb lasse sich trotzdem noch gut bewältigen. Allerdings
stocke die Unternehmensentwicklung, weil einfach keine Kapazitäten dafür
vorhanden seien, erklärt sie.
Ein großer Teil der Bewerbungen, die sie über Facebook erreichen, seien
jedoch schwer zu bearbeiten: Es handele sich oft um Bewerber:innen aus
dem außereuropäischen Ausland, die schnell einen Arbeitsvertrag wollten, um
legal nach Deutschland einreisen zu können. Den Exners ist das zu unsicher.
Würde sich etwas in der arbeitsmigrationsrechtlichen Lage ändern – etwa
durch ein Visum für Bewerbungsgespräche oder Probearbeiten –, dann ließen
sich auch Arbeitskräfte aus dem außereuropäischen Ausland leichter
einstellen, meint Katrin Exner.
Die offenen Stellen beim Bäckereibetrieb Exner sind auch bei der Agentur
für Arbeit gelistet. Trotzdem könne sie nur wenige neue
Mitarbeiter:innen nach einer Vermittlung durch das Arbeitsamt
einstellen, berichtet die Personalchefin: „Entweder die Leute kommen gar
nicht erst zum Bewerbungsgespräch, oder sie kommen danach nie wieder.“
Viele Bewerber:innen würden gleich im Vorstellungsgespräch klarstellen,
dass sie nur für den benötigten Stempel gekommen seien. Exner versteht
nicht, warum das Arbeitsamt da keine bessere Vorarbeit leistet: „Man muss
die Menschen doch nicht zwingen, sich bei uns vorzustellen, wenn der Beruf
nichts für sie ist.“
## Lehrinhalte sind oft veraltet
Eine Ursache für den Arbeitskräftemangel in der Bäckereibranche sieht Exner
in der schleppenden Modernisierung der Lehrinhalte. Die Ausbildung hinke
Jahre hinter der rasanten Entwicklung des Lebensmittelhandwerks zurück. Es
gebe völlig neue IT- und Kassensysteme. Wichtig sei aber auch ein stärkerer
Fokus auf nachhaltige Produktionsweisen. Weil solche Themen zu kurz kommen,
seien die fertig ausgebildeten Mitarbeiter:innen zum Teil gar nicht
auf dem neuesten Wissensstand.
Das schlechte Image der Branche sei ein weiterer Grund für die vielen
offenen Stellen. Vor allem der vermeintlich frühe Schichtbeginn schrecke
viele potenzielle Mitarbeiter:innen ab. Zu Unrecht: Man müsse gar
nicht mehr in jedem Beruf in der Bäckereibranche früh aufstehen, stellt
Katrin Exner klar.
2. Ein Elektrotechnikmeister sucht seit anderhalb Jahren Gesell:innen
„Natürlich habe ich etwas zum Arbeitskräftemangel zu sagen. Das ist ein
schwieriges Thema“, sagt Elektrotechnikmeister Patrick Michael Lersch der
taz. Der selbstständige Unternehmer berichtet, dass er seit anderthalb
Jahren zwei Gesell:innen-Stellen in seinem Unternehmen nicht besetzt
bekommt. Monteure, insbesondere mit Gesell:innenbrief, seien einfach schwer
zu finden.
Wenn sich Menschen bei ihm bewerben, dann oft nur für einen Minijob oder
als Hilfsarbeiter:in. Doch ohne Gesell:innen kann er keine Hilfskräfte
einstellen. Denn die brauchen Fachkräfte, die sie einarbeiten und bei denen
sie mitlaufen können, erklärt Lersch.
Nachdem er mehrere Monate keine geeigneten Bewerbungen auf seine
Stellenanzeigen bekommen hatte, wendete er sich ans Arbeitsamt. Das aber
vermittelte ihm nur ungeeignete Arbeitskräfte. Lersch erzählt von
unausgebildeten und unmotivierten Menschen, die kein Interesse an dem Beruf
haben: „Die wollen sich nicht bewerben, die müssen sich bewerben.“
Nach den ernüchternden Erfahrungen mit dem Arbeitsamt kontaktierte der
Düsseldorfer Unternehmer kommerzielle Vermittlungsagenturen. Schnell
stellte sich aber heraus, dass sich deren Dienste für Lersch nicht lohnten.
Deshalb wartet er jetzt wieder darauf, dass sich geeignete
Bewerber:innen auf seine Stellenanzeigen melden.
## Kunden warten ein halbes Jahr
Bei dem derzeitigen Arbeitskräftemangel ist es normal, dass die
Kund:innen des Elektrotechnikmeisters ein halbes Jahr auf den Austausch
einer Elektroanlage oder die Installation von „Smart Home“-Anwendungen
warten müssen. Mehrmals pro Woche muss Lerschs Firma sogar Aufträge ganz
ablehnen.
Kolleg:innen in seinem Bekanntenkreis gehe es ähnlich, erzählt Lersch.
Manche von ihnen hätten sogar die Selbstständigkeit aufgegeben und seien
zurück in eine Festanstellung gegangen: „Da ist um 16 Uhr Feierabend und
man kann ruhig schlafen, anstatt sich mit den sich häufenden Aufträgen
herumschlagen zu müssen.“
Wie lässt sich der Arbeitskräftemangel denn beheben? „Irgendwie muss man
das ehrliche Interesse an dem Beruf wieder herstellen“, meint Lersch.
Finanzielle Anreize seien nicht die Lösung. Schon jetzt verdienten
Elektromonteure deutlich mehr als noch vor einigen Jahren. Wenn der
Arbeitspreis weiter stiege, könnte die Kundschaft die Auftragskosten
irgendwann nicht mehr stemmen und die Aufträge brächen vollständig weg,
erklärt er.
Protokolle: Marita Fischer
28 Jun 2022
## LINKS
[1] https://www.youtube.com/watch?v=mw8y-CUGtVs&list=PLwUvcQ0hE-7_3KlqfEM_q…
[2] https://www.iab-forum.de/iab-stellenerhebung-1-2022-174-millionen-offene-st…
[3] https://www.iab.de/de/informationsservice/presse/presseinformationen/kb2521…
[4] /Jobmarkt-und-Ausbildung/!5834198/
## AUTOREN
Barbara Dribbusch
Marita Fischer
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