| # taz.de -- Arbeitskräftemangel in Deutschland: Akademikerkinder in die Produk… | |
| > Überall fehlt es hierzulande an Personal. Dabei sollten AkademikerInnen | |
| > anfangen, Ausbildungen zu machen – denn soziale Mobilität nach unten ist | |
| > wichtig. | |
| Bild: Es müssen nicht immer nur kluge Gedanken sein, mittels denen Bürgerspr�… | |
| Im Film „American Beauty“ bewirbt sich Protagonist Lester Burnham, gespielt | |
| von Kevin Spacey, um eine Stelle in einem Burger-Lokal. „Ich suche den | |
| möglichst geringsten Grad an Verantwortung“, ruft Anzugträger Burnham, ein | |
| desillusionierter Angehöriger der amerikanischen Mittelschicht mit großem | |
| Einfamilienhaus, Frau und Kind, der verblüfften Angestellten durch das | |
| schmale Fenster am Drive-thru zu. | |
| Nach einem Gespräch mit dem anfänglich skeptischen Filialleiter („Ihre | |
| Fast-Food-Erfahrung liegt 20 Jahre zurück“) bekommt er den Job. „Sie werden | |
| doch sicherlich irgendeine Form von Fortbildungsprogramm haben. Es ist | |
| unfair anzunehmen, dass ich nicht lernen will!“ Dagegen kann der | |
| Filialleiter nichts einwenden. | |
| Lester Burnhams Entscheidung (o. k., er stirbt am Ende des Films, aber das | |
| ist ein anderes Thema) weist den Weg aus dem derzeitigen | |
| [1][Arbeitskräftemangel in Deutschland]. Der ist nicht nur darin begründet, | |
| dass die Gesellschaft altert und es zu wenig Nachwuchs für den Arbeitsmarkt | |
| gibt. Ein weiterer wichtiger Grund ist, [2][dass immer mehr junge Leute | |
| Abitur machen], danach studieren wollen und so später eher nicht eine | |
| Ausbildung zum Industriekaufmann oder zur Zerspanungsmechanikerin beginnen | |
| wollen. Zwar sind Arbeiterkinder immer noch deutlich unterrepräsentiert, | |
| doch auch sie sind Teil des Sogs an die Unis. | |
| Wenn nun aber alle, selbst FDP-PolitikerInnen, Aufstieg durch Bildung gut | |
| finden, muss trotzdem irgendjemand die notwendigen Blue-Collar-Jobs machen. | |
| Man kann nicht soziale Mobilität nach oben fördern und gleichzeitig | |
| erwarten, dass die sogenannten unteren Schichten die für sie sonst üblichen | |
| Berufe übernehmen. | |
| ## Überall fehlt es an Personal | |
| Die Lösung ist: Wir brauchen mehr Abstieg trotz Bildung. Akademikerkinder | |
| und AkademikerInnen sollten umsatteln und Hilfsjobs annehmen oder eine | |
| Berufsausbildung anfangen. Es wird zwar Widerstände im eigenen Milieu | |
| geben, aber dennoch lohnt es sich für sie. | |
| Es fehlen derzeit nicht nur Fachkräfte, also Polizistinnen, Krankenpfleger, | |
| Heizungsinstallateurinnen oder Lkw-Fahrer. Es zeigt sich auch ein großer | |
| Mangel bei den Anlernjobs: Es fehlt Personal in der Gastronomie, es fehlen | |
| Lagerarbeiterinnen, es fehlen Securitys, es fehlen Loader – das sind die | |
| meist unsichtbaren Flughafenmitarbeiter, die die 20 oder 30 Kilo schweren | |
| Koffer in den Flugzeugbauch wuchten und später wieder aus ihm herausholen. | |
| Medien beschreiben die Lage in einem Ton, der zwischen Überraschung und | |
| Kränkung changiert. Der Spiegel titelt: „Wo sind die nur alle hin?“ Die | |
| Zeit schreibt zielgruppensicher: „Mitarbeiter vermisst! Urlaub, Konzert, | |
| Restaurant – das alles wäre jetzt so schön, würde nicht überall das | |
| Personal fehlen“ – das besorgte Nicken in den Vintage-Lesesesseln der | |
| Professorenhaushalte der Republik kann man förmlich sehen. Der Subtext: Das | |
| ungezogene niedere Personal will nicht mehr die Jobs, die ihnen die | |
| Klassengesellschaft, in der man sich selbst gemütlich eingerichtet hat, | |
| zuweist. | |
| ## Wenn plötzlich das Personal verschwunden ist | |
| Die meisten, um die Spiegel-Frage zu beantworten, haben sich Jobs gesucht, | |
| die nicht unbedingt besser bezahlt, aber krisensicherer sind und bessere | |
| Arbeitsbedingungen bieten. Sie arbeiten im Supermarkt, bei der Post oder | |
| als Busfahrer bei einer kommunalen Verkehrsgesellschaft. In einer Zeit, in | |
| der man die Wahl hat, sind diese Jobs attraktiver, als sich von | |
| cholerischen Küchenchefs anbrüllen zu lassen oder mit ständig wechselnden | |
| Schichtplänen bei 40 Grad auf dem Vorfeld eines Flughafens seinen Rücken zu | |
| ruinieren – oder als Lkw-Fahrer wegen langer Abwesenheitszeiten seine Ehe. | |
| Die Lage ähnelt psychologisch gesehen der in den Südstaaten der USA vor 100 | |
| Jahren, als die Nachfahren der Sklaven wegen fortdauernder Diskriminierung | |
| in Massen in den liberaleren Norden zogen, der bessere Lebensbedingungen | |
| bot. Damals saßen die ehemaligen Sklavenhalterfamilien und weißen | |
| Privilegierten plötzlich ohne das gewohnte Dienstpersonal da, heute ist man | |
| in Berlin-Dahlem ratlos, weil der Lieblingsitaliener einen weiteren Ruhetag | |
| eingeschoben hat – Personalmangel! – und die Putzfrau gegangen ist, weil | |
| sie nicht mehr „schwarz“ arbeiten möchte. | |
| Hartnäckig hält sich derweil das altbackene Nachkriegsideal, dass es | |
| beruflich immer nur nach oben gehen soll – mit Blick auf die individuelle | |
| Lebensgeschichte, aber auch bezogen auf Familienbiografien. Doch wenn man | |
| den Begriff soziale Mobilität ernst nimmt, ist auch soziale Mobilität nach | |
| unten nötig. | |
| ## Nicht alle haben Lust auf das Studium | |
| Natürlich sollte die analytisch begabte und belesene Akademikertochter | |
| nicht zwingend als Gabelstaplerfahrerin anfangen, das wäre eine Vergeudung | |
| von Talenten. Aber es ist stark anzunehmen, dass [3][unter den 75 Prozent | |
| Akademikerkindern, die jedes Jahr ein Studium beginnen], einige sind, die | |
| das nicht tun, weil sie wirklich Lust darauf haben, sondern weil die | |
| Familie es so erwartet und weil „man das eben so macht“ im eigenen Milieu. | |
| Auch dynastisches Denken ist noch immer kraftvoll: „Dein Großvater war auch | |
| schon Jurist“ ist ein Satz, der schon an manchen gediegenen | |
| Esszimmertischen gesagt worden sein dürfte; Berufsberatung in der eigenen | |
| Familie kann manchmal seltsame Formen annehmen. | |
| Jeder kennt Geschichten über die merkwürdigen Lebensläufe in gehobenen | |
| Kreisen. Da ist der Sohn, diskret finanziert von den Eltern, der nach dem | |
| lustlos absolvierten Studium erst mal drei Jahre lang auf Weltreise geht | |
| und den 372. Fernreise-Instagram-Kanal eröffnet. Oder die Tochter, die ein | |
| nicht näher definiertes „Aufbaustudium“ anhängt. Den Schein zu wahren oder | |
| sich (scheinbar) selbst zu verwirklichen gilt trügerischerweise immer noch | |
| als bessere Option im Vergleich zu einer Entscheidung für einen womöglich | |
| passenderen, handfesten Job. | |
| Dabei entgehen den Bürgerkindern zentrale Emanzipationserfahrungen, die | |
| prägender sind, als Strandbilder aus Indien zu posten oder mit 35 noch im | |
| Hörsaal zu hocken. Die soziale Aufsteigerin, Strafrichterin am Landgericht, | |
| zieht Freitagnachmittag ihre Robe aus und trinkt am Wochenende im | |
| Kleingarten ihrer Cousinen Bier aus der Dose und tanzt zu Helene Fischer – | |
| wie man das in ihrer Herkunftsfamilie eben so macht. Sie kennt zwei Welten. | |
| Und wenn es in einer der Welten zu absurd wird, kann sie innerlich vor sich | |
| hin lächeln und weiß, dass es noch ein anderes Leben gibt. Sie kann Distanz | |
| halten. Das gilt für ihre Arbeit am Landgericht genauso wie für die | |
| Freizeitgestaltungen ihres Herkunftsmilieus. | |
| ## Bürgerkinder bleiben ihrer Klasse treu | |
| Diese Erfahrung ist eher selten in bürgerlichen Milieus. Man mag an einen | |
| anderen Ort ziehen, aber man bleibt seiner Klasse treu. Und auch wenn man | |
| nicht eindeutig begabt für eine akademische Karriere ist und diese auch | |
| nicht will, beugt man sich den Berufserwartungen der Eltern, auch um | |
| familiäre Subventionen oder die Schenkung einer Eigentumswohnung nicht zu | |
| gefährden. Dinge, die insgeheim einkalkuliert sind, aber eben auch abhängig | |
| machen. | |
| Nicht wenige dürften sich fremdbestimmt fühlen wie Lester Burnham aus | |
| „American Beauty“. Individueller Aufstieg ist ein Akt der Emanzipation. | |
| Umgekehrt kann der Ausbruch aus dem Milieu nach unten ebenso | |
| selbstbefreiend sein: Ich gehe meinen eigenen Weg. | |
| Hilfsjobs sind, wenn der 12-Euro-Mindestlohn bald kommt, finanziell gar | |
| nicht mal so unattraktiv. Während man hinten im Backshop Brötchen schmiert, | |
| kann man ungestört über das Leben nachdenken. In geistig fordernden Jobs | |
| geht das nicht. Und nach Feierabend hat man wirklich frei, weil man nicht | |
| durch E-Mails des Chefs belästigt wird. | |
| ## Es gibt viel Spielraum nach oben | |
| In Jobs mit Berufsausbildung und Tariflohn ist die Bezahlung sehr | |
| ordentlich. Industriemechaniker fangen in Westdeutschland im ersten | |
| Berufsjahr mit 2.900 Euro brutto ohne Zulagen an, da sind sie in der Regel | |
| Anfang 20. Egal ob Speditionskauffrau oder Lagerist – die | |
| 3.000-Euro-Schwelle ist schnell erreicht, bei unbefristeten Verträgen. Und | |
| weil Arbeitskräfte gesucht werden, ist zumindest bei verhandelbaren Löhnen | |
| derzeit viel Spielraum nach oben. | |
| Nie war es attraktiver, diese Berufe zu ergreifen, anstatt die Erwartungen | |
| anderer zu bedienen oder sich in angeblich prestigeträchtigen, eigentlich | |
| prekären Jobs an der Uni oder im Kunstbetrieb zu zermürben. | |
| 30 Jul 2022 | |
| ## LINKS | |
| [1] /Fachkraeftemangel-in-Deutschland/!5865909 | |
| [2] https://www.bildungsbericht.de/de/bildungsberichte-seit-2006/bildungsberich… | |
| [3] https://www.hochschulbildungsreport2020.de/chancen-fuer-nichtakademikerkind… | |
| ## AUTOREN | |
| Gunnar Hinck | |
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