# taz.de -- Arbeitsmarkt in der Pandemie: Kellner, Rider, verzweifelt gesucht | |
> Während der Pandemie haben viele Arbeitskräfte aus dem | |
> Dienstleistungsbereich die Branche verlassen. Warum haben sie die Nase | |
> voll? | |
Steffen Kirchner betreibt am Berliner Wannsee das beliebte | |
Ausflugsrestaurant Loretta. Und er sucht gerade verzweifelt nach Personal, | |
erzählt er am Telefon. Wie dramatisch ist die Lage? „Absolut dramatisch!“, | |
sagt er – und fragt: „Haben Sie einen Koch für mich?“ Momentan müsse er | |
sich entscheiden, ob er lieber die Öffnungszeiten reduziere oder ob er das | |
ihm verbliebene Personal so überstrapaziere, dass es ihm bald auch | |
davonlaufe. | |
„Es ist eine Wahl zwischen Pest und Cholera“, sagt Kirchner. So oder so: | |
Ihm geht gerade Umsatz durch die Lappen. Das Loretta musste bereits einen | |
zweiten Ruhetag einführen. In Berlin gebe es zurzeit Tausende unbesetzte | |
Stellen in der Gastronomie, sagt er. | |
Anfang Herbst spottete Kontinentaleuropa noch über Großbritannien, wo die | |
Menschen vor Tankstellen Schlange standen, weil die Lkw-Fahrer:innen | |
fehlten und der Nachschub an Benzin ausblieb. Der Brexit sei schuld, | |
lautete die landläufige Begründung. Und in den USA gaben im August fast 4,5 | |
Millionen Menschen ihren Job auf – so viele wie noch nie zuvor in einem | |
Monat. Man spricht von der „Great Resignation“, der großen Kündigungswell… | |
Englischsprachige Medien sind voll davon. | |
Doch seit einiger Zeit trifft der Arbeitskräftemangel auch die hiesige | |
Wirtschaft. Lücken tun sich in den Regalen auf, weil die [1][Versorgung | |
ohne Lkw-Fahrer:innen] nicht gewährleistet werden kann. In den | |
Schaufenstern von Bars und Restaurants kleben Zettel, die zur Bewerbung | |
auffordern. Lieferdienste wie Wolt versuchen mit Geldprämien, neue | |
Fahrer:innen anzuwerben. Und die Bild-Zeitung sieht den Ausschank von | |
Glühwein auf Weihnachtsmärkten in Gefahr – zumindest auf denen, die noch | |
stattfinden dürfen. | |
Deutschland fehlen laut der Schätzung von Expert:innen [2][über 1 | |
Million Arbeitskräfte]. Am vielbeschworenen demografischen Wandel kann es | |
noch nicht liegen, zu schnell kam diese Wende, zu plötzlich sind der | |
Wirtschaft die Leute ausgegangen. Und es geht im Moment auch nicht um den | |
seit Jahren bestehenden Fachkräftemangel. Es fehlen zurzeit viele Menschen, | |
die in Jobs arbeiten, die man schnell lernen kann, Jobs im | |
Dienstleistungssektor. | |
Doch wo sind sie hin? Und wie viel hat das mit Corona zu tun? In der | |
Pandemie sind auch neue Jobs geschaffen worden. Die taz hat mit vier | |
Menschen gesprochen, die während der Pandemie entschieden haben, beruflich | |
etwas Neues auszuprobieren – und dabei Chefs zurückgelassen haben, die | |
jetzt verzweifelt Ersatz suchen. | |
## Octavio freut sich auf einen richtigen Job | |
Octavio ist einer, der gewechselt hat. Der 28-Jährige war bis vor Kurzem | |
[3][Fahrer beim Lieferdienst Gorillas]. Auch wegen der Debatte über seinen | |
ehemaligen Arbeitgeber will er seinen richtigen Namen nicht in der Zeitung | |
lesen – aber auch aus Respekt vor seinem neuen. Denn heute hat Octavio eine | |
Stelle, die seiner Ausbildung entspricht, als Videocutter in einem | |
Medienkonzern. Octavio ist vor ein paar Jahren aus Lateinamerika nach | |
Berlin gezogen – der Liebe wegen. In einer Bar in Neukölln erzählt er von | |
der körperlichen Belastung durch die Arbeit als Rider, von den | |
Unwägbarkeiten der Start-up-Welt, und wie sehr er sich freut, endlich einen | |
„richtigen Job“ zu haben. | |
Octavio berichtet von ständigen Rückenschmerzen, weil er bis zu 20 Kilo | |
schwere Rucksäcke durch die Straßen fuhr und Treppen hoch schleppte. | |
Während des Lockdowns sei das besonders schlimm gewesen, viele wollten | |
nicht mal zum Einkaufen raus, also brummte bei den Gorillas das Geschäft. | |
„Für körperliche Arbeit wird ein Stundenlohn von 10,50 Euro aber immer zu | |
tief sein“, findet Octavio. | |
Eines Tages, erzählt er, schloss der Lieferdienst auch noch die Pausenräume | |
mit Kühlschränken, sodass die Rider zwischen den Aufträgen draußen im Regen | |
warten mussten. Seit Octavio in Berlin wohnt, hat er einen Job gesucht, | |
der zu seiner bisherigen Karriere passt. Er wechselte von einem | |
unterbezahlten Start-up-Praktikum ins nächste. Seit 2019 schrieb er über 50 | |
Bewerbungen, erfolglos. Doch plötzlich klappte es. Das habe auch mit der | |
Pandemie zu tun, davon ist er überzeugt. Der Arbeitsmarkt sei in vielen | |
Bereichen ausgetrocknet. | |
Das muss man Frederik Fahning nicht erzählen. Fahning ist einer der Gründer | |
der Arbeitsvermittlungsplattform Zenjob. Jeden Monat vermittelt Zenjob etwa | |
20.000 Menschen an Unternehmen aus den Bereichen Logistik, Gastronomie und | |
Einzelhandel. Fahning steht im ständigen Austausch mit Soziolog:innen, | |
die den Arbeitsmarkt erforschen, und mit Unternehmen, die Arbeitskräfte | |
suchen. Er weiß also, was der Markt will. | |
In welchen Bereichen ist es gerade besonders schwierig, Angestellte zu | |
finden? „Eigentlich in allen“, sagt Fahning im Zoomgespräch. Es gebe viel | |
zu wenig verfügbare „Talents“. Für befristete Teilzeitangebote seien | |
momentan kaum Leute zu finden. Und viele aus der Gastronomie seien während | |
der Lockdowns in den Einzelhandel gewechselt, als dort verzweifelt Personal | |
gesucht wurde, das die Kassen bedient und die Regale mit Klopapier und | |
Nudeln auffüllt. | |
Auf dem Bau, in der Gastronomie und der Logistik gibt es viele Jobs, für | |
die man wenig Vorbildung braucht – und in denen die einzelne Arbeitskraft | |
bisher leicht zu ersetzen war. Deswegen waren die Löhne bislang meist | |
niedrig, die Bedingungen schlecht. Vielleicht ändert sich das aber gerade | |
zugunsten der Arbeitnehmer:innen. Denn wenn die Chefs keinen Ersatz | |
finden, müssen sie ihre Angestellten besser behandeln. Fahning sieht eine | |
Verlagerung: Arbeitnehmer:innen seien jetzt stärker in der Lage zu | |
bestimmen, mit welchem Lohn sie nach Hause gehen, welche Arbeitsbedingungen | |
sie akzeptieren. „Sie sind deutlich emanzipierter“, sagt Fahning. | |
Der durchschnittliche Stundenlohn auf seiner Vermittlungsplattform liegt | |
zurzeit bei 13,50 Euro. Fahning erwartet eine baldige Steigerung auf 15 | |
Euro. „Sehr, sehr cooler Trend, der sich da abzeichnet, aufgrund dieser | |
Knappheit“, sagt er. „Das bedeutet ein deutlich stärkeres Empowerment | |
aufseiten der Talents.“ | |
Christoph ist 53 Jahre alt und hat die vergangenen sechs Jahre als Fahrer | |
gearbeitet, bis zu diesem Herbst. Christoph, der seinen richtigen Namen | |
ebenfalls nicht in der Zeitung lesen will, hat Blutproben aus Arztpraxen | |
ins Labor gebracht. Die Lage auf Berlins Straßen hatte sich wegen Corona | |
und den unzähligen Onlinebestellungen aber so verschlechtert, dass er von | |
seinem Job immer genervter wurde. „Man fährt immer mehr gegeneinander“, | |
brummt er ins Telefon. Erschwerend hinzu kamen: deutlich mehr Verkehr und | |
Touren als vor der Pandemie. | |
Christoph kann stundenlang über den Verkehr schimpfen, die Rider:innen der | |
Lieferdienste regen ihn besonders auf. „Ich versteh schon, dass das arme | |
Kerls sind, die Zeitdruck haben“, sagt er. „Aber übern Bürgersteig müssen | |
sie trotzdem nicht rasen.“ | |
Diesen Sommer hatte er einen berufsbedingten Unfall. Sechs Wochen lang war | |
er danach mit mehreren Brüchen krank geschrieben. Das gehöre zum | |
Berufsrisiko eines Transportfahrers, sagt er. Doch als er wieder zurück ins | |
Labor kam, meckerte sein Chef ihn an, er habe durch seine Abwesenheit den | |
Betriebsablauf gestört. „Ich darf meine Knochen hinhalten, aber wenn ich | |
zurückkomme, wird nicht mal gefragt: ‚Knochen wieder heile, geht’s gut?‘… | |
sagt Christoph. „Da dachte ich: Macht euren Scheiß doch alleine.“ | |
## Schwierige Arbeitsbedingungen, unverschämte Chefs | |
Er hatte von Freunden gehört, dass anderswo gerade dringend Personal | |
gesucht wird. Ursprünglich hat er Kaufmann gelernt, mit Zahlen und Tabellen | |
kennt er sich aus. Über Empfehlungen bekam er so einen Job im | |
Gesundheitsamt, das dringend Leute für die Dateneingabe suchte. Es sei | |
nicht gerade die spannendste Aufgabe und auch nur befristet, erzählt er: | |
„Aber als ich weg wollte, war alles, was sich anbot, ein Strohhalm.“ | |
Schwierige Arbeitsbedingungen, unverschämte Chefs – hinzu kommt, dass die | |
Arbeitsämter und Jobcenter im vergangenen Jahr ihre bürokratischen Hürden | |
gesenkt haben. Etliches, wofür man früher persönlich hinfahren musste, geht | |
plötzlich online. Auch das hat vermutlich vielen geholfen, die in dieser | |
Zeit über eine berufliche Neuorientierung nachdachten. | |
„Beim Jobcenter waren sie auf einmal super freundlich“, erzählt Cella. Die | |
29-Jährige hat sich für einen Karrierewechsel entschieden. Eigentlich hat | |
sie Fotografie studiert, aber davon konnte sie nie richtig leben. Zuletzt | |
hat sie gekellnert, zwei Jahre lang in einem hippen Restaurant in Neukölln. | |
Bis spät in die Nacht auf den Beinen, immer freundlich lächeln, auch wenn | |
die Gäste sich wie Arschlöcher verhalten, dazu häufig noch sexuelle | |
Belästigung, auch durch Vorgesetzte – Cella hatte schon länger die Nase | |
voll davon. Dann musste sie auch noch operiert werden. Die Nachwirkungen | |
der OP hätten das ständige Rumrennen noch anstrengender gemacht, erzählt | |
sie. | |
Während des Lockdowns bekam sie nur einige 100 Euro Kurzarbeitergeld im | |
Monat, die Trinkgelder waren ihr auch weggebrochen. Sie konnte die Miete | |
nicht mehr zahlen und musste zum Jobcenter, um aufzustocken. „Während der | |
Pandemie haben wir alle gemerkt, dass das kein stabiler Beruf ist.“ Wie | |
viele ihrer Freund:innen entschied sie, dass es besser wäre, einen Job zu | |
suchen, den man im Notfall von zu Hause aus machen kann. | |
Programmieren, das klang für Cella, die aus Karrieregründen anonym bleiben | |
will, nach einer sicheren Zukunft. Während des ersten Lockdowns belegte sie | |
im Internet ein paar Gratiskurse in den gängigen Programmiersprachen und | |
merkte, dass es ihr nicht nur Spaß machte, sondern dass sie auch ganz gut | |
darin war. Als sie sich beim Jobcenter erkundigte, ob sie eine Fortbildung | |
machen könne, meinte ihre Beraterin, sie würden ihr sogar ein ganzes | |
Studium an einer privaten IT-Schule finanzieren. | |
Das Problem dabei: Das Amt bezahlt nur, wenn man gekündigt wird, nicht, | |
wenn man selbst gehen will. Cella entschied sich, offen mit ihrem | |
Vorgesetzten darüber zu sprechen. Sie wolle den Beruf wechseln und würde | |
gern entlassen werden, sagte sie ihm. Doch der Manager des Restaurants | |
weigerte sich, er finde gerade kein neues Personal, darum könne er | |
niemanden entlassen, habe er gesagt und stattdessen verlangt, dass Cella | |
noch mehr Schichten übernimmt. | |
„Um da rauszukommen, musste ich eine andere Karte spielen“, sagt sie. Ein | |
Arzt schrieb ihr ein Attest, das bestätigte, dass sie nicht mehr körperlich | |
arbeiten könne, weil sie unter Komplikationen von ihrer OP leide. Als sie | |
ihrem direkten Vorgesetzten das Schreiben zeigte, habe er angefangen, sie | |
anzuschreien, erzählt sie. Was ihr einfalle, die Crew im Stich zu lassen? | |
„Die ganze Zeit heißt es, wir seien eine große Familie. Nach der Schicht | |
trinkt man zusammen, aber wenn ich etwas Neues mit meinem Leben anfangen | |
will, dann gibt’s Ärger.“ | |
Wenige Tage später bekam Cella einen Anruf. Es war der Besitzer des | |
Restaurants, dem noch ein paar Bars gehören. Zuvor hatte er mit ihr kaum | |
ein Wort gewechselt. „Der flehte mich am Telefon an, nicht zu kündigen“, | |
erzählt sie, noch immer hörbar verblüfft. Er bot ihr freie Schichtwahl an, | |
ein komplett freies Wochenende pro Monat – aber als sie mehr Gehalt | |
forderte, blockte er ab. „Sorry, aber für 7.50 netto macht doch keiner mehr | |
diese Jobs“, sagt Cella. Der Besitzer bat sie zum Abschied, in ihrem | |
Freundeskreis weiterzusagen, dass all seine Bars gerade Leute suchen. | |
Cellas Erfahrungen kann auch Arbeitsvermittler Frederik Fahning bestätigen. | |
In der Gastronomie seien die Einkommen nicht besonders stabil, das | |
Basisgehalt, von dem aus das Kurzarbeitergeld berechnet wurde, sei oft so | |
niedrig gewesen, dass es während der Lockdowns kaum zum Überleben reichte. | |
„Da haben viele gesagt: Nö, da orientier ich mich um“, sagt Fahning. | |
Doch warum steigen die Löhne dann gerade nur so moderat? Müssten | |
Gastronomen nicht einfach bezahlen, was der Markt verlangt? Es gebe zwei | |
Gründe, warum die Löhne oft trotzdem nicht stiegen, sagt Fahning. Manchmal | |
will die Bar nicht mehr bezahlen, weil sie es sich nach den Lockdowns | |
wirklich nicht mehr leisten kann. Oder der Arbeitgeber denkt sich, es finde | |
sich schon noch jemand, der für wenig Geld arbeitet. Sinnvoll sei diese | |
Einstellung aber nicht. „Im Zweifel muss die Bar dann dichtmachen, weil sie | |
niemanden haben, der dort arbeitet.“ | |
Steffen Kirchner vom Ausflugsrestaurant Loretta sieht die Hilfen des | |
Sozialstaats kritisch, für ihn sind sie Teil des Problems. „Diese | |
Leistungen müssen mal gekürzt werden, wenn Jobangebote nur abgelehnt | |
werden“, sagt er. Zu viele seien während der Pandemie aus der Gastronomie | |
ausgeschieden. „Mitarbeiter haben während Corona gelernt, dass Freizeit | |
wunderbar ist.“ Kirchner will sie nicht faul nennen, die Köch:innen und | |
Kellner:innen, die nicht mehr am Wochenende und spätabends arbeiten wollen. | |
Aber: „Viele Mitarbeiter haben die Lust zu arbeiten verloren, sie nehmen | |
sogar finanzielle Einschränkungen hin.“ Am Lohn könne es bei ihm jedenfalls | |
nicht liegen, er zahle über Tarif. Er biete sogar Teilzeitmodelle an – | |
trotzdem finde er nicht genügend Arbeitskräfte. | |
## Weniger Nachtleben, mehr Erholung | |
Donna Stark sitzt auf der Dachterrasse ihrer Friedrichshainer WG. Sie | |
hat zehn Jahre lang im Nachtleben in Hamburg und Berlin gearbeitet, hat an | |
der Tür ausgesucht, wer rein darf und wer nicht, hat die Gäste betreut, hat | |
auf Festivals Kioske betrieben und Künstler:innen betreut. Dann kam | |
Corona. „Das war schon krass“, sagt sie. „Von einem Tag auf den anderen w… | |
alles, wofür ich mich engagiert hab, einfach weggebrochen.“ | |
Schon vorher sei bei ihr der Gedanke aufgetaucht, mal eine Pause | |
einzulegen. Die körperliche Anstrengung, bei Wind und Wetter draußen zu | |
stehen, immer dann zu arbeiten, wenn alle anderen frei haben – das alles | |
habe sich bei ihr langsam bemerkbar gemacht. Gut bezahlt war der Job auch | |
nicht gerade, zwischen 10 bis 15 Euro Stundenlohn gab es, manche Clubs | |
zahlen nicht mal Nachtzuschläge. Aber durch die Arbeit an der Tür war Stark | |
immer Teil einer Gemeinschaft von Raver:innen, die Clubs auch als | |
politische Räume verstehen. Das war ihr wichtig. Bis zur Pandemie. | |
„Ich hab zum ersten Mal seit tausend Jahren einfach ohne Nachtschichten | |
durchgeschlafen“, sagt sie. „Das hat mich ganz schön verändert.“ Als der | |
Körper und der Geist sich erholt hatten, habe sie zum ersten Mal seit | |
Langem Raum gehabt, sich zu überlegen: Was will ich eigentlich? Wie soll es | |
weitergehen mit meinem Leben? Was mach ich, wenn ich körperlich nicht mehr | |
mitkomme mit diesem Rhythmus? „Corona hat mir gebracht, dass ich besser auf | |
mich höre.“ | |
Stark hatte das Glück, tatsächlich bei einem Club angestellt zu sein. | |
Normal ist das im Nachleben nicht – viele, die an der Bar arbeiten, haben | |
bloß Minijobs, Sicherheitspersonal arbeitet oft auf Rechnung. Wer in einem | |
solchen Modell festhing, bekam nicht einmal Kurzarbeitergeld. Den ersten | |
Lockdown hatte Stark noch ausgesessen, die Dachterrasse der WG eignete sich | |
gut für Yoga. Doch als klar war, dass die Clubs so bald nicht wieder | |
öffnen, musste sie eine Entscheidung treffen: Zu Hause rumhocken oder was | |
unternehmen. | |
Sie habe sich schon immer für Computer interessiert, jetzt hatte sie Zeit, | |
sich damit zu befassen. In Berlin gibt es das Studienfach Informatik und | |
Wirtschaft, ein kompletter Frauenstudiengang, das klang gut. „Das Amt war | |
ziemlich cool“, erzählt Stark. Nun wird sie wie Cella Programmierer:in. Es | |
ist ein Sprung in eine Karriere, die für viele zurzeit sicherer wirkt. | |
Durch Corona boomt alles, was online läuft. | |
Kürzlich seien wieder ein paar Angebote von Partyorganisator:innen | |
gekommen, die wollten, dass Stark an der Tür die Auswahl macht. Doch bei | |
der Bezahlung verdrehte sie die Augen. „Das ist jetzt nicht euer Ernst!“ | |
Dazu komme, hört Stark aus der Szene, dass viele Clubs nicht besonders nett | |
mit den Leuten umgesprungen seien, die jahrelang alles zusammengehalten | |
haben. Manche, wie ihr früherer Arbeitgeber, hätten sich auch im Lockdown | |
um die Angestellten gekümmert, sich zwischendurch bei den Leuten gemeldet, | |
um zu fragen, wie es ihnen gehe, ein Onlinetreffen vorgeschlagen. „Die | |
waren einfach total am Start, mega supportive.“ | |
Andere Arbeitgeber, hörte Stark, „melden sich ewig nicht, dann sagen die: | |
‚Hier, nächste Woche machen wir auf, und ihr müsst alle arbeiten.‘“ Sta… | |
klatscht demonstrativ in die Hände. Aber so eine Dalli-Dalli-Attitüde | |
wollten sich viele eben nicht mehr bieten lassen. | |
Seit Oktober hat sie neben ihrem Teilzeitstudium einen Job in einem | |
frauengeführten Start-up angetreten. So ganz ans Büro habe sie sich aber | |
noch nicht gewöhnt. „Meine erwachsene Seite kommt da mehr zum Zug“, sagt | |
sie und lacht. „So lange auf dem Arsch zu sitzen, bin ich noch gar nicht | |
gewohnt.“ | |
Octavio weiß die Vorzüge seines neuen Bürojobs zu schätzen – und auch die | |
eines richtigen Arbeitsvertrags. Seine Freundin ist schwanger, bald ist der | |
Geburtstermin. Die Agentur hat ihm schon gesagt, dass er dann in Elternzeit | |
gehen kann. Als er das erzählt, klingt er sehr aufgeregt. „Denkst du, als | |
Rider kriegt man frei, um ein besserer Vater zu sein?“, ruft er. Seinen | |
alten Job vermisst er nicht. | |
Die richtigen Namen von Octavio, Christoph und Cella sind der Redaktion | |
bekannt. | |
30 Nov 2021 | |
## LINKS | |
[1] /Verdi-Leiter-ueber-Arbeit-von-Lkw-Fahrern/!5808305 | |
[2] /Progonose-fuer-den-Arbeitsmarkt/!5805338 | |
[3] /Unternehmen-scheitert-vor-Arbeitsgericht/!5812458 | |
## AUTOREN | |
Caspar Shaller | |
## TAGS | |
Arbeitsmarkt | |
Schwerpunkt Coronavirus | |
Arbeitsbedingungen | |
GNS | |
Podcast „Vorgelesen“ | |
Fachkräftemangel | |
Klasse | |
IG | |
Duale Ausbildung | |
Kolumne Großraumdisco | |
Psyche | |
Fachkräftemangel | |
Ampel-Koalition | |
Clubszene | |
Streik | |
## ARTIKEL ZUM THEMA | |
Fachkräftemangel in der Gastronomie: Lieber Busfahrerin als Kellnerin | |
Trotz boomender Nachfrage laufen der Gastro-Branche die Angestellten weg, | |
zeigt eine Gewerkschaftsstudie. Helfen könnte deutlich bessere Bezahlung. | |
Arbeitskräftemangel in Deutschland: Akademikerkinder in die Produktion! | |
Überall fehlt es hierzulande an Personal. Dabei sollten AkademikerInnen | |
anfangen, Ausbildungen zu machen – denn soziale Mobilität nach unten ist | |
wichtig. | |
Obergrenze für Minijobs: Erhöht statt abgeschafft | |
Die Obergrenze für Minijobs soll von 450 auf 520 Euro im Monat steigen. | |
Gewerkschaften fürchten die Verdrängung regulärer Arbeitsplätze. | |
Ampel-Pläne zur Berufsausbildung: Umworbener Nachwuchs | |
Die Ampel plant eine „Ausbildungsgarantie“. Arbeitgeber halten die für | |
unnötig – denn die Zahl der Bewerber:innen für offene Lehrstellen | |
sinkt. | |
Abschied von der Daniela Bar in Hamburg: Restetrinken im Kuschellicht | |
Als die Daniela Bar eröffnete, war das Schanzenviertel noch keine | |
Partymeile. Nun hat Corona dieses besondere Geschöpf des Nachtlebens | |
hingerafft. | |
Corona und seine Folgen: Die Kunst macht ihren Job nicht | |
Die Pandemie hat uns verändert. Nur wie? Statt uns dabei zu helfen, das | |
herauszufinden, zeigen Fernsehserien reine Nostalgie-Szenarien. | |
Fachkräftemangel in Deutschland: Jenseits von Europa | |
Ein gemeinnütziges Projekt vermittelt afrikanische | |
Programmierer:innen, die von Ghana und Ruanda aus arbeiten. Ein Modell | |
für die Zukunft? | |
Versprechen der Ampel-Koalition: Fortschritt! Welcher Fortschritt? | |
Weniger Regeln, weniger Tradition, mehr Freiheiten für die Einzelnen. Die | |
Ampel verspricht Verbesserung – aber nicht unbedingt soziale Gerechtigkeit. | |
Berliner Clubs in der Coronapandemie: „Wie Pogo mit sich selbst“ | |
Wegen Corona dürfen die Clubs nur noch die Hälfte der Besucher*innen | |
einlassen. Das lohnt sich kaum – und macht noch weniger Spaß. | |
Krankenschwester über Pflegestreik: „Sie versuchen, uns zu erpressen“ | |
In den Asklepios-Kliniken in Brandenburg wird seit Juni gestreikt. Der | |
Konzern zeigt sich kaum kompromissbereit. Ein Gespräch mit einer | |
betroffenen Krankenschwester. |