| # taz.de -- Fachkräftemangel in Deutschland: Jenseits von Europa | |
| > Ein gemeinnütziges Projekt vermittelt afrikanische | |
| > Programmierer:innen, die von Ghana und Ruanda aus arbeiten. Ein | |
| > Modell für die Zukunft? | |
| Bild: Tharcissie Idufashe beherrscht fünf Programmiersprachen | |
| Kigali und Köln taz | Es gibt Firmen, bei denen verstehen Laien auf Anhieb | |
| kaum, was sie genau tun – ohne deren Arbeit aber die digitale Infrastruktur | |
| im 21. Jahrhundert nicht funktionieren würde. Die Nexum AG ist so eine: Sie | |
| bezeichnet sich als Digitalagentur, man könnte sie auch | |
| Technologieberatungsfirma nennen. Eines der wichtigsten Geschäftsfelder von | |
| Nexum besteht darin, Salesforce, eine weit verbreitete | |
| Unternehmenssoftware, für Onlinehändler und Industrieunternehmen spezifisch | |
| anzupassen. | |
| 250 Angestellte arbeiten bei Nexum, in Büros in Deutschland, der Schweiz | |
| und Spanien, für Kunden wie den Lufthansa-Shop oder Mustang Jeans. Genug | |
| sind das nicht. „Wir suchen händeringend Leute“, sagt Vorstand Georg Kühl. | |
| 39 Stellen sind derzeit auf der Website ausgeschrieben, im nächsten Jahr | |
| will er 70 Mitarbeiter:innen einstellen. Doch die muss er erst mal | |
| finden. | |
| „Deutschland gehen die Arbeitskräfte aus“, [1][warnte im August die | |
| Bundesagentur für Arbeit]. 1,2 Millionen Arbeitskräfte werden derzeit in | |
| Deutschland gesucht. Dabei wird es nicht bleiben. Die Geburtenrate ist | |
| schon länger niedrig, die Zahl der Menschen im Erwerbsalter nimmt in diesem | |
| Jahr um fast 150.000 ab, in den kommenden Jahren werde es noch „viel | |
| dramatischer“, so die Bundesagentur. [2][IT zählt zu den Branchen, die von | |
| dem Problem besonders geplagt sind.] | |
| Und so sind bei der Nexum AG allein sechs Leute mit der Suche nach neuen | |
| Mitarbeiter:innen beschäftigt. „Um überhaupt ansatzweise den Bedarf zu | |
| decken, muss man strategischer und weiter denken“, sagt Georg Kühl. Nexum | |
| ist deshalb mit Bildungsträgern und Hochschulen Kooperationen eingegangen, | |
| innerhalb deren Studierende im Unternehmen arbeiten. 2019 eröffnete die | |
| Firma in Valencia einen Standort. „Eine Zeit lang gab es viele junge | |
| spanische ITler, die nach Deutschland kamen. Die wollen gern zurück. Und so | |
| stellen wir sie dann da ein.“ | |
| Doch auch Spanien bietet nicht genug Arbeitskräfte. In Afrika sieht das | |
| schon anders aus. Jedes Jahr verlassen rund 2,2 Millionen | |
| Afrikaner:innen die Universitäten des Kontinents mit einem IT- oder | |
| Technik-Abschluss. Diesen Umstand nutzt das Unternehmen AmaliTech. Dessen | |
| Dienstleistung: afrikanische Programmierer:innen als | |
| Tele-Arbeitskräfte vermitteln. „Es war für uns klar: Das ist die nächste | |
| logische Konsequenz“, sagt Georg Kühl. Im November 2020 startete die | |
| Kooperation, heute arbeiten in Takoradi in Ghana 25 | |
| Programmierer:innen für Nexum. | |
| Seinen deutschen Sitz hat AmaliTech in einem historischen Fabrikgebäude im | |
| Kölner Stadtteil Ehrenfeld. Gründer Martin Hecker hat eine lange Karriere | |
| in der Beraterbranche hinter sich. Mitte der 1990er Jahre heuerte er beim | |
| Branchenriesen Boston Consulting Group (BCG) an. Er arbeitete in dessen | |
| Büros in New York und San Francisco und leitete die Abteilung für | |
| „Technology Advantage“, eine Art firmeninternen Thinktank für | |
| Digitalisierung. 2016 begann er dort sein letztes Projekt. „Ich wollte für | |
| die Zeit nach meinem Ausstieg etwas aufbauen“, sagt Hecker. Und dafür | |
| afrikanische IT-Absolvent:innen mit Unternehmen in Europa zusammenbringen. | |
| „Eine Outsourcing-Firma, mit richtigen Leistungsverträgen, keine bloße | |
| Arbeitsvermittlung.“ | |
| Hecker gründete ein Projektteam – pro bono, gemeinnützig. Dass dafür ein | |
| eigenes Förderprogramm der Bundesregierung in Aussicht stand – „davon | |
| wusste ich damals noch wirklich null“, sagt Hecker. Aber er wusste, wie man | |
| IT-Firmen aufbaut. Martin Hecker wollte in jenen afrikanischen Ländern | |
| aktiv sein, die die großen Techkonzerne links liegen lassen. In die großen | |
| Schwellenökonomien wie Ägypten, Südafrika, Nigeria oder auch Kenia, „da | |
| gehen IBM, Google und die anderen hin, das muss ich dann nicht auch noch | |
| machen“. Er nahm kleinere Länder in den Blick, um auch dort „Perspektiven | |
| zu schaffen“, wie er sagt. | |
| Heckers Projektteam legte „einen Filter über die Daten aller Länder | |
| Afrikas“. Das Ergebnis: Ghana in West- und Ruanda in Ostafrika – dort | |
| ließen sich seine Ideen am besten verwirklichen. In beiden Ländern wächst | |
| die Wirtschaft schnell, es gibt gutes Internet, viele Uni-Absolvent:innen | |
| und vergleichsweise stabile politische Verhältnisse. | |
| Seit Jahren drängen Wirtschaftsverbände hierzulande wegen des | |
| Fachkräftemangels auf mehr Migration. Doch die politischen Widerstände | |
| dagegen sind groß, die Hürden für ein Arbeitsvisum weiter sehr hoch. Nicht | |
| nur deshalb gehen viele gut Ausgebildete lieber in englischsprachige | |
| Länder. Kanada, die USA oder Australien sind laut dem jüngsten Global | |
| Talent Survey als Zielland beliebter als Deutschland. | |
| Hilft da die Anwerbung von Telearbeiter:innen, um freie Stellen zu | |
| besetzen? Kann sie ein Weg sein, Migration für Menschen zu ersetzen, die | |
| lieber in ihrem Herkunftsland bleiben wollen? Digitalisierte Telearbeit, | |
| etwa in Callcentern, outgesourct in Länder wie Indien zu deutlich | |
| geringeren Löhnen – das gibt es schon länger. IT-Fachleute hingegen sind so | |
| gefragt, dass sie mit besseren Bedingungen rechnen können. Doch wie gerecht | |
| ist es, dass das globale Lohngefälle für gleiche Arbeit bei solchen | |
| Arbeitsmodellen zumindest in Teilen erhalten bleibt? | |
| Hecker feilte drei Jahre an seiner Idee. 2019 gründete er AmaliTech, als | |
| gemeinnützige Non-Profit-GmbH. Im Oktober des gleichen Jahres startete das | |
| erste Ausbildungsprogramm in Ghana. Hecker stellte seine Tochter als | |
| Marketingbeauftragte ein, und als er 2020 bei der Boston Consulting Group | |
| ausstieg, nahm er AmaliTech mit. | |
| Im Oktober 2021 kam Ruandas Hauptstadt Kigali als zweiter Standort hinzu. | |
| Die Räumlichkeiten dort liegen in einem Bau in der 114. Straße, im Westen | |
| Kigalis, nicht weit vom Universitätscampus entfernt. Seit Oktober leitet | |
| Roger Uwayezu, 27 Jahre, dünn und hoch aufgeschossen, hier das | |
| Trainingsprogramm von AmaliTech. Als er 1994 in Kigali geboren wurde, litt | |
| das Land unter einem der schlimmsten Kriege des Kontinents. Später | |
| stabilisierte der autoritär regierende Präsident Paul Kagame das Land. Ein | |
| stetiger wirtschaftlicher Aufschwung setzte ein, das Land wird oft „Schweiz | |
| Afrikas“ genannt. Seit 2017 ist Ruanda Teil eines von Deutschland | |
| initiierten Förderprogramms im Rahmen der G20 namens „Compact with Africa“. | |
| Dessen Ziel: Arbeitsplätze schaffen und so den Migrationsdruck Richtung | |
| Europa reduzieren. | |
| Roger Uwayezu war einer der ersten Studierenden am Kepler Campus in Kigali, | |
| einem von der schwedischen Ikea-Stiftung finanzierten Projekt. Afrikanische | |
| Studierende können dort den Abschluss einer privaten Non-Profit-Universität | |
| aus den USA erwerben. Danach arbeitete Uwayezu als Trainer in einem Projekt | |
| für weibliche Software-Entwicklerinnen. „Es war sehr ähnlich wie das, was | |
| wir heute hier machen.“ Uwayezu selbst war noch nie in Europa. „Die | |
| einzigen Länder, die ich kenne, sind Uganda und Kenia.“ Deutschland sei „in | |
| Bezug auf die Technologie sehr fortschrittlich“, glaubt er. Viel wisse er | |
| aber nicht über Deutschland. | |
| Ab dem Spätsommer 2021 konnten Interessent:innen sich für den ersten | |
| Durchlauf melden. Uwayezu bekam 122 Bewerbungen, 15 Kandidat:innen | |
| kamen durch. Im Dezember sollen weitere 15 hinzukommen. Am 4. Oktober | |
| begann das erste Trainingsprogramm. „Die meisten werden für ein | |
| europäisches Unternehmen arbeiten“, sagt Uwayezu. | |
| Eine von ihnen ist Tharcissie Idufashe. Sie ist 25 Jahre alt, beherrscht | |
| fünf Programmiersprachen, das lockige Haar hat sie kurz geschnitten, sie | |
| trägt eine rote Brille. Vier Jahre studierte sie in Kigali Informatik, bis | |
| heute wohnt sie bei ihren Eltern in einem Einfamilienhaus im Bezirk | |
| Kicukiro und lebt vom Taschengeld, das ihre Eltern ihr zahlen. Die Familie | |
| ist Teil einer wachsenden afrikanischen Mittelschicht, in der Familien | |
| selten mehr als zwei Kinder haben, diese dafür auf eine Universität | |
| schicken können – und die im Afrika-Bild im Norden der Welt kaum auftaucht. | |
| Mit dem Programmieren hat Idufashe schon in der Schule begonnen, später | |
| besuchte sie die Akademie, an der Uwayezu beschäftigt war. Sie hat ein | |
| Linked-In-Profil, einen Masterabschluss, vernetzt sich mit | |
| Programmierer:innen in anderen Teilen der Welt in | |
| Tech-Social-Media-Foren. Bevor sie zu AmaliTech kam, war sie Praktikantin | |
| bei einem Unternehmen, das Tastaturen für verschiedene afrikanische | |
| Sprachen entwickelt. | |
| Idufashe ist Teil einer Generation, die davon profitiert, dass die | |
| Volkswirtschaften keines anderen Kontinents so schnell wachsen wie jene | |
| Afrikas. Ruanda hat sie noch nie verlassen. Über Deutschland sagt sie: „Ich | |
| kenne den Fußball, ich kenne das Bier und die Würste, ich kenne auch den | |
| Schwarzwald.“ Was Afrikaner:innen auf dem Weg dorthin geschieht, davon | |
| hat sie schon vieles gehört. „Jeder hat seine eigenen Gründe“, sagt sie. | |
| Aber: „Woher wissen sie, dass sie das, was sie wollen, in Europa auch | |
| bekommen?“ | |
| Es ist die Haltung vergleichsweise wohlhabender Afrikaner:innen, für die | |
| eine Auswanderung keine zwingende Notwendigkeit ist, das eigene Überleben | |
| zu sichern. „Illegal dort zu leben ist ein Problem. Du wirst auf der Flucht | |
| sein und die Leute werden dich jeden Tag verfolgen.“ | |
| So sieht Idufashe ihre eigene Zukunft eher in Afrika. Dass sie dort als | |
| Frau auf dem Arbeitsmarkt benachteiligt wird, glaubt sie nicht. „Ich kann | |
| sagen, dass ich alles, was ein Mann kann, auch kann.“ Letztlich sei aber | |
| ihr Ziel, sich selbständig zu machen, mit einer eigenen Softwarefirma: „Ich | |
| würde gerne für mich selbst arbeiten, anstatt für andere.“ Die | |
| Voraussetzungen dafür seien in Ruanda gut – „vor allem wegen des | |
| Glasfasernetzes, das die ruandische Regierung verlegt hat. Im ganzen Land | |
| investiert die Regierung stark in die Technologie, jedes Jahr werden viele | |
| IT-Schulen eröffnet.“ In zehn Jahren wolle sie „ein eigenes Codesystem | |
| erstellen, ohne auf die Arbeit anderer zu verweisen.“ | |
| Doch erstmal wird sie ausführen, was andere vordenken. Nach dem Training | |
| werden Idufashe und die anderen Teilnehmer:innen bei AmaliTech | |
| angestellt. Sie arbeiten in Projektteams für deutsche Softwarefirmen, die | |
| Martin Hecker als Kunden anwirbt – wie die Nexum AG von Georg Kühl. | |
| Schon vor Jahren hätten Kollegen aus Marokko ihm berichtet, dass viele | |
| französische Unternehmen in Nordafrika große Technik-Hubs aufbauen, sagt | |
| Kühl. „Mit Französisch konnten wir uns das aber nicht vorstellen.“ Andere | |
| Softwarefirmen hätten ähnliche Modelle in Vietnam oder Indien, Kühl hält | |
| die erhebliche Zeitdifferenz für ein Problem. Afrikanische Länder wie Ghana | |
| und Ruanda hätten da gleich mehrere Vorteile: „Die fast gleiche Zeitzone, | |
| politisch stabile Verhältnisse, exzellente Ausbildungsmöglichkeiten“, und | |
| eben die englische Sprache. | |
| Bei einem Besuch in Ghana im Herbst 2020 sei festgelegt worden, welche | |
| Arbeiten für die Kooperation von Nexum und AmaliTech genau in Frage kommen. | |
| „Wir haben Bereiche gesucht, in denen wir gut online schulen können“, sagt | |
| Kühl. Wie funktioniert die Zusammenarbeit über solche Entfernungen, mit so | |
| unterschiedlichen kulturellen Hintergründen? Die Teams arbeiten nach einem | |
| Modell namens Scrum, einem in Japan entstandenen Projektmanagement-Konzept | |
| für kleine Entwicklergruppen. Das ermögliche „integratives, schnelles | |
| Zusammenarbeiten“, sagt Hecker dazu. „Es war natürlich herausfordernd, aber | |
| wir sind total happy damit“, sagt Kühl. | |
| In Ghana und Ruanda liegt der Monatslohn für IT-Fachkräfte mit bis zu fünf | |
| Jahren Berufserfahrung laut Hecker bei umgerechnet 700 bis 1.000 Euro. | |
| „Beim Einstieg sind wir mit unseren Löhnen in dem Bereich, dann kommen wir | |
| drüber.“ Dies seien „Marktpreise“, so Hecker. Lokale, wohlgemerkt. Bei d… | |
| lokalen Lebenshaltungskosten ist es kein schlechtes Einkommen. Gleichzeitig | |
| ist es deutlich weniger als IT-Absolvent:innen in Deutschland kosten. | |
| Florian Haggenmiller, der bei Verdi die Fachgruppen Telekommunikation und | |
| Informationstechnologie leitet, schätzt das Einstiegsjahresgehalt | |
| hierzulande auf circa 30.000 Euro. | |
| Wie viel trägt dieser erhebliche Lohnunterschied zu Kühls Happiness bei? | |
| Kosten seien „logischerweise immer ein Faktor“, sagt der. Viel wichtiger | |
| aber sei die Frage: „Bekomme ich überhaupt noch wen?“ Wie viel genau Nexum | |
| mit den AmaliTech-Programmier:innen gegenüber den Kosten für vergleichbare | |
| deutsche IT-ler spart, lasse sich nicht genau beziffern, sagt Kühl. „Es ist | |
| sicherlich günstiger als in Europa.“ Er verweist darauf, dass Nexum | |
| „bewusst Arbeitsplätze vor Ort schafft, das hat in der Entwicklungshilfe ja | |
| leider jahrelang nicht so funktioniert.“ Die Beschäftigten hätten | |
| „Arbeitsverträge und Karrierechancen“. | |
| Hinzu komme noch etwas: Junge Mitarbeiter:innen, die Nexum in Europa | |
| einstelle, „kommen nicht wegen des Mammons“, sagt Kühl. „Die interessiert | |
| immer mehr: Wie stiftet man Nutzen?“ Arbeitsplätze in Afrika zu schaffen | |
| sei ein solcher Nutzen. | |
| „Grundsätzlich sehen wir das so, dass gleiche Arbeit auch gleich bezahlt | |
| werden muss, egal wo. Das erwarten wir von Unternehmen“, sagt der | |
| Gewerkschafter Haggenmiller dazu. Es gebe im Software-Bereich ganz | |
| unterschiedliche Modelle mit geografisch verteilten Beschäftigten und teils | |
| sehr unterschiedlichen Konditionen. Dass AmaliTech überhaupt | |
| Arbeitsverträge abschließe und Löhne über dem lokalen Niveau zahle, sei | |
| „als Rahmenbedingung aber erstmal ganz gut“. In jedem Fall aber empfiehlt | |
| er Beschäftigten in global vernetzten Teams, sich gemeinsam | |
| gewerkschaftlich zu organisieren. „Das ist mittlerweile durchaus auch | |
| international möglich.“ | |
| Die Kunden wie Nexum zahlen für die Dienstleistungen von AmaliTech, welche | |
| als gGmbH keine Gewinne macht. Die Einnahmen fließen in die Gehälter der | |
| afrikanischen Programmier:innen und in die Kosten für die | |
| Trainingsprogramme. Die werden zusätzlich vom Bundesministerium für | |
| wirtschaftliche Zusammenarbeit gefördert. Denn Jobs schaffen in Afrika, | |
| nicht nur, aber auch um irreguläre Migration einzudämmen – das war eines | |
| der liebsten Themen des gerade aus dem Amt geschiedenen | |
| CSU-Entwicklungsministers Gerd Müller. 2016 hatte der einen „Marshallplan | |
| für Afrika“ präsentiert. Ein Teil dieses Plans ist die „Sonderinitiative | |
| Ausbildung und Beschäftigung“, die wiederum den Verein Digital Skills | |
| Accelerator Africa e.V. finanziert. AmaliTech ist deren Gründungsmitglied. | |
| Das Geld fließt über die Gesellschaft für internationale Zusammenarbeit. | |
| Wie viel es genau ist, will Hecker nicht sagen. | |
| Heckers Ex-Arbeitgeber BCG hat den Bedarf an Arbeitskräften in Deutschland | |
| für den IT-Bereich ausgelotet. Demzufolge fehlen heute 87.000 Fachkräfte. | |
| Die Zahl werde sich „jedes Jahr erhöhen“ und könnte 2030 auf mehr als eine | |
| Million fehlende Spezialist:innen im digitalen Sektor angewachsen sein. | |
| Der Gewerkschafter Haggenmiller hält dieses Problem zum Teil für | |
| hausgemacht. „Wir haben hier durchaus junge Fachkräfte auf dem Markt, die | |
| möglicherweise gewisse Weiterqualifizierung brauchen“, sagt er. „Da tun aus | |
| unserer Sicht die IT-Unternehmen zu wenig, um diese Qualifizierung hier | |
| anzubieten oder auch selbst auszubilden. Das müsste eine viel größere Rolle | |
| spielen.“ | |
| Qualifizierung will aber auch Roger Uwayezu, der AmaliTech-Trainingsleiter, | |
| anbieten. Er sagt: „Hier gibt es eine Menge Arbeiter, die keine Arbeit | |
| haben.“ Deren Talente wolle man entwickeln und gleichzeitig Arbeitsplätze | |
| für sie schaffen. Das helfe langfristig auch dem Tech-Sektor in Ruanda, | |
| glaubt Uwayezu. „Wenn sie mit großen Unternehmen in Europa | |
| zusammenarbeiten, werden sie dabei viele Dinge lernen.“ | |
| Die IT-Curricula an den Universitäten in Afrika und Europa seien „sehr | |
| ähnlich“, sagt AmaliTech-Gründer Hecker. Was den Studierenden in Afrika | |
| fehle, seien praktische Übungen. „Das ist das Wichtigste, was wir im | |
| Trainingsprogramm tun: Die Anwendung des Theoriewissens im konkreten | |
| Projekt.“ Die Trainees entwickelten eigene Software-Anwendungen und | |
| lernten, wie sie diese bei den Kunden präsentieren. „Softskills“, sagt | |
| Hecker. | |
| Das kostenlose Training dauert sechs Monate, in dieser Zeit gibt es keine | |
| reguläre Entlohnung – nur „Mittagessen“. „Menschen bewerben sich auf a… | |
| Mögliche“, sagt Martin Hecker, „wir müssen verhindern, dass viele nur | |
| hingehen, weil sie ein bisschen Geld verdienen können“. Doch wer die | |
| Ausbildung schaffe, der „kriegt auf jeden Fall ein Jobangebot“. Die | |
| Teilnehmer:innen müssten während der Zeit Tests ablegen. „Wer gut ist | |
| oder bedürftig, kriegt ein Stipendium.“ Am Standort Accra liege dessen Höhe | |
| bei umgerechnet 80 Euro im Monat. | |
| Laptop und Bildschirm werden gestellt, über das Mobilfunknetz können die | |
| Teilnehmer:innen von zu Hause arbeiten. „Für Videobearbeitung würde das | |
| nicht gehen, aber für Daten kommt man gut zurecht.“ In Ghana haben gleich | |
| zwei Internet-Konzerne Glasfaserkabel verlegt. Schnelleres Netz gibt es in | |
| Berlin auch nicht. Bei Übernahme zahlt AmaliTech – lokale – | |
| Sozialleistungen und Krankenversicherung. „Viele Teilnehmer:innen haben | |
| zum ersten mal feste Jobs“, sagt Hecker. Die Pandemie dürfte seinem Konzept | |
| Auftrieb verliehen haben. Telearbeit hat seit Beginn der Coronakrise einen | |
| ganz neuen Stellenwert erfahren. | |
| AmaliTech ist so angelegt, dass die Absolvent:innen in Afrika bleiben. | |
| Doch wenn längere Arbeitsbeziehungen entstehen, sollen sich die | |
| Teammitglieder auch persönlich kennenlernen. „Die ersten waren schon zu | |
| Besuch da“, sagt Hecker. „Wir wollten mit unserem Team im Februar nach | |
| Ghana runterfahren“, sagt Nexum-Manager Kühl. „Aber wegen Corona ist das | |
| nun etwas schwierig.“ | |
| Telearbeiter:innen mit geringeren Löhnen aus Afrika, um deutschen | |
| Fachkräftemagel zu lösen, ohne Migranten ins Land zu lassen – man kann dies | |
| als Konzept sehen, das es der Wirtschaft und den konservativen Betonköpfen, | |
| die von ihrer „Kein Einwanderungsland“-Lebenslüge nicht loskommen wollen, | |
| gleichermaßen recht macht. Doch ein solcher Blick hält fest an der | |
| Vorstellung, dass es nichts Erstrebenswerteres geben kann, als im reichen | |
| Europa zu leben. Ein Irrtum. Tatsächlich gibt es viele Afrikaner:innen | |
| wie Tharcissie Idufashe, die sich eine Auswanderung zwar vorstellen können, | |
| aber lieber im eigenen Land bleiben wollen, nahe bei Familie und | |
| Freund:innen, wenn sich ihnen dort wirtschaftliche Möglichkeiten bieten. | |
| Wer also will was von wem? Die Antwort auf diese Frage wird sich in den | |
| kommenden Jahren verschieben. | |
| Denn die lokalen Perspektiven bieten sich zunehmend, zumindest für gut | |
| Ausgebildete in Afrika: Die fünf am schnellsten wachsenden | |
| Volkswirtschaften der Welt liegen in Afrika. Von 2015 bis 2020 stieg die | |
| Zahl der afrikanischen Tech-Start-ups, die Risikokapital als Aufbauhilfen | |
| bekamen, jedes Jahr um durchschnittlich 46 Prozent – etwa sechsmal | |
| schneller als der weltweite Durchschnitt. Alle diese Firmen brauchen | |
| Arbeitskräfte. Anfang Oktober kündigte Google eine Milliardeninvestition in | |
| Afrika an, unter anderem ein Labor für künstliche Intelligenz in Ghana. | |
| Facebook eröffnet Rechenzentren in Lagos in Nigeria und will den gesamten | |
| Kontinent mit 37.000 Kilometer langen Unterwasser-Internetkabeln vernetzen. | |
| Es ist wohl nur eine Frage der Zeit, bis auch in Afrika junge IT-Fachleute | |
| nicht hoffen müssen, dass sie einen Job bekommen, sondern wählen können, | |
| welchen sie nehmen. | |
| Das könnte für Deutschland zum Problem werden. Schon 2001 legte die vom | |
| damaligen SPD-Innenminister Otto Schily eingesetzte „Unabhängige Kommission | |
| Zuwanderung“, besser bekannt als „Süssmuth-Kommission“, einen | |
| Empfehlungskatalog vor. Mindestens 50.000 Menschen pro Jahr sollten als | |
| Arbeitskräfte nach Deutschland kommen, um die Zahl der Menschen in | |
| arbeitsfähigem Alter konstant zu halten. Diese Lücke wurde von | |
| Wirtschaftsforscher:innen seither als immer größer angesehen – denn | |
| die Geburtenraten sinken. Doch es kommen nicht genug. | |
| Es war vor allem Rita Süssmuths eigene Partei, die CDU, die einer | |
| entsprechenden Öffnung skeptisch gegenüber steht – bis heute. Überlegungen | |
| der neuen Ampel-Koalition, abgelehnten Asylsuchenden die Möglichkeit zu | |
| geben, eine Aufenthaltserlaubnis zum Arbeiten zu beantragen, nannte Norbert | |
| Röttgen, der als am liberalsten geltende Kandidat für den CDU-Vorsitz, das | |
| „definitiv falsche Signal“. Es befördere die „Armuts- und | |
| Wirtschaftsmigration nach Deutschland“ und wäre deshalb „ein fataler | |
| Fehler“. | |
| So warnt die Wirtschaftspartei CDU vor „Wirtschaftsmigration“, während die | |
| Wirtschaft selbst kaum etwas dringender wünscht als neue Arbeitskräfte. Der | |
| Deutsche Industrie- und Handelskammertag warnt vor gravierenden Folgen: | |
| Durch Personalknappheiten stehen „Wachstums- und Wohlfahrtspotenziale | |
| ebenso wie öffentliche Einnahmen auf dem Spiel“. Fast neun von zehn | |
| Unternehmen erwarten Probleme wegen des Fachkräftemangels, rund die Hälfte | |
| rechnet damit, dass sie Aufträge verlieren oder ablehnen müssen, weil | |
| nötiges Personal fehlt. | |
| Eigentlich hatte das 2020 in Kraft getretene Fachkräftezuwanderungsgesetz | |
| dieses Problem lindern sollen. Doch weil die Union es nie wirklich wollte, | |
| gestaltete sie es derart mutlos aus, dass nicht die dadurch erhofften | |
| 50.000 Arbeitskräfte pro Jahr mehr kommen, sondern bislang – sicher auch | |
| durch Corona – weniger als zuvor: 2020 sank die Zahl der Anträge auf | |
| Anerkennung ausländischer Berufsabschlüsse bei den deutschen Behörden um | |
| drei Prozent auf 42.000. Deutschland müsse Zuwanderer ins Land holen, sagt | |
| der Bundesagentur-Chef Detlef Scheele, und zwar 400.000 pro Jahr: „Man kann | |
| sich hinstellen und sagen: Wir möchten keine Ausländer. Aber das | |
| funktioniert nicht.“ | |
| Und so könnten Menschen wie Tharcissie Idufashe oder Marie Rene Iradukunda | |
| zunehmend für deutsche Firmen interessant werden. Auch Iradukunda ist eine | |
| der Trainees bei AmaliTech. Sie ist 24 Jahre alt und stammt aus der Provinz | |
| Kamonyi. An der Universität von Ruanda hat sie im College für Wissenschaft | |
| und Technologie studiert, danach besuchte sie – ähnlich wie Idufashe – eine | |
| Akademie namens „She Can Code“. Auch Iradukunda wohnt im Haus ihres Vaters | |
| und lebt von seiner Unterstützung, die Mutter ist vor ein paar Jahren | |
| gestorben. „Das Einzige, was ich über Deutschland weiß, ist, dass es unser | |
| Land kolonisiert hat“, sagt sie. | |
| An der Uni und bei She Can Code habe sie Programmieren gelernt, aber sie | |
| sei sicher, dass sie bei AmaliTech viel neues lerne. „Die Technik bleibt | |
| nicht stehen, sie entwickelt sich jeden Tag weiter“, sagt sie. Sie könne | |
| sich vorstellen, im Technologiesektor in Ruanda zu arbeiten. „Ich weiß | |
| nicht, wie hoch mein Gehalt sein wird, aber wenn ich einen Job bekomme, | |
| werde ich jedes Angebot annehmen.“ | |
| Etwa 250 Afrikaner:innen haben das AmaliTech-Programm in Ghana | |
| durchlaufen, in Kigali läuft der erste Durchgang. Rund 150 Jobs habe | |
| AmaliTech selbst geschaffen. „Nicht alle nehmen das Angebot an“, sagt | |
| Hecker. Es gebe keine Verpflichtung, für einen der AmaliTech-Kunden zu | |
| arbeiten. „Auch andere Firmen stellen die Teilnehmer ein oder diese machen | |
| sich selbständig. Wir haben mittlerweile eine gewisse Reputation.“ Etwa 100 | |
| der Absolvent:innen würde heute anderswo arbeiten. Damit neue | |
| nachkommen, machen die deutschen Außenhandelskammern das Projekt bekannt, | |
| Hecker stellt es auf Jobmessen in Städten wie Accra, Kumasi oder Kigali | |
| vor. | |
| In den nächsten fünf Jahren will er 1.000 Jobs schaffen, langfristig soll | |
| es 3.000 Auszubildende geben. Welche anderen Staaten als Standorte in Frage | |
| kommen, sei „eine gute Frage“, sagt er. Erst mal wolle er die Dependancen | |
| in Ghana und Ruanda weiter ausbauen. „Darüber hinaus haben wir keine | |
| direkten Expansionspläne. Aber wir schließen das nicht aus.“ | |
| Bisher hat Martin Hecker nur in Deutschland Kunden gesucht, doch das müsse | |
| nicht so bleiben. Schweiz, Österreich, Holland, Skandinavien, | |
| Großbritannien – „wo man mit englischer Sprache gut was machen kann, da | |
| könnten wir auch hin“, sagt er. | |
| 6 Dec 2021 | |
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