# taz.de -- Corona und seine Folgen: Die Kunst macht ihren Job nicht | |
> Die Pandemie hat uns verändert. Nur wie? Statt uns dabei zu helfen, das | |
> herauszufinden, zeigen Fernsehserien reine Nostalgie-Szenarien. | |
Bild: Die Serie Eldorado KaDeWe zeigt uns, wie richtig gefeiert wird – eine v… | |
Im Jahr 2049 sitzt ein Astronaut im Weltall und schaut sich den alten | |
Gregory-Peck-Post-Apokalypse-Klassiker „On the Beach“ von 1959 an. | |
Überlebensgroß an die Wand gebeamt: ein Mann, eine Frau, die flirrende | |
Sonne, der Strand. Derweil geht die Menschheit auf der Erde gerade unter. | |
Im Jahr 2012 lebt ein Biologe samt Hund im sonst menschenleeren New York, | |
alle anderen Lebewesen tot, ein Virus ist schuld, drei Jahre her. Ein | |
Gewehr über der Schulter zieht er durch die Straßen, landet ab und an in | |
der zugestaubten Videothek und leiht sich DVDs aus, er ist inzwischen bei | |
dem Buchstaben „G“ angekommen. Zu Hause flimmern auf dem kleinen | |
Küchenfernseher aufgezeichnete Nachrichtensendungen von früher, in denen | |
sich das Moderationsduo über Neuschnee in New York amüsiert. | |
Was Will Smith in „I am Legend“ von 2007 und George Clooneys „Midnight Sk… | |
von 2020 zeigen, ist ein klassischer Science-Fiction-Topos: Die Welt, wie | |
sie mal war, existiert nicht mehr. Wer überlebt hat, zieht sich regelmäßig | |
alte Filme rein. Von damals, als alles noch „normal“ war. Die Welt im | |
Bildschirm, sie ist ein Trost. Der permanente Stream von gestern | |
wohltuender Eskapismus. Bloß weg vom Heute. | |
Das „Bloß weg hier“, das Sich-weg-Wünschen vom realen Alltag, [1][lag auf | |
der Hand im März 2020,] okay im gesamten Frühjahr. Weil: Ist ja bald | |
vorbei. Wenn der Sommer kommt. Sicher im Herbst. Garantiert, wenn der | |
Impfstoff da ist. Die paar Wochen, vielleicht ein paar Monate. Her mit den | |
Filmen, die uns daran erinnern, wie gut wir’s hatten! Zwanglos, | |
abstandslos, ansteckungslos. Nur: Wir hängen da immer noch. Und die Kunst | |
lässt uns auf ganzer Linie im Stich. | |
## Binge-Watching um sich besser zu fühlen | |
Nichts gegen Eskapismus: Wie gut dieses Sich-weg-Schauen allen tut, die | |
sich gestresst fühlen oder einsam, wenn Ängste langsam über die Schulter | |
kriechen, wenn das Drumherum eher pessimistische Perspektiven bietet, ist | |
ausführlich erforscht. Unzählige psychologische Studien belegen, wie | |
[2][Binge-Watching und Streamingangebote] helfen, sich in emotionalen | |
Ausnahmezuständen besser zu fühlen. | |
In der Regel drehen sie sich nur ums Glotzen selbst, ums „Wie häufig“ und | |
„Wie lange“. Ein Team [3][von Gesis – Leibniz-Institut für | |
Sozialwissenschaften] schaute sogar explizit auf den Inhalt und koppelt den | |
Eskapismus an nostalgische Narrative, alte Filme, Heile-Welt-Szenarien von | |
„davor“. Die im Spätsommer 2021 erschienene Studie zeigt zwar ein | |
gemischtes Bild – die einen schauen explizit Nostalgiekram, die anderen nie | |
– nur: Die Studie ist kompletter Quark. Weil: Die Prämisse ist falsch. | |
Denn auch die neuen Filme und Serien, die derzeit laufen, sind reinste | |
Nostalgie. Die Wochenendkrimis, täglichen Serien wie „Rote Rosen“ oder „… | |
aller Freundschaft“: Die Menschen sind wie früher. Das Miteinander: wie | |
früher. Die Probleme und die Freuden: die gleichen wie vor März 2020. | |
Zugespitzt: Wir haben nur die Wahl zwischen Realität, also pandemielastigen | |
Nachrichtensendungen und Dauerpolittalk-Runden zu Corona auf der einen | |
Seite und Serien und Filmen mit „Alles wie immer“-Stoff. Das reicht nicht | |
mehr. Wir stecken seit fast zwei Jahren in dieser neuen Realität. Mag sein, | |
dass wir das gerne verdrängen. Oder uns sträuben, es wahrzuhaben. Aber wir | |
wissen alle: Wir sind längst andere. Wir wissen nur nicht, wie. Wie genau | |
anders wir sind. Wie genau anders wir uns fühlen. Wie genau anders es | |
bleiben wird. | |
Und die Filmwelt, die uns einen Spiegel vorhalten könnte, damit wir uns | |
orientieren können, verdrängt es ebenfalls. Dabei ist es auch die Aufgabe | |
von Kunst, Abbild zu sein, zum Abgleich in diesem neuen Sein, dem dauerhaft | |
verschobenen Miteinander. Die Kunst macht gerade ihren Job nicht. | |
Geschenkt, dass die Filme in den ersten Pandemiemonaten so schräg neben der | |
Realität lagen. War nicht anders zu erwarten: Das Zeug war schon gedreht, | |
produziert und konnte deswegen natürlich kein „Jetzt“ abbilden. | |
## Ohne inhaltliche Bedeutung | |
Ab Winter 2020 tauchten ab und an mal Menschen mit Mund-Nasen-Masken auf. | |
Im Berliner „Tatort“ „Die dritte Haut“, bei „In aller Freundschaft“… | |
eher wie ein Dekoelement, ohne inhaltliche Bedeutung. Die einen hatten sie | |
mal kurz auf, andere nicht, dann saßen dennoch alle dicht an dicht im | |
Verhörraum. Die Differenz zu unserer gelebten Realität bleibt damit in | |
jeder Filmminute so groß, dass es knirscht, als trieben zwei | |
Kontinentalplatten immer weiter auseinander. | |
Und ja, manche Serien gingen konsequent einen Schritt weiter, die | |
US-Krankenhausserie „Grey’s Anatomy“ platzierte eine Staffel | |
vollumfänglich mitten in die Pandemie, samt Masken, Sauerstoffgeräten, | |
Ganzkörperraumanzügen – und schützte praktischerweise damit gleich das | |
Ensemble mit; die aktuelle Staffel ist in einer „Post-Covid“-Welt | |
angesiedelt, wie eine Vignette vor der ersten Episode verkündete – und | |
funktioniert wieder „wie immer“. | |
Die Dramaserie „The Morning Show“ mit Reese Witherspoon und Jennifer | |
Aniston erzählt die Story von Staffel zwei vor dem Hintergrund der | |
beginnenden Pandemie, samt Erkrankungen, Sendungen von zu Hause vorm | |
Bücherregal. Ganz deutlich: Es geht nicht um die naturgegebene | |
Zeitverzögerung im Produktionsablauf. Es geht auch nicht um [4][die | |
sichtbaren Pandemiemerkmale] wie Masken, die uns hier und da wie ein Anker | |
zugeworfen werden. | |
Es geht darum, wie wir uns verändert haben. Als Menschen. Wie sich unser | |
Miteinander verschiebt, wie Freundschaften verblassen, sich neu definieren | |
müssen. Weil Abstand, Sorge, Überlastung – im Job, in der Familie, im | |
finanziellen Überleben – dominieren. Es geht darum, was es mit uns macht, | |
wenn wir uns nicht mehr anreichern können: im Austausch mit anderen, mit | |
einem physischen Gegenüber. Im Unterwegssein, in Museen, Kinos und Kneipen | |
gehen. Und uns zugleich unsere Zeit für Quark zu kostbar ist. | |
## Dafür noch mehr Nostalgie | |
Es geht darum, wie unsere Wahrnehmung sich verschoben hat. Wenn schneller | |
alles zu viel wird. Und unsere Sinne überfordert sind, nur weil zur Musik | |
im Park noch Grillgeruch und ein Pulk auf Fahrrädern dazukommt. Es geht | |
darum, wie psychische und emotionale Belastungen Spuren hinterlassen: Weil | |
viele, die im Supermarkt arbeiten, in Geschäften, an Tankstellen oder in | |
der Pflege jeden Tag Frust und Diskussionen aushalten müssen. Und Angst | |
bekommen. [5][Weil die Kundschaft keine Masken trägt oder nur auf Halbmast. | |
Und dann Beleidigungen brüllt, spuckt, handgreiflich wird]. | |
Das sind nicht nur individuelle Anekdoten oder Eindrücke, die wir uns | |
gegenseitig erzählen. Oder eben eher: schon lange nicht mehr erzählen. Die | |
Statistiken belegen längst, wie allumfassend und langfristig die Folgen | |
sind: Häusliche Gewalt hat zugenommen. Mehr Menschen haben Depressionen | |
oder Angstzustände, die Kinder- und Jugendpsychiatrien schlagen seit über | |
einem Jahr Alarm. Die Chance, schnell einen Therapieplatz zu bekommen, ist | |
geringer denn je. [6][Weltweit trinken Menschen mehr Alkohol]. Und damit | |
sind wir wieder bei der häuslichen Gewalt. Lauter Symptome für: Wir stecken | |
mittendrin. Wir sind längst andere. | |
Doch das deutsche Fernsehen entscheidet derweil, dass wir noch mehr | |
Nostalgie brauchen. [7][„Wetten, dass..?“ und „TV total“] tauchen wieder | |
auf, als hingen wir noch in den 1980ern oder den Nullerjahren. Zwischen den | |
Jahren startet die ARD-Serie „Eldorado KaDewe“ über das Berliner Kaufhaus | |
in den 1920ern, programmatisch passender Untertitel: „Jetzt ist unsere | |
Zeit“. Dazu die ganzen Retroregale in den Mediatheken, von „Dalli Dalli“ | |
über „Schwarzwaldklinik“ bis zu „Lehrer Dr. Specht“, von „Aktuelle K… | |
bis „Polizeiruf 110“-Folgen aus den Jahren bis 1989. Die Wochenzeitung Die | |
Zeit machte unlängst schon eine „Retrotopia“ in der Film- und | |
Fernsehlandschaft aus. | |
## Wo ist die Kunst? | |
Und selbst die Chancen, die sich Sender selbst basteln, nutzen sie nicht. | |
Im Februar zeigt das Erste den Film „Die Luft, die wir atmen“ (verschoben, | |
geplante Ausstrahlung war im November). Er spielt im Pflegeheim. Ein | |
zarter, starker Ensemblefilm. Aber nirgends eine Spur, wie die Pandemie | |
Spuren hinterließ. Dazu hatte man sich gerade über mehrere Wochen einen | |
„Near Future“-Schwerpunkt ins Programm gebaut. Aber keiner der | |
Mittwochabend-Spielfilme thematisierte die Pandemiefolgen. Jetzt, zwei | |
Jahre seit Beginn. | |
Ausgerechnet die frische [8][„Sex and the City“-Neuauflage „And Just Like | |
That“] – noch so eine Nostalgienummer – versucht es zumindest. Sie setzt | |
direkt in einem „Danach“ ein. Und wie nebenbei taucht zumindest anfangs | |
auf, was anders ist: zu viele Menschen, zu nah; umarmen oder lieber nicht; | |
die eine, die nicht da ist, ist sie tot oder nur woanders? | |
All das sparen Fernsehfiktionen derzeit aus. Kein Zögern, kein Nachdenken. | |
Figuren, die fundamental verändert sind, ohne genau zu wissen, wie, die | |
permanent versuchen, neue Grenzen auszuhandeln – kein Thema. Stattdessen | |
flüchtet sich die Fiktion noch tiefer in die Fiktion. Sie führt die Mär | |
fort, dass die Option auf ein „Zurück“ existiert. Dabei ist „wie immer“ | |
längst ein „ganz anders“. Wo ist die Kunst, wenn man sie wirklich mal | |
braucht. | |
27 Dec 2021 | |
## LINKS | |
[1] /Corona-Tagebuch-der-Hauptstadt/!5671055 | |
[2] /Neuer-Trend-beim-Seriengucken/!5324117 | |
[3] https://psycnet.apa.org/fulltext/2021-86198-001.pdf | |
[4] /Schwerpunkt-Coronavirus/!t5660746 | |
[5] https://www.rbb24.de/panorama/thema/corona/beitraege/2021/12/hass-beleidigu… | |
[6] https://www.oecd.org/coronavirus/policy-responses/the-effect-of-covid-19-on… | |
[7] /Wetten-dass-und-TV-total-zurueck/!5810765 | |
[8] /Sex-and-the-City-Reboot/!5818983 | |
## AUTOREN | |
Anne Haeming | |
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