| # taz.de -- Arbeitskräftemangel in Deutschland: Wer packt mal mit an, bitte? | |
| > Allerorts fehlt Personal. Wirtschaft und Politik müssen gegen den | |
| > demografischen Wandel flexibler auf Arbeitslose und Zugewanderte zugehen. | |
| Bild: Mangelware Flugbegleiter | |
| In einer Bäckerei in Berlin gibt es an manchen Morgen keine belegten | |
| Brötchen mehr: Personalmangel! Eine Kleinfamilie in einem Vorort von Berlin | |
| sucht einen Kitaplatz, aber es gibt keinen: Personalmangel! Dabei würde die | |
| Mutter, examinierte Krankenpflegerin, gern wieder in ihrem Krankenhaus | |
| arbeiten. Denn auch dort herrscht: Personalmangel! | |
| Fehlende Kitaplätze, mangelndes Lehrpersonal, nicht verfügbare | |
| Handwerker:innen, geschlossene Gaststätten, nicht vorhandene Pflegekräfte | |
| und lange Warteschlangen in den Flughäfen, weil | |
| Gepäckabfertiger:innen fehlen: Mancherorts hat man den Eindruck, | |
| Arbeitskräfte seien wie von Zauberhand verschwunden. | |
| Wer in einer [1][Zeitmaschine aus der Jahrtausendwende] in die Jetztzeit | |
| gebeamt würde, der dürfte sich vor Verwunderung die Augen reiben. Vor zwei | |
| Jahrzehnten galt noch das Narrativ: Wir haben Massenarbeitslosigkeit. Jobs | |
| werden durch Roboter ersetzt oder wandern ab nach China. [2][Wer keine | |
| Berufsausbildung hat, ist komplett verloren]. Es droht | |
| Lohndumping-Konkurrenz der Zugewanderten. Tja, Pustekuchen aus heutiger | |
| Sicht. | |
| Niemand weiß zwar, was eine mögliche Rezession demnächst für den | |
| Arbeitsmarkt bedeuten könnte. Aber in der Gegenwart ist derzeit eine Art | |
| internationale Fahndung nach Arbeitskräften ausgerufen. | |
| [3][Bundesarbeitsminister Hubertus Heil (SPD) kündigt an,] dass | |
| Ausländer:innen aus Nicht-EU-Staaten, etwa aus der Türkei, demnächst | |
| als Gepäckabfertiger an hiesigen Flughäfen arbeiten werden. Der Hotel- und | |
| Gaststättenverband fordert, dass Mitarbeiter:innen aus Drittstaaten, | |
| unabhängig von ihrer Qualifikation, ebenfalls demnächst in der hiesigen | |
| Gastronomie tätig werden können. Bisher ist das Ausländerrecht nur für | |
| Bürger:innen aus den Westbalkanstaaten entsprechend gelockert. | |
| Der Arbeitskräftemangel ist eine Folge der Geburtenrückgänge und der | |
| Alterung, des Trends zu höheren Schulabschlüssen, der Landflucht, der | |
| Abwanderungen durch die Corona-Pandemie. Man hat diese Entwicklungen | |
| unterschätzt. Der Personalmangel erfordert nun ein Umdenken: Politik und | |
| Wirtschaft müssen sich auf die Möglichkeiten der vorhandenen und der | |
| potenziellen Arbeitsnehmer:innen einstellen. Die Wirtschaft muss sich | |
| an den Menschen orientieren und nicht umgekehrt. Das erfordert | |
| Kompromissbereitschaft. Und wir müssen uns von drei Irrtümern trennen. | |
| Es war ein Irrtum, zu glauben, dass die „niedrigqualifizierten“ Jobs | |
| verschwinden. Die Erwerbstätigkeit ist im Bereich der Helferberufe fast | |
| doppelt so stark gewachsen wie bei den Fachkräften, sagte unlängst der | |
| Migrationsexperte Herbert Brücker vom Nürnberger IAB-Institut. Der Begriff | |
| „niedrigqualifiziert“ ist eh irreführend. Wer als Helfer:in in der | |
| Paketzustellung, in der Gastronomie, in der Pflege eine 40-Stunden-Woche | |
| stemmt, bringt eine körperliche und mentale Belastbarkeit mit, vor der man | |
| den Hut ziehen sollte, auch wenn die Leute keine dreijährige Fachausbildung | |
| absolviert haben. Deswegen ist der Gedanke absurd, dass man | |
| Langzeitarbeitslose zu Hunderttausenden in Helfertätigkeiten zwingen | |
| könnte. 40 Prozent der Menschen im Hartz-IV-Bezug berichten in Erhebungen | |
| von schweren gesundheitlichen Einschränkungen, sagte | |
| IAB-Arbeitsmarktexperte Mark Trappmann der taz. | |
| Der zweite Irrtum besteht darin, die Zuwanderung entweder als mögliche | |
| Dumping-Konkurrenz auf dem Arbeitsmarkt misstrauisch zu beäugen oder sich | |
| darauf zu verlassen, dass qualifizierte Arbeitskräfte aus dem Ausland | |
| dringend nach Deutschland kommen wollen. Deutschlands Standortnachteil ist | |
| eine schwere Sprache, die zu erlernen mühsam ist und die sonst nur in sehr | |
| wenigen Ländern gesprochen wird. Wer es sich aussuchen kann als | |
| Akademiker:in aus dem Ausland, geht samt Familie lieber in ein Land, in | |
| dem man mit Englisch weitgehend auskommt. | |
| Der dritte Irrtum besteht darin, dass unser viel gelobtes duales | |
| Ausbildungssystem das Nonplusultra sein soll in einer Wirtschaft, in der | |
| wir mehr Zuwanderung brauchen. Ausländische Berufsabschlüsse müssen | |
| leichter anerkannt werden. Eine dreijährige duale Berufsausbildung | |
| hierzulande besteht aus der Arbeit im Betrieb und dem Besuch des | |
| Berufsschulunterrichts mit Lehrbüchern und Prüfungen, und das alles bei | |
| geringer Bezahlung. Von Geflüchteten weiß man, dass sie oft an diesem | |
| schulischen Teil scheitern, weil die Lehrbücher sehr gute Deutschkenntnisse | |
| in Wort und Schrift verlangen. Es wäre leichter, wenn die Leute erst mal | |
| auch mit weniger Vorbildung in eine voll bezahlte Arbeit einsteigen und | |
| dann Sprachkenntnisse und berufliches Wissen nach und nach verbessern | |
| könnten. Auch in Deutschland geborene Langzeitarbeitslose schaffen oft | |
| keine lange Ausbildung. | |
| Auf dem Bildungsmarkt haben sich viele kürzere „Teilqualifikationen“ | |
| entwickelt, etwa Pflege-Basiskurse, Kurse zur Erzieher-Assistentin, zur | |
| sogenannten Elektrofachkraft, zur Verkäuferin mit Computerkassenschein. | |
| Diese Kurse können ein Einstieg sein, dürfen aber nicht zur Sackgasse | |
| werden. Und man muss die Gefahr der Verdrängung im Auge behalten. In einem | |
| Stadtteilprojekt in Berlin wurden Menschen zu „Integrationsassistent:innen“ | |
| weitergebildet. Deren Bezahlung ist niedriger als die der sonst | |
| eingesetzten Sozialarbeiter:innen. | |
| Dennoch: Es führt kein Weg an Flexibilisierungen und Bildungsalternativen | |
| vorbei. Es ist richtig, dass laut [4][Koalitionsvertrag der | |
| Ampel-Regierung] berufsbegleitende Weiterbildungen und Teilzeitausbildungen | |
| gefördert werden sollen. Personalengpässe wird es allerdings weiter geben, | |
| [5][sagen die Prognosen]. Das wird Kompromissbereitschaft bei Kund:innen | |
| erfordern, die mehr bezahlen und länger auf Dienstleistungen warten müssen. | |
| Welche Dienstleistungen unverzichtbar sind und gefördert werden müssen und | |
| welche nicht, das könnte sich sogar zu einer hochpolitischen Frage | |
| entwickeln. | |
| 4 Jul 2022 | |
| ## LINKS | |
| [1] /Optimismus-in-der-ostdeutschen-Provinz/!5860647 | |
| [2] /Studie-zu-Bildungsgrundeinkommen/!5863263 | |
| [3] /Massnahmen-gegen-Chaos-an-Flughaefen/!5861215/ | |
| [4] https://www.spd.de/fileadmin/Dokumente/Koalitionsvertrag/Koalitionsvertrag_… | |
| [5] /Personalmangel-in-Deutschland/!5862955/ | |
| ## AUTOREN | |
| Barbara Dribbusch | |
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