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# taz.de -- Präsidentin von Pflegerat zu Corona: „Eine humanitäre Katastrop…
> Christine Vogler vom Deutschen Pflegerat glaubt nicht, dass sich durch
> die Ampel für Pfleger:innen viel verbessern wird. Über das Wegschauen
> in der Debatte.
Bild: Sehenden Auges in die Pflegekatastrophe: Proteste zum Internationalen Tag…
taz: Frau Vogler, in Kliniken und Heimen stehen Betten leer, weil
Pflegepersonal fehlt. Schwerstpflegefälle finden mancherorts keine
[1][ambulanten Pflegedienste] mehr, die sie zu Hause versorgen. Wie
bedrohlich ist die Unterversorgung in der Pflege?
Christine Vogler: Wir haben in allen pflegerischen Bereichen massiven
Personalmangel. Derzeit reden wir von 200.000 fehlenden Pflegefachkräften,
und das werden in Zukunft noch viel mehr, denn die Zahl der
Pflegebedürftigen, die heute schon bei mehr als 4 Millionen liegt, steigt
weiter.
Wie äußert sich die Unterversorgung in der Praxis?
In der ambulanten Pflege erleben wir, dass beispielsweise Familien mit
Kindern, die zu Hause beatmet werden, keine ambulanten Fachkräfte mehr
finden. In manchen Heimen herrschen Verwahrsituationen. Dann werden nur
noch die Vitalfunktionen aufrecht erhalten, die Menschen werden nicht
mehr aus den Betten geholt, nicht mehr mobilisiert, es finden keine
Gespräche mehr statt. Der Personalmangel führt zur Überlastung und zur
Frustration bei den Pflegekräften, die können gar nicht anwenden, was sie
über gute Pflege gelernt haben. Sie verlassen dann lieber den Beruf.
Aber es wird doch immer berichtet, dass mehr junge Leute heute eine
Ausbildung in der Pflege beginnen.
Viele Auszubildende unterschätzen den Beruf. Die Ausbildungsvergütung liegt
im ersten Jahr bei 1.000 Euro, das zieht natürlich. Aber dann kommt die
Praxis, die 17-, 18-Jährigen haben in den Pflegeheimen mit 30, 40
verschiedenen Schicksalen zu tun. Sie werden emotional alleingelassen, es
fehlt an Personal für die Anleitung. Viele brechen die Ausbildung ab.
Im Sondierungspapier der künftigen Ampel-Koalition steht nur wenig zur
Pflege. Es sollen mehr qualifizierte Pflegekräfte aus dem Ausland gewonnen
werden und klare bundeseinheitliche Vorgaben bei der Personalbemessung
gelten. Erkennt die künftige Ampel-Koalition den Ernst der Lage nicht?
Wir steuern sehenden Auges auf eine humanitäre Pflegekatastrophe zu. Es
ist so ähnlich wie beim Klimawandel. Man sieht die Katastrophe kommen, aber
man reagiert nicht ausreichend. Es müsste viel mehr passieren: Wir
bräuchten eine Bedarfsbemessung, um vernünftig zu versorgen. Um mehr
Pflegekräfte zu gewinnen, bräuchten wir auch eine bessere Entlohnung – ein
Einstiegsgehalt von monatlich 4.000 Euro brutto für Pflegefachkräfte wäre
angemessen. Denn die Pflege ist ein anspruchsvoller Job. Sie ist körperlich
anstrengend, nervlich belastend, und man arbeitet im Schichtbetrieb.
Müssen wir alle bereit sein, mehr Geld für die Pflege aufzubringen?
Ich denke, dass der Beitrag zur Pflegeversicherung steigen muss, anders
bekommen wir es nicht hin. Ich glaube auch, dass sich erwachsene Kinder,
die materiell gut aufgestellt sind, an den Pflegekosten etwa für ihre alten
Eltern beteiligen könnten. Oft haben die Eltern ja auch verzichtet, als sie
die Kinder groß gezogen haben. Wir müssen aber auch dafür sorgen, dass das
Geld im System bleibt und nicht in die Renditen von Aktiengesellschaften
fließt. Diese Öffnung für den Markt hat nichts gebracht.
Forscher:innen fordern, zuletzt mit einem Gutachten, vor allem mehr
Assistenzkräfte in den Heimen. Auch die Überlegungen in der neuen
Ampel-Koalition, mehr Personal aus dem Ausland zu holen, das dann hier
nachqualifiziert werden soll, gehen in diese Richtung. Ist das eine Lösung?
Wir haben jetzt schon festgestellt, dass die gesetzlich vorgeschriebene
Fachkraftquote von 50 Prozent in Heimen und in den ambulanten Diensten
vielfach unterlaufen wird. Das war vor der Coronakrise schon so. Die
Fachkräfte steuern und planen dann, arbeiten aber gar nicht mehr direkt an
den Menschen. Das machen dann Pflegehelferinnen, Assistentinnen und
Alltagsbetreuerinnen. Das ist riskant: Eine Assistentin, die zu einer
Bewohnerin geht, die einen Schlaganfall hat, kann vielleicht gar nicht
feststellen, ob eine Schluckstörung normal oder pathologisch ist. Eine
Helferin weiß vielleicht auch nicht, wie sich eine Spastik entwickelt, man
dann lagern muss und wie man mobilisiert. Es ist ein Irrtum, zu glauben,
Pflege ist nur waschen und füttern.
In den skandinavischen Ländern ist der Anteil am Bruttosozialprodukt, der
für die Pflege aufgewandt wird, höher als bei uns. Pfleger:innen aus
Deutschland gehen nach Nordeuropa, weil sie dort bessere Arbeitsbedingungen
vorfinden. Gibt es in anderen Ländern Beispiele für eine bessere Pflege,
von denen man in Deutschland lernen könnte?
In Österreich etwa hat man das Modell entwickelt, bei dem pflegende
Angehörige gewissermaßen beim Staat angestellt werden können, mit
Sozialversicherung. Das ist ein interessantes Konzept auch für die
ambulante Pflege bei uns. Man könnte auch überlegen, dass Pflegebedürftige
über das Geld, das sie von der Pflegeversicherung für die Leistungen der
Sozialstationen bekommen, selbst verfügen können. Dann könnten sie damit
etwa für Hilfsdienste von Nachbarn zahlen. Da bräuchte man dann aber
Sicherungen, um Missbrauch zu vermeiden.
In Japan, wo die Gesellschaft auch schnell altert, arbeiten mehr Männer in
der Pflege als bei uns. Dort versorgen auch rüstige Rentner:innen in
ihren 60ern gegen Bezahlung hochbetagte Pflegebedürftige zu Hause. Wäre so
etwas auch hierzulande denkbar, mithilfe von Technik zum Beispiel?
Wir müssen über alles nachdenken, was möglich ist. In der ambulanten Pflege
hat sich die Technik sehr entwickelt, mittlerweile gibt es Betten, in denen
sich Pflegebedürftige komplett aufsetzen lassen. Es gibt fahrbare Toiletten
und Duschen, die unterstützen können. Sehr gut helfen könnte der ambulanten
Pflege auch das Konzept der Community Health Nurses. Das sind Fachkräfte,
die in Familien hineingehen, Bedarfe ermitteln und beraten.
In den Familien p[2][flegen die Töchter und Schwiegertöchter immer
weniger], sie wollen und sollen arbeiten gehen, wohnen auch oft in einer
anderen Stadt als die alten Eltern. Droht die Pflegebedürftigkeit zu einer
Art individuellem Schicksal zu werden, das man verdrängt und von dem man
einfach hofft, dass es einen nicht trifft?
Das kann sein. So wird es ein Problem des Einzelnen – mit allen Ängsten und
Sorgen. Und dann suchen alle wieder nach Schuldigen.
Vertreter von Sterbehilfevereinen erzählen, dass sie verstärkt Anfragen
bekommen für Suizidhilfen von Menschen, die gar nicht krank sind, aber ins
Pflegeheim müssen und dies nicht wollen.
Die Angst vorm Pflegeheim gab es schon immer. Wir sagen daher: Leute,
kümmert euch schon im Alter von 60 bis 70 Jahren darum, wie das bei euch
später mal werden soll. Eine solche Vorausplanung brauchen wir auch für die
gesamte Gesellschaft.
18 Nov 2021
## LINKS
[1] /Pflegende-Angehoerige-und-Corona/!5795065
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## AUTOREN
Barbara Dribbusch
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